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Das Pick-Nick. – Huck auf des Indianer Joes Fährte. – Die »Rache«. – Hilfe für die Witwe.
Eine frohe Botschaft begrüßte Tom beim Erwachen. Richter Thatcher mit Familie war tags zuvor angekommen. Der Indianer Joe, der Schatz – alles trat in den Hintergrund, und Becky war die Parole.
Er sah sie beim Spiel mit den Mitschülern, und genoß die Freude des Haschens, Versteckens, Blindekuhspielens, nach Herzenslust. Der Tag schloß mit einer weiteren frohen Ueberraschung. Becky hatte ihre Mutter so lange mit Bitten gequält, bis diese den folgenden Tag für das längst erwartete Picknick bestimmte. Beckys Freude war grenzenlos, und die Toms nicht minder. Die Einladungen wurden versandt, und das junge Volk hatte alle Hände voll mit den Zurüstungen zu dem vielversprechenden Feste zu thun. Tom lag die halbe Nacht schlaflos mit offenem Ohr. Jeden Augenblick erwartete er, das Miauen Hucks zu vernehmen. Er hätte so gern Becky und alle Teilnehmer am Picknick durch den Anblick des erbeuteten Schatzes überrascht! Aber die Nacht verstrich ohne das ersehnte Signal.
Gegen zehn oder elf Uhr am nächsten Morgen fand sich eine fröhliche, jubelnde, jugendliche Gesellschaft bei Richter Thatchers ein. Alles war bereit zum Ausflug. Damals enthielten sich ältere Personen, die jugendliche Fröhlichkeit bei solchen Anlässen durch ihre Gegenwart zu stören; man betrachtete die Kinder unter der Führung einiger Damen von 18 Jahren und einiger etwas älterer junger Herren als hinlänglich sicher. Die alte Dampffähre wurde für diesen Tag gemietet, und die frohe Schar zog durch die Hauptstraße, beladen mit Proviantkörben. Sid war krank und konnte nicht mitmachen; Mary blieb als Pflegerin bei ihm zurück. Die letzte Ermahnung der Mutter Beckys an diese war: »Ihr werdet wohl lange ausbleiben. Vielleicht würdest du gut thun, die Nacht bei einer deiner in der Nähe des Landungsplatzes wohnenden Freundinnen zuzubringen, mein Kind!«
»So will ich bei Susy Harper bleiben, Mama!«
»Gut. Und führe dich ordentlich auf und sei niemand im Wege!«
Auf dem Gang zum Dampfboot näherte sich Tom Becky und sagte:
»Höre 'mal, ich will dir etwas sagen. Statt zu Joe Harpers zu gehen, wollen wir heute Abend gerade dort auf den Hügel steigen, und bei der Witwe Douglas bleiben. Da giebt es Gefrorenes. Sie hat immer welches. Und sie wird hocherfreut sein, uns zu beherbergen.«
»Das wird lustig werden.« Nach einigem Nachdenken aber sagte Becky: »Aber was wird Mama dazu sagen?«
»Sie weiß es ja nicht! Und wie wird sie es erfahren?«
Nach längerer Ueberlegung meinte sie:
»Es scheint mir zwar nicht recht – aber –«
»Aber Dummheiten! Deine Mutter wird es nicht erfahren, und wo ist denn das Unrecht? Alles, was sie wünscht, ist, daß du gut aufgehoben seiest, und ich wette, daß sie dich selbst hingeschickt hätte, wenn es ihr eingefallen wäre! Sie hat nur nicht daran gedacht!«
Die bekannte, splendide Gastfreundschaft der Witwe Douglas war sehr verlockend, und Toms Ueberredungskunst gewann den Sieg. Es wurde verabredet, über das nächtliche Programm nichts gegen die andern verlauten zu lassen.
Dann fiel Tom plötzlich ein, Huck könnte in der kommenden Nacht miauen. Seine Heiterkeit wich einer quälenden Besorgnis, und doch wollte er auf das Vergnügen eines Besuches mit Becky bei der Witwe Douglas nicht verzichten. Und warum sollte er? fragte er sich nach langem inneren Widerstreit. Huck hatte gestern nicht gemiaut, warum sollte er es heute Nacht thun? Das heutige Vergnügen war sicher, der Schatz aber ungewiß! So beschloß er, nach Knabenart, heute der sich bietenden Freude zu leben und sich alles andere aus dem Kopf zu schlagen.
Drei Meilen unterhalb der Stadt stoppte das Boot am Eingang einer bewaldeten Bucht und legte sich fest. Die fröhliche Schar schwärmte aus, und bald erschollen ihre Jubelrufe durch Berg und Thal, durch Feld und Wald. Was immer nur geeignet war, der ausgelassenen Freude Luft zu machen, und den Körper zu ermüden, wurde getrieben, bis der ungestüme Appetit die Zerstreuten zum Angriff auf die mitgebrachten guten Sachen spornte. Nach eingenommenem Mahle ließ man es sich unter fröhlichem Necken und Geplauder im Schatten dichtbelaubter Eichen wohl sein. Nach längerer Ruhe erscholl der Ruf: »Wer geht mit nach der Höhle?!«
Alles wollte mit. Man versorgte sich mit einem angemessenen Vorrat von Kerzen, und vorwärts ging's, den Hügel hinauf. Die Mündung der Höhle lag an einem Abhang desselben und hatte die Form eines großen A. Das massive, eichene Thor stand offen. Innen war ein kleines Gelaß, kalt wie ein Eiskeller, von natürlichen Wänden aus Kalkstein umfaßt, von denen kalter Schweiß rieselte. Es war sehr romantisch und mysteriös, so hier im Halblicht zu stehen, und auf das grüne, sonnenbeglänzte Thal hinabzuschauen. Das konnte aber die turbulente Jugend nicht lange fesseln. Kaum hatte eines der Anwesenden sein Licht entzündet, als alles neckisch darauf los stürzte, um es auszublasen. Tapfere Verteidigung, stürmische Angriffe, bis die Kerze auf dem Boden lag. Und so ging unter frohem Gelächter das Spiel fort, bis auch hier Ermüdung eintrat. Dann bewegte sich der Zug in Procession den Hauptgang hinab, in das Innere der Höhle, deren Felswände, von der Reihe wandelnder Lichter hin und wieder beleuchtet, in seltsamen Formen sichtbar wurden. Der Gang maß in Breite nur etwa 6 bis 10 Fuß, während das Gewölbe eine Höhe von mindestens 60 Fuß erreichte. In kurzen Zwischenräumen zweigten sich kleine Nebengänge vom Hauptgang links oder rechts ab, denn Mac Douglas Höhle bestand aus einem Labyrinth unregelmäßig geformter Inseln, durch krumme Irrwege verbunden, die nirgends hinführten. Es ging die Sage, daß man tage- und nächtelang zwischen diesen Rissen und Abgründen herumwandern könne, ohne das Ende der Höhle zu erreichen, und daß sich dies bei tieferem Eindringen in die Erde wiederhole, Labyrinth auf Labyrinth getürmt, endlos, unerforschlich. Niemand kannte die Höhle. Das war ein Ding der Unmöglichkeit. Die meisten jungen Leute waren mit einem kleinen Teil derselben vertraut, aber niemand wagte sich darüber hinaus. Tom Sawyers Lokalkenntnisse gingen nicht über die der anderen hinaus.
Die Procession folgte etwa zwei Drittel einer Meile dem Hauptgang in einer Reihe; dann schlüpfte hier einer, dort einer in die Nebengänge, die unheimlichen Korridore rasch durchlaufend, um sich gegenseitig an den Kreuzungspunkten zu überraschen. Dieses Spiel konnte über eine halbe Stunde fortgesetzt werden, ohne die Grenzen des bekannten Landes zu überschreiten.
Nach und nach fand sich eine Gruppe nach der andern am Eingang der Höhle wieder ein, tief aufatmend, fröhlich, über und über mit Talgtropfen und Lehm beschmiert, aber mit dem Erfolg des Tages höchlich zufrieden. Zur großen Ueberraschung aller war es inzwischen Nacht geworden, und seit einer halben Stunde hatte die Schiffsglocke zur Rückfahrt gerufen. Niemand jedoch bedauerte beim Abstoßen die verlorene Zeit, als der Schiffskapitän.
Huck hatte bereits seine Wache angetreten, als die Lichter des Fährboots an der Werft vorüberschwebten. Er hörte kein Geräusch an Bord. Das junge Volk war todmüde und hielt sich still und ruhig. Er wunderte sich, was das wohl für ein Boot sein möchte, das nicht an der Werft ankerte, vergaß dann Boot und alles, und richtete seine Aufmerksamkeit auf den ihm angewiesenen Posten. Die Nacht war wolkig und finster. Nach zehn Uhr hatte aller Verkehr aufgehört. Jedermann hatte sich zurückgezogen, und Huck sah sich allein in der nächtigen Gespensterstunde. Die Lichter in der Taverne waren ausgelöscht. Tiefe Finsternis ringsum. Huck wartete lange, sehr lange, wie ihm schien, ohne etwas Auffälliges zu bemerken. Seine Hoffnung war dem Verschwinden nahe. Was nützte dieses Wachen? Wäre es nicht besser, es aufzugeben und das Lager aufzusuchen?
Da schlug ein Geräusch an sein Ohr. Er fuhr auf, und horchte in höchster Spannung. Die Gangthüre öffnete sich leise und schloß sich ebenso vorsichtig. Er huschte hinter die Ecke des Ziegelmagazins. Im nächsten Moment eilten zwei Männer dicht an ihm vorüber. Der eine davon schien etwas unter dem Arme zu tragen. Das mußte die Kiste sein. So, so! sie wollten sie also beiseite schaffen! Was thun? Tom wecken? Das wäre absurd! Inzwischen würden sie mit der Kiste auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Nein, er mußte auf ihrer Spur bleiben, und sie im Schutze der Finsternis unausgesetzt verfolgen! Mit diesem Entschluß schlich er ihnen barfuß, lautlos, katzenartig nach, nur soviel Entfernung zwischen ihnen und sich lassend, um sie nicht aus dem Auge zu verlieren.
Sie gingen etwa drei Häuserquadrate lang die Flußstraße hinauf, und bogen dann links in eine Quergasse. Dann gingen sie geradeaus, bis sie den auf Cardiff-Hill führenden Fußpfad erreicht hatten. Diesen schlugen sie ein. Ohne Zögern gingen sie an dem in halber Höhe des Hügels stehendem Hause des Welschen vorbei, und stiegen weiter bergan. »Aha!« dachte Huck, »sie wollen die Kiste im alten Steinbruch verstecken!« Er hatte sich getäuscht. Sie ließen den Steinbruch abseits liegen und stiegen weiter, bis sie den Gipfel des Berges erreicht hatten. Dort folgten sie einem schmalen Pfade zwischen Sumakgebüschen, und verschwanden im Dunkel. Huck beschleunigte seine Schritte und verkürzte die ihn von jenen trennende Distanz. Hier konnte er von ihnen nicht gesehen werden. Er trabte eine zeitlang, und ging dann, aus Furcht, sie zu überholen, wieder langsamer. Nach einer Weile blieb er stehen, und horchte aufmerksam. Kein Laut. Nur das Pochen seines eigenen Herzens war für ihn hörbar. Der dumpfe Schall erscholl von der anderen Seite des Hügels herüber und war eben nicht geeignet, seine Zuversicht zu verstärken. Aber kein Fußtritt ließ sich vernehmen. Himmel! War denn alles verloren? Im Begriff, beflügelten Fußes weiter zu eilen, schrak er zusammen. Keine vier Schritte von ihm räusperte sich jemand. Es gelang ihm, den sich hervordrängenden Schreckensschrei hinunterzuwürgen, aber es schüttelte ihn, wie von tausend Fiebern gepackt, seine Kniee zitterten, und nur mit Mühe konnte er sich aufrecht erhalten. Er wußte nun, wo er war. Nur fünf Schritte von dem Zaunpförtchen der Besitzung der Witwe Douglas. »Gut«, dachte er, »mögen sie die Kiste dort verscharren. Es wird nicht schwer halten, sie aufzufinden!«
Eine leise Stimme wurde hörbar. Es war die des Indianer Joe: »Möge sie verdammt sein! Es ist Licht da. Und so spät!«
»Ich sehe keins!«
Das war die Stimme des »anderen«, des Fremden vom verrufenen Hause.
Ein tödlicher Frost fuhr Huck durchs Herz. Das war also der »Rachestreich«! Fliehen war sein erster Gedanke. Dann erinnerte er sich der vielen Wohlthaten, die ihm die Witwe Douglas erwiesen, und diese Männer wollten sie vielleicht ermorden! Er hätte sie so gerne gewarnt, aber er durfte es nicht wagen! Sie würden ihn sicher erwischen. Diese und andere Gedanken durchkreuzten sein Gehirn bis Joe fortfuhr:
»Weil dir das Gebüsch im Wege steht. Hierher! Da! Siehst du nun?«
»Jawohl. Sie hat Besuch. Verschieben wir's auf ein andermal!«
»Verschieben? Jetzt, da ich im Begriff bin, diese Gegend für immer zu verlassen? Verschieben, wenn vielleicht diese günstige Gelegenheit niemals wiederkehrt? Bei allen Teufeln, nie! Ich wiederhole dir, daß ich mich um ihren Quark wenig kümmere, den magst du für dich behalten – aber ihr will ich an den Kragen! Ihr Gatte hat mich mißhandelt, mehr als einmal. Und ihr Gatte war der Richter, der mich als Vagabund einkerkern ließ. Und das ist noch gar nichts. Ließ er mich nicht auspeitschen? Auspeitschen vor dem Gefängnis, wie einen Nigger. Angesichts der ganzen Stadt! Auspeitschen! Verstehst du das? Er starb, und betrog mich um meine Rache – sie soll dafür bezahlen!«
»Thue ihr nichts am Leben! Töte sie nicht!«
»Wer spricht vom Töten? Wenn er noch lebte, ihn, ja! Aber nicht sie. Wenn man sich an einem Weibe rächen will, bringt man sie nicht kurzweg um. Man entstellt sie! Die Nasenlöcher will ich ihr aufschlitzen, und die Ohren, wie einer Sau!«
»Bei Gott! Das ist –«
»Behalte deine Meinung für dich! Es wird besser für dich sein! Ich will sie am Bette festbinden! Wenn sie sich verblutet, ist das meine Schuld? Ich werde sicher keine Thränen deswegen vergießen. Du sollst mir helfen. Deshalb bist du hier. Ich möchte ohne deine Hilfe nicht leicht zu stande kommen. Greifst du nicht herzhaft zu, so töte ich dich. Verstehst du? Und wenn ich dich töte, muß auch sie daran glauben. Es wird dann schwerlich jemand erfahren, wer dieses Geschäft hier oben verrichtete!«
»Nun, wenn es denn sein muß, frisch dran! Je schneller, desto besser! Mich schaudert am ganzen Leibe!«
»Was, frisch dran? Und die Gesellschaft da oben? Nimm dich in acht, daß ich keinen Verdacht auf dich werfe! Laß das deine ernstliche Sorge sein! Nein, wir warten, bis die Lichter verlöschen! Wir haben Zeit!«
Huck fühlte, daß längeres Schweigen eintreten würde, und dieses fürchtete er noch mehr, als das blutdürstigste Gespräch. Mit verhaltenem Atem schlich er auf den Zehen zurück, bald sich auf dem einen, bald auf dem anderen Fuße balancierend. Ein dürrer Ast krachte unter seinem Fuße. Atemlos horchte er auf. Nichts regte sich. Ein Seufzer unsäglicher Erleichterung entwand sich seiner Brust. Er schlüpfte unter die Sumachsträuche, und folgte dem Pfade abwärts, geschwind, aber mit der äußersten Vorsicht. Beim Steinbruch angelangt, fühlte er sich außer Gefahr und stürmte in rasendem Laufe abwärts, bis zum Hause des Welschen. Dort klopfte er an die Thüre. Der Welsche mit seinen beiden kernfesten Söhnen erschien am Fenster:
»Was ist los? Wer klopft? Was willst du?«
»Laßt mich ein. Ich will alles sagen!«
»Nur schnell!«
»Wer bist du?«
»Huckleberry Finn! Oeffnet! Schnell!«
»So, so! Huckleberry Finn? Dieser Name ist kein guter Passepartout! Gleichviel, Jungen, laßt ihn ein! und sehen wir, was es giebt!«
»Sagt niemand, daß ich es euch gesagt habe!« war Hucks erstes Wort, als er drinnen war. »Er würde mich umbringen! Aber die Witwe ist manchmal gut gegen mich gewesen, und ich sollte, nein, ich will es Euch sagen, wenn Ihr mir versprecht, mich nicht zu verraten!«
»Bei Gott, er muß wirklich etwas Wichtiges auf dem Herzen haben, er würde sich sonst nicht so geberden!« sagte der alte Mann. »Sprich frisch weg, Junge, niemand von uns wird dich verraten!«
Drei Minuten später waren die drei Männer wohlbewaffnet auf dem Hügel. Huck begleitete sie nicht weiter, als bis zu dem mit Sumach besäumtem Pfade. Er versteckte sich im Gebüsch und lauschte. Es folgte eine lange Stille, und dann einige Schüsse und ein Schrei.
Huck hatte genug gehört, und wartete das weitere nicht ab. Er eilte abwärts, so schnell ihn seine Füße tragen konnten.