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Zeit und Flut warten auf niemand! Ein prahlerisches, dünkelhaftes Sprichwort, das sich eine Billion Jahre erhalten hat, aber heutzutage nicht mehr gilt. Wir, mit unsern elektrischen Drähten und den Schiffen mit Wasserballast, kehren es um und sagen: Niemand wartet auf Zeit und Flut. –
Querkopf Wilsons Kalender.
Auf der Fahrt bis Christchurch glaubt man im heutigen England zu sein – die Gegend sieht aus wie ein Garten. Christchurch selbst ist eine englische Stadt, mit englischen Parkanlagen und einem englischen Fluß, der sich gleich dem Avon durch die Landschaft schlängelt – er heißt auch Avon, aber nach einem Manne, nicht nach Shakespeares Fluß. An seinen grünen Ufern stehen die stattlichsten und denkwürdigsten Trauerweiden der ganzen Welt. Sie machen ihrer hohen Abkunft alle Ehre, denn sie sind aus Ablegern der Weide gezogen, die einst Napoleons Grab in Sankt Helena beschattete. In dem guten alten Städtchen finden sich alle Reize und Annehmlichkeiten, alles Behagen und alle Heiterkeit eines idealen Familienlebens beisammen. Man könnte sich einbilden, drüben in England zu sein; es fehlt nichts als die Staatskirche und der Unterschied der Stände.
Das Museum enthält Raritäten. Unter anderm sahen wir ein schönes Haus der Eingeborenen aus alter Zeit; ganz getreu nach der Natur, sowohl die grellen Farben als alle Einzelheiten. Jedes Ding war am richtigen Platz, die hübschen Matten und Teppiche, die künstlichen, wundervollen Holzschnitzereien, deren Muster und feine Ausführung mit Recht unser Staunen erregen, wenn wir bedenken, daß die Eingeborenen dazu keine bessern Werkzeuge hatten, als Feuerstein, Nephrit und Muscheln sie ihnen lieferten. Auch Totems waren da, Pfähle, auf denen sämtliche Ahnherren des Stammes, einer über dem andern, abgebildet sind. Die abscheulichen, häßlichen Teufel waren mit großem Geschick und vieler Liebe geschnitzt; sie streckten alle die Zunge heraus und falteten die Hände behaglich über dem Bauche, in dem sie die Ahnherren anderer Leute begraben hatten. In dem Haus waren auch ausgestopfte Eingeborene als Staffage, jeder wo er hingehörte, als ob sie leibten und lebten, sowie ihr ganzes Hausgerät; dicht dabei lag ein geschnitztes und reich verziertes Kriegskanoe.
Wir sahen auch kleine Götzenbilder aus Nephrit oder Beilstein, die, aber nur von Eingeborenen hohen Ranges, um den Hals getragen wurden; ferner Waffen und allerlei Schmuck, aus dem gleichen, ausnehmend harten Stein ohne jedes eiserne Werkzeug verfertigt. Durch einige Stücke waren kleine runde Löcher gebohrt; niemand weiß wie das gemacht wurde, es ist ein Geheimnis, eine verlorene Kunst. Wer jetzt in ein Stück Nephrit ein Loch gebohrt haben will, muß erst zu einem Steinschneider nach London oder Amsterdam schicken, wie man mir sagt.
Auch ein ganzes Skelett der Riesen-Moa bekamen wir zu sehen. Es war zehn Fuß hoch und muß einen netten Anblick gewährt haben, als es noch ein lebendiger Vogel war. Wie der Strauß brauchte das Tier beim Kampf nicht den Schnabel, sondern die Füße. Einen solchen Fußtritt zu bekommen, mag kein schlechtes Vergnügen gewesen sein, etwa wie wenn man von Windmühlenflügeln in die Luft geschleudert wird.
In den alten, längst vergessenen Zeiten, als das Geschlecht der Moas noch auf Erden wandelte, müssen sie in großer Menge vorhanden gewesen sein. Man findet ihre Knochen haufenweise in ungeheuren Gräbern dicht beisammen liegen, und zwar nicht in Felsenhöhlen, sondern in der Erde. Niemand weiß, wer sie dort eingescharrt hat. Da es wirkliche Knochen und keine Versteinerungen sind, können die Moas noch nicht so gar lange ausgestorben sein. Merkwürdig, daß sie die einzigen Tiere Neuseelands sind, welche in den so zahlreichen Legenden der Eingeborenen gar keine Rolle spielen. Dieser Umstand ist sehr bedeutsam und kann als Indizienbeweis dafür dienen, daß die Moas seit vierhundert Jahren von der Erde verschwunden sind, denn der Maori selbst ist nach der Ueberlieferung seit dem Ende des 15. Jahrhunderts in Neuseeland ansässig. Der erste Maori kam aus einem unbekannten Lande, ruderte in seinem Kanoe dahin zurück und kehrte in Begleitung aller Stammesangehörigen wieder; sie drängten die Ureinwohner in das Meer oder brachten sie unter den Boden und nahmen die Inseln in Besitz. So sagt die Ueberlieferung. Die Ankunft jenes ersten Maori ist begreiflich, denn jeder kann schließlich unversehens an einen Ort kommen, wohin er nicht will; aber wie der Entdecker ohne Kompaß den Weg nach der Heimat zurückfand, ist ein Rätsel, das er mit sich ins Grab genommen hat. Aus seiner Sprache ging hervor, daß er aus Polynesien stammte. Er hat auch gesagt, woher er kam, aber da er den Namen des Ortes nicht richtig buchstabieren konnte, fand man ihn nicht auf der Karte, welche von klugen Leuten gemacht ist, die den Namen ganz anders buchstabieren. Vor allem müssen doch die Namen richtig auf der Karte stehen, so daß man sich auf sie verlassen kann; das übrige ist Nebensache.
In Neuseeland haben die Frauen das Recht, die Mitglieder des gesetzgebenden Körpers zu wählen, sie selbst dürfen aber nicht Abgeordnete sein. Das Gesetz, welches ihnen das Stimmrecht verleiht, wurde 1893 erlassen, als die Einwohnerzahl von Christchurch sich nach dem Census von 1891 auf 31 454 belief. Die erste Wahl, nachdem das Gesetz in Kraft getreten war, fand im November statt. An der Wahlurne erschienen 6313 Männer und 5989 Frauen. Diese Zahlen liefern den Beweis, daß die Frauen der Politik nicht so gleichgültig gegenüberstehen, wie man uns glauben machen will. Die Gesamtzahl der stimmfähigen weiblichen Bevölkerung Neuseelands betrug 139 915; hiervon zeichneten 109 461 ihre Namen in die Wahllisten ein – 78,23 Prozent von allen. 90 290 erschienen wirklich an der Wahlurne und gaben ihre Stimmen ab – 85,18 Prozent. Eifriger erfüllen die Männer wohl kaum ihre politischen Pflichten, weder in Amerika noch in andern Ländern. Der amtliche Bericht spricht sich auch noch in anderer Beziehung günstig über jene Wahl aus:
»Besonders bemerkenswert,« heißt es, »war der Geist der Ordnung und Nüchternheit, der unter den Leuten herrschte. Die Frauen wurden auf keine Weise belästigt.«
Bei uns in Amerika wird als Hauptgrund gegen das weibliche Stimmrecht regelmäßig der Satz aufgestellt, daß die Frauen nicht zur Wahlurne gehen könnten, ohne sich tätlichen Beleidigungen auszusetzen. Dergleichen Weissagungen sind äußerst bequem. Seit im Jahre 1848 die Frauenbewegung begann, haben die Propheten nicht aufgehört zu verkünden, daß allerlei Unheil daraus entstehen würde; aber in einem Zeitraum von fünfzig Jahren ist noch nichts davon eingetroffen. Im Gegenteil, es ist den Frauen gelungen, aus dem amerikanischen Gesetzbuch eine große Anzahl ungerechter Verordnungen zu entfernen. Die Männer sollten alle Achtung vor ihren Müttern, Frauen und Töchtern haben und sie mit ganz andern Augen betrachten, nachdem sie sich in einer verhältnismäßig so kurzen Frist im wesentlichen aus ihrer Leibeigenschaft befreit haben. Ohne Blutvergießen hätten die Männer das nicht zustande gebracht; wenigstens haben sie es bis jetzt noch nicht getan, vermutlich, weil sie nicht wußten, wie sie es machen sollten. Aber selbst durch die friedliche und höchst wohltätige Umwälzung, welche die Frauen bewirkt haben, sind die Männer im Durchschnitt noch nicht zu überzeugen gewesen, daß die Frau Mut, Kraft, Ausdauer und Seelenstärke besitzt. Es gehört eben viel dazu, um den Durchschnittsmann von irgend etwas zu überzeugen. Vielleicht wird nichts imstande sein, ihn jemals zu der Erkenntnis zu bringen, daß die Frau ihm im Durchschnitt überlegen ist, und doch scheint das in mancher wichtigen Einzelheit wirklich der Fall zu sein, wie sich aus Tatsachen beweisen läßt. Seit Anbeginn der Welt hat der Mann das Menschengeschlecht regiert, und er wird zugeben müssen, daß die Welt bis zur Mitte dieses Jahrhunderts im allgemeinen recht träge, dumm und unwissend war. Jetzt sieht es schon weit weniger unerfreulich darin aus, und es wird mit der Zeit fort und fort besser. Die Frau hat gegenwärtig Gelegenheit zu zeigen was sie kann – und zwar zum allererstenmal. Wo wird wohl der Mann nach abermals fünfzig Jahren sein – das möchte ich wissen.
Im Gesetz von Neuseeland steht folgende Anmerkung:
»Wo in den Verordnungen das Wort Person vorkommt, ist die Frau mit inbegriffen.«
Das nenne ich doch eine Beförderung! Durch solche Erweiterung des Begriffs wird die weise Matrone, der eine fünfzigjährige Erfahrung zur Seite steht, mit einem Schlage in politischer Hinsicht gleichberechtigt mit dem einundzwanzigjährigen Bürschchen, das kaum trocken hinter den Ohren ist. Die Einwohnerzahl der Weißen in der Kolonie beläuft sich auf 626 000, die der Maori auf 42 000. Die Weißen wählen siebzig Mitglieder in das Abgeordnetenhaus und die Maori vier; auch die Maori-Frauen stimmen mit bei der Wahl ihrer vier Abgeordneten.
16. November. Nach einem viertägigen angenehmen Aufenthalt in Christchurch verlassen wir den Ort heute um Mitternacht. Mr. Kinsey hat mir einen Ornithorhynchus geschenkt, den ich zähmen will.
Sonntag den 17. Gestern abend fuhren wir in der ›Flora‹ von Lyttleton ab.
Ja, wahrlich! Und wer die Fahrt in der ›Flora‹ mitgemacht hat, wird sie sein Lebtag nicht vergessen, wie alt er auch werden mag. Das Schiff war auf wahnsinnige Art überfüllt. Wäre es in jener Nacht gesunken, so hätte man für die Hälfte der Leute, die an Bord waren, keinerlei Rettungsmittel auftreiben können. Wenn auch die Schiffseigentümer in technischer Hinsicht keinen Mordversuch gemacht hatten – von der moralischen Schuld konnte man sie nicht freisprechen.
Mir wurde ein Verschlag des großen Viehstalls zugeteilt, in welchem eine lange, doppelte Reihe Schlafkojen angebracht war, immer zwei übereinander. Ein Kattunvorhang diente als Zwischenwand; auf einer Seite befanden sich zwanzig Männer und Knaben, auf der andern zwanzig Frauen und Mädchen. Das Loch war so finster wie die Seele der Unionsgesellschaft und es roch darin wie in einem Hundestall. Als das Schiff aufs hohe Meer kam und anfing zu rollen und zu stampfen, fielen die Gefangenen in ihrer dunkeln Höhle sofort der Seekrankheit zum Raube. Durch das was nun folgte, wurden alle meine früheren Erfahrungen dieser Art völlig in den Schatten gestellt. Und dann das Heulen und Stöhnen, das Geschrei und Gekreische, die Stoßseufzer aller Art – es spottet jeglicher Beschreibung.
Die Frauen und Kinder, auch einige Männer und Knaben verbrachten die Nacht in dem Raume, weil sie zu krank waren, um sich zu rühren; wir übrigen aber standen allmählich auf und begaben uns nach dem Sturmdeck.
Nie zuvor war ich an Bord eines so abscheulichen Fahrzeugs gewesen. Als wir uns im Frühstückssalon zwischen den auf dem Boden und den Tischen dicht aneinander gelagerten, schwitzenden Passagieren hindurchwanden, ließ der Geruch an Kräftigkeit nichts zu wünschen übrig.
Beim ersten Anlegeplatz stiegen viele von uns aus, um ein anderes Schiff zu benutzen. Nach dreistündigem Warten fanden wir denn auch in dem ›Mahinapua‹ gute Unterkunft. Es war ein schmuckes kleines Fahrzeug von nur 205 Tonnengehalt, reinlich, bequem, gute Bedienung, gute Betten, ein guter Tisch und kein Gedränge. Die Wellen warfen es hin und her wie eine Ente, aber es war sicher und seetüchtig.
Ganz früh am Morgen kamen wir an den ›französischen Paß‹, eine enge Durchfahrt zwischen steilen Felswänden, die nicht viel breiter aussah wie eine Straße. Die Strömung schoß mit rasender Gewalt hindurch und das Schiff flog dahin wie ein Telegramm. In einer halben Minute lag der Engpaß hinter uns und wir kamen an eine breite Stelle, wo großartige Wasserwirbel in der Nähe von Untiefen fort und fort ihre stolze Runde machten. Ich fragte mich, wie es dem kleinen Fahrzeug wohl dabei ergehen würde. Das sollte ich nur allzubald erfahren. Die Wirbel hoben es auf, warfen es mit Leichtigkeit herum und landeten es ganz behutsam auf einer weichen, festen Sandbank. So sanft war die Berührung, daß wir sie kaum fühlten und gerade nur merkten, wie das Schiff erbebte, als es zum Stillstand kam. Das Wasser war hell wie Glas, man sah deutlich den Sand auf dem Grunde, und die Fische schienen im leeren Raum umherzuschwimmen. Rasch wurden die Angeln herausgeholt, aber noch bevor wir den Köder am Haken befestigen konnten, war das Schiff wieder flott und segelte auf und davon.