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Zehntes Kapitel.

Hug, es ist entsetzlich, ich kann es kaum fassen, und wenn sie mich auch immer wieder beruhigt, immer wieder beschwört, immer wieder weint, wenn ich sie quäle ...

Der Erbgroßherzog von Weidingen kommt in acht Lagen. Wir saßen nach dem Frühstück auf der Terrasse und plauderten über gleichgültige Dinge. Dann kam der Postkurier und brachte für die Großherzogin und den Hofmarschall Briefe. Die hohe Frau entnahm einer Enveloppe mehrere engbeschriebene Briefbogen, begann zu lesen, erhob sich dann aber und ging hinein. Als ich ihr die Glastür öffnen durfte, dankte sie mit einem abwesenden Lächeln und winkte dem alten Beserbeck, der mit ihr im Hause verschwand. Die Reutters fand es in ehrerbietigster Form »komisch«, und die Sophie sah mich beklommen an.

»Die Schrift ist von Onkel Ernst,« sagte sie, »einen so langen Brief habe ich noch nie von ihm gesehen.«

Da fuhr mir der Gedanke durch den Kopf, den mir der alte Beserbeck vor Wochen nahegelegt, und ich konnte meine Erregung kaum bemeistern. Die Prinzeß erhob sich und schlug mir einen Gang durch den Park vor.

Als uns die Büsche ausgenommen hatten, schlang sie die Arme um meinen Hals und schmiegte sich fest an mich. Dann bog sie den Oberkörper zurück, lehnte sich fest in meine Hände und sah mich voll und frei an. Ob ich Vertrauen zu ihr hätte, fragte sie. Und als ich sie küßte, fuhr sie fort:

»Der Erbgroßherzog kommt, um um mich anzuhalten.«

Ich wollte entgegnen, aber sie preßte ihre Lippen fest auf die meinen.

»Rede nicht, rede nicht, ich will dir erst alles sagen. Du weißt, wie groß das Glück war, in dem die Eltern lebten, und doch gab es einen Punkt, in dem sie nicht übereinstimmten. Es waren die Verwandtenheiraten.« Wir waren in den Pavillon eingetreten. Sophie hatte sich auf meine Knie gesetzt und die Hände aus meine Schultern gelegt, bevor sie weitersprach.

»Papa war ein grundgütiger Herr, du kennst ja die Liebe, die er bei allen hatte. Aber er besaß eine unendliche Überzeugung von der Unantastbarkeit und dem streng geschlossenen Kreise der regierenden Familien. Selbst eine Ehe mit einem der ebenbürtigen, aber thronlosen Geschlechter wäre in unserer Familie eine Unmöglichkeit gewesen. Der liebe Gott hätte es so eingerichtet, sagte er immer, und müßte wohl seinen Grund dazu gehabt haben. In einer Monarchie hingen die Einrichtungen alle so eng zusammen, daß jede einzelne eine Stütze des Ganzen sei, auch wenn es nicht immer so schiene. Mutter dachte weit milder, und wenn auch sie von dem Willen Gottes fest überzeugt war, so konnte sie es doch nie billigen, die zufällig gleichaltrigen Fürstenkinder der gleichen Generation ohne innere Neigung fürs Leben aneinander zu fesseln. Es gibt so viel Prinzen und Prinzessinnen, sagte sie, da kann schon jeder eine finden, die er liebt.

Schon auf meiner Taufe verlobten mich Papa und Onkel Ernst mit dem zweijährigen Friedrich. Mutter hat sich stets gewehrt und die ganze Abmachung als Scherz hingestellt. Als dann aber mein Bruder nach Vaters Tod aus Pietät gegen das Testament gegen seine Neigung um die älteste Obergerin anhielt, bereute Mutter, von ihrem starken Einfluß auf den Vater nicht stärker Gebrauch gemacht zu haben. Du hast vielleicht gehört, daß mein Bruder nicht sehr glücklich lebt, und wenn auch durch Hofklatsch viel übertrieben wird, ist er doch für sein Leben als Mensch glücklos. Mutter hat meinetwegen lange ernste Gespräche mit ihm gehabt, aber er hielt als Chef des Hauses den Willen des Vaters stets für unbeugsam. Dann kam er wohl in mein stilles, entlegenes Erkerzimmerchen, legte die Hände vor das Gesicht und weinte; und ich, die ich damals noch nicht so recht verstand, worauf es ankam, suchte ihn zu trösten oder weinte mit ihm zusammen. Jetzt handelt es sich um mich und ich weiß, Onkel Ernst fordert in seinem Briefe an Mutter die Einlösung des väterlichen Wortes, und Exzellenz Beserbeck hat die Ankündigung des Besuches vom Hofmarschallamt erhalten.« Ich hatte nur mit Anstrengung ihren Worten folgen können. Meine Gedanken waren in einem tobenden Aufruhr. Ihr warmer, junger Körper saß auf meinen Knien, ich fühlte ihren Atem mein Gesicht umwehen, ihre bedingungslose Hingabe ...

Die Versuchung kam ... wenn ich sie jetzt nahm ... war sie mein für immer ...

Schwer hob und senkte sich meine Brust, ich schloß die flimmernden Augen und antwortete nicht. Da drängte sie sich an mich, packte meine Haare, umschlang meinen Nacken und meinen Kopf, hing sich mit ihren Lippen an meinen Mund und schloß die Augen ...

»Komm ... komm ...« murmelte sie mit fiebernder Stimme. »Komm ... Ich lasse dich nie ... nie ... nie ...«

Ich fuhr in die Höhe und drängte sie von mir. Sie weinte ...

Als ich beim Diner die Großherzogin wiedersah, erschrak ich. Sie sah alt und elend aus, und der sonst so weiche Zug um ihren Mund erschien mir herbe. Und doch war sie ganz besonders sanft und gnädig, sprach wenig, blickte die Prinzessin träumend an und strich ihr mehrmals beruhigend über die Hand. Der alte Beserbeck rückte vor Ungeduld auf seinem Stuhle hin und her und konnte die Ankündigung des Besuches nicht erwarten. Schwüle lagerte über der ganzen Tafel. Schließlich begann die hohe Frau zu sprechen, während die Finger ihrer Hand nervös über das Tischtuch strichen.

»Der Großherzog von Weidingen hat mir heute geschrieben, er will uns den Erbgroßherzog auf einige Wochen schicken. Exzellenz Beserbeck meint, wir hätten genügend Raum, um ihn mit seinem Begleiter und Kammerdiener aufzunehmen. – Sie kennen meinen Neffen aus dem Regiment?« wandte sie sich an mich.

Ich wurde unwillkürlich steif. Nichts ist mir fürchterlicher als die Form, die dem Diplomaten alles ist. Besonders schrecklich aber ist sie mir, wenn sie zur Verschleierung dient.

»Jawohl, Königliche Hoheit, ich hatte die Ehre, mit Seiner Hoheit zusammen Dienst zu tun.«

Es wurde mir schwer, ehrfurchtsvoll in der dritten Person zu sprechen.

»Dann werden Sie auch gefunden haben,« fuhr die hohe Frau fort, »daß er ein bescheidener Mensch ist, der aus seiner Stellung keine unangenehme Urteilsfähigkeit ableitet. Unserm stillen Kreise war er stets ein angenehmer Hausgast.«

Ich neigte mich schweigend. Ich hasse diesen unschuldigen Jüngling, wie ich nie hassen zu können glaubte. Dann hasse ich den alten Beserbeck wegen seines geheimnisvollen Lächelns, wegen der Einquartierung in die Villa, wegen des Schmunzelns, mit dem er von der herrlichen Lage der Weidinger Schlösser erzählt, und wegen der unmotivierten Frage, wann die Übersiedlung nach Biesenburg erfolgen sollte.

*

Meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Es liegt ein Gewitter in der Luft. Wir nützen jede Minute des Alleinseins aus, wir küssen uns, und ich glaubte bei jedem Kuß, es sei der letzte. Wir reiten auch noch, aber kaum haben wir die Stadt hinter uns, jagen wir wie gehetzt auf geradem Wege in die Osteria und setzen uns fliegenden Atems auf das alte Sofa, um uns wortlos aneinander zu schmiegen und zu warten, bis sich die Spannung der durch die Trennung der langen Nacht erregten Nerven gelöst hat, und wir küssen und küssen, bis die Last wieder kommt, die Last ...

Morgen nachmittag trifft der Erbgroßherzog ein. Zur Feier ist größere Tafel, Gäste aus Cannes: Vichien, Sauton und andere. Ich fürchte mich vor seinem Anblick, ich glaube, ich würge ihn ...


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