Mark Twain
Meine Reise um die Welt. Erste Abteilung
Mark Twain

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Vierzehntes Kapitel.

Es gibt Leute, welche die Schuljungen oberflächlich und leichtsinnig schelten. Und doch war es ein Schuljunge, der gesagt hat: ›Glauben ist, wenn man was glaubt und dabei weiß, es ist nicht so.‹

    Querkopf Wilsons Kalender.

In Sydney hatte ich einen Riesentraum, den ich einem Missionar erzählte, welcher aus Indien kam und seine Verwandten in Neuseeland besuchen wollte.

Mir träumte nämlich, das sichtbare Weltall sei die leibliche Erscheinung Gottes; die großen Himmelskörper, die wir in Entfernungen von vielen Millionen Meilen von einander am Firmamente funkeln sehen, wären die Blutkügelchen in seinen Adern, und wir und die anderen Geschöpfe die Mikroben, durch welche das Blut auf tausendfältige Art belebt wird.

Herr X., der Missionar, dachte eine Weile nach, dann sagte er: »An Großartigkeit hat der Traum jedenfalls nicht seinesgleichen, denn er umfaßt das ganze Universum. Auch scheint mir, daß er als Erklärung für etwas gelten kann, was sonst beinahe unerklärlich ist – nämlich für den Ursprung der heiligen Sagen der Hindus. Vielleicht haben die Hindus sie auch nur geträumt und beim Erwachen geglaubt, es seien göttliche Offenbarungen. Es hat ganz den Anschein, denn ihr Maßstab ist von so ungeheurer Größe, daß man unmöglich annehmen kann, die Priester hätten mit wachen Sinnen diese kolossalen Phantasiebilder ausgeklügelt.«

Er erzählte mir verschiedene Sagen, an welche, wie er behauptete, alle Hindus, selbst in den höchsten und gebildetsten Klassen, felsenfest glaubten; und gerade diese Leichtgläubigkeit hielt er für ein großes Hindernis bei dem Missionswerk.

»Zu Hause können die Leute nicht begreifen, warum das Christentum in Indien so langsame Fortschritte macht,« sagte er. »Man hat gehört, daß die Hindus leicht zu überzeugen sind und eine natürliche Vorliebe für Wunder haben. Da meinen nun viele, man brauche nur die Wahrheiten des Christentums zu verkünden und durch die biblischen Wunder zu bekräftigen, dann würden die Hindus sich bekehren und alle ihre Zweifel überwunden sein. Aus der Tatsache, daß das Christentum so wenig Eingang in Indien findet, zieht man den sehr natürlichen Schluß, daß wir schuld daran sind, weil wir die Lehren und Wunder nicht mit dem nötigen Eifer verbreiten.

»Aber die Sache ist keineswegs so einfach, wie der Laie denkt. Die Aufgabe wird uns dadurch erschwert, daß wir – um ein kriegerisches Bild zu brauchen – zwar gutes Pulver in den Kanonen, aber statt der Kugeln nur einen Ladepfropfen haben. Das heißt – unsere Wunder machen keinen Eindruck; die Hindus sind gleichgültig dagegen, weil sie selbst viel merkwürdigere haben. Ihre eigene Religion wird in allen Einzelheiten durch Wunder belegt, und wir müßten ihnen auch für unsere sämtlichen Glaubenssätze auf die gleiche Art den Beweis liefern. Als ich meine Missionsarbeit in Indien begann, unterschätzte ich die Schwierigkeiten der Aufgabe bedeutend, aber ich wurde bald eines Besseren belehrt. Gleich unsern Freunden daheim glaubte ich, man könne die kindlich Wundersüchtigen am besten zur Aufnahme des Evangeliums bewegen, wenn man ihnen als Vorbereitung staunenerregende Wundergeschichten erzählte. So begann ich denn voller Vertrauen ihnen von den Wunderdingen zu berichten, die Simson – der stärkste Mann, den es je gegeben – vollbracht hat.

»Zuerst malte sich die lebhafteste Spannung in den Mienen meiner Zuhörer, aber als ich weiter in der Geschichte kam, sah ich zu meiner Betrübnis, wie das Interesse der Leute sich mehr und mehr verringerte. Das war mir unverständlich; es überraschte und enttäuschte mich in hohem Grade. Zuletzt verwandelte sich das schwindende Interesse sogar in völlige Gleichgültigkeit, die bis zum Schluß unverändert blieb, trotz aller meiner Bemühungen.

»Ein guter, alter und sehr gebildeter Hindu klärte mich über den Sachverhalt auf: ›Wir Hindus,‹ sagte er, ›erkennen einen Gott an dem Werk seiner Hände – ein anderes Zeugnis gibt es für uns nicht. Offenbar ist das bei euch Christen auch der Fall. Wenn jemand Dinge tut, die er als Mensch nicht vollbringen könnte, so wissen wir, daß ein Gott ihm dazu die Kraft verleiht. Mir scheint, auch die Christen haben kein anderes Mittel, um zu sehen, ob ein Mensch aus eigener Macht handelt oder als Werkzeug eines Gottes. Ihr erkanntet, daß in Simsons Haar eine übernatürliche Macht lag, denn sobald er es verloren hatte, war er nicht stärker als alle andern Menschen. Wie gesagt, so machen wir es auch. Es gibt viele Völker in der Welt, und jede Völkergruppe hat ihre eigenen Götter und betet die fremden Götter nicht an. Jedes Volk hält seine Götter für die stärksten und vertauscht sie nur mit andern Göttern, wenn diese erwiesenermaßen größere Kraft besitzen. Der Mensch ist ein schwaches Geschöpf, er braucht die Hilfe der Götter – ohne sie vermag er nichts. Soll er nun sein Geschick schwachen Göttern anvertrauen, wenn es stärkere gibt? Das wäre Torheit. Nein, wenn er vernimmt, daß andere Götter stärker sind als seine eigenen, so soll er sich taub dagegen stellen, denn es ist eine Sache von größter Wichtigkeit. Aber, wie läßt sich erkennen, ob seine Götter stärker sind oder die der anderen Völker? – Es gibt nur ein Mittel: er muß die ihm bekannten Werke seiner Götter mit den Taten der fremden Gottheiten vergleichen. Das tun wir, und fühlen uns gerade deshalb nicht zu den Göttern irgend eines andern Volkes hingezogen. Aus den Werken unserer Götter ersieht man, daß sie am stärksten und mächtigsten sind. Die Christen haben nur wenige Götter, die obendrein neu sind und nach unserer Meinung nicht sehr stark. Zwar wird sich ihre Zahl vermehren, denn das ist bei allen Göttern geschehen, aber erst in langer, langer Zeit, wenn viele Jahrhunderte vorbei sind. Die Zahl der Götter nimmt langsam zu, was ja ganz natürlich ist, da für sie tausend unserer Jahre nur ein Augenblick sind. Zwischen der Geburt unserer Götter liegen Millionen von Jahren. Auch ihre Kraft wächst nur allmählich. Im Lauf der Jahrtausende hat sich die Stärke unserer Götter aufs wunderbarste vergrößert. Dafür haben wir zahllose Beweise, teils durch ihre eigenen Werke, teils durch die Taten gewöhnlicher Menschen, denen sie göttliche Kraft verliehen. Auch euer Simson besaß übernatürliche Stärke; als er die Seile von frischem Bast zerriß, Tausende mit dem Eselskinnbacken tötete und die Tore der Stadt auf seinen Schultern forttrug, ergriff euch Staunen und Entsetzen, weil ihr wußtet, daß nur ein Gott ihm solche Stärke geben konnte. Aber von den Hindus ließ sich nicht erwarten, daß sie sich über diese Kraftproben verwundern sollten. Sie haben dieselben natürlich mit dem verglichen, was Hanuman vollbrachte, als die Götter seine Muskeln mit ihrer Kraft begabten, und da machte ihnen Simson keinen Eindruck mehr – wie Sie gesehen haben.

»In uralter Zeit nämlich, vor vielen Jahrhunderten, als unser Gott Rama mit dem bösen Gott von Ceylon Krieg führte, beschloß er, das Meer zu überbrücken, um Ceylon und Indien zu verbinden, so daß seine Heere bequem hinüberschreiten könnten. Er schickte seinen Feldherrn Hanuman aus, um die Bausteine zur Brücke herbeizuschaffen und gab ihm göttliche Kraft, wie sie euer Simson hatte. In zwei Tagen legte Hanuman fünfzehnhundert Meilen bis zum Himalaya zurück, nahm eine zweihundert Meilen lange Kette dieses hohen Gebirges auf seine Schultern und machte sich damit auf den Weg nach Ceylon.

»Es war Nacht, und als er über die Ebene kam, hörten die Bewohner von Govardhun, wie das Erdreich unter dem Donner seiner Fußtritte erbebte. Da liefen sie hinaus und sahen den Himalaya mit seinen gen Himmel ragenden Schneegipfeln vorüberziehen! Auf den Abhängen des riesigen Gebirges funkelten die Lichter von tausend schlummernden Dörfern; es sah aus, als kämen sämtliche Sternbilder in langem Zuge durch die Luft geflogen. Während die Leute noch gaffend dastanden, stolperte Hanuman, und bei der Erschütterung riß sich ein kleiner, zwanzig Meilen langer Bergrücken von rotem Sandstein los und fiel zu Boden. Jetzt, nach vielen Jahrhunderten, ist er zwar zur Hälfte verschwunden, aber die andern zehn Meilen stehen noch heutigen Tages in der Ebene von Govardhun, als ein Zeugnis von der Macht, welche unsere Götter den Sterblichen verleihen können. Daß Hanuman das Gebirge nur durch göttliche Kraft nach Ceylon tragen konnte, liegt auf der Hand. Seine eigene Stärke hätte dazu nicht genügt; also weiß man, daß ihm die Götter ihre Kraft gaben, so gut wie man von Simson weiß, daß er die Stadttore mit göttlicher Kraft und nicht mit seiner eigenen getragen hat. Zwei Dinge werden Sie mir aber zugeben müssen: Erstens, daß durch Simsons Kraftprobe der Vorrang eurer Götter vor den unsrigen nicht erwiesen ist, und zweitens, daß ihr kein anderes Zeugnis dafür habt, als eure Ueberlieferung, während bei Hanumans Großtat die Ueberlieferung noch aufs kräftigste durch ein sichtbares und greifbares Zeugnis festgestellt und bestätigt wird: Wir besitzen das Sandsteingebirge, und solange es vorhanden ist, kann man nicht an der Tatsache zweifeln. Habt ihr etwa die Stadttore?«



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