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Jugendliche Beredsamkeit. – Backfisch-Kompositionen – Eine langweilige Vision. – Der Jungen Rache.
Die Ferien kamen näher. Der Schulmeister, sonst schon strenge, wurde immer strenger und steigerte die Anforderungen an seine Schüler ins Unerträgliche. Die diesjährige Parade sollte eine glänzende sein. Den lieben langen Tag regnete es Prügel und Rutenstreiche auf die liebe Jugend und nur die älteren Zöglinge von 18 bis 20 Jahren beiderlei Geschlechts wurden mit der Rute verschont. Und Dobbins Prügel waren nicht zu verachten. Obgleich schon im mittleren Alter stehend und vollkommen glatzköpfig, war sein Arm doch noch sehr muskulös, und er führte einen kräftigen Hieb. Je näher der große Tag kam, desto größer wurde seine Tyrannei. Er schien ein ganz absonderliches Vergnügen in der Bestrafung auch der kleinsten Unaufmerksamkeit zu finden, und es gelang ihm, die jüngeren Schüler so weit zu bringen, daß sie bei Tag vor ihm zitterten und Nachts Rachepläne gegen ihn schmiedeten. Sie versäumten keine Gelegenheit, ihm irgend einen Streich zu spielen; er aber war auf seiner Hut, und sie zogen regelmäßig den kürzeren. Zuletzt komplottierten sie in Masse und heckten einen Plan aus, der glänzende Rache verhieß. Sie vereidigten des Schildmalers Jungen, weihten ihn in ihr Geheimnis ein und erbaten seine Hilfe. Er sagte mit Freuden zu. – Der Schulmeister wohnte bei seinem Vater zur Miete und hatte dem Jungen oft genug Veranlassung zum Haß gegeben. Die Schulmeisterin ging, wie man wußte, in einigen Tagen zum Besuch aufs Land, und in ihrer Abwesenheit sollte der Plan ausgeführt werden. Der Lehrer hatte die Gewohnheit, sich durch starkes Trinken auf große Anlässe vorzubereiten; der Schildmaler-Junge wußte das und versprach, am Examen-Nachmittag, wenn der Schultyrann das richtige Stadium erreicht haben und in seinem Armsessel schlummern würde, die Sache zur allgemeinen Zufriedenheit einzufädeln.
Der große Tag kam. Abends 8 Uhr strahlte das Schulhaus in brillanter Beleuchtung und war mit Guirlanden und Kränzen geschmückt. Der Lehrer thronte in seinem Armstuhl auf erhöhter Plattform, den Rücken gegen die schwarze Tafel gekehrt. Er sah ziemlich mild aus. Drei Reihen Bänke zur Rechten, drei zur Linken und sechs in der Front waren von den Würdenträgern des Dorfes und den Eltern der Schüler besetzt. Links vom Lehrer, hinter den Sitzen der Eingeladenen, befand sich eine erhöhte Estrade, und war mit den zur Parade berufenen Schülern dicht besetzt. Da saßen ganze Reihen impertinent gewaschener und gekämmter kleiner Jungen; große linkische Tölpel, schnerige Mädchen und junge Damen, ganz in Mousselin gekleidet, ihre nackten Arme mit Bewußtsein zur Schau tragend, mit Blumen in den Haaren und mit den Goldsachen ihrer Großmütter behangen. Der übrige Raum war mit nichtbeteiligten Schülern vollgepfropft.
Die Uebungen begannen. Ein kleiner Junge erhob sich und deklamierte schüchtern: »Bin ich gleich nur schwach und klein, fällt mir doch ein Liedchen ein –« seine Worte mit eingelernten Gestikulationen begleitend, die ein in Unordnung geratener Automat nicht besser hätte machen können. Allgemeiner Applaus belohnte ihn. – Nach ihm lispelte ein kleines schamrotes Mädchen:
»Ein junges Lämmchen, weiß wie Schnee etc. ...« machte einen mißlungenen Knix, wurde ebenfalls applaudiert und setzte sich freudeglühend und zufrieden.
Tom Sawyer trat zuversichtlich vor und begann den unvermeidlichen, bei jeder Gelegenheit wiedergedroschenen Monolog: »Gebt mir Freiheit, oder gebt mir den Tod!« mit heller Wut und unter frenetischen Gestikulationen. Mitten darin blieb er plötzlich stecken. Das Lampenfieber hatte ihn erfaßt. Seine Beine wollten ihn nicht mehr tragen; er war dem Ersticken nahe. Zwar hatte er den ganzen Beifall des Hauses, aber die tiefe Stille, in der man seinen Worten lauschte, erschreckte ihn. Als nun auch der Lehrer die Stirne runzelte, da war es um ihn geschehen. Unter unverständlichem Stottern, zog er sich, gänzlich geschlagen, zurück. Einzelne Beifallsrufe erstarben bald.
»Der Knabe stand auf Schiffesdeck,
In Rauch und Flammen eingehüllt.«
folgte, und
»Die Assyrier« und andere deklamatorische Proben.
Dann wurden Lese- und Buchstabierübungen vorgenommen. Die magere Latein-Klasse machte dem Lehrer Ehre.
Damit war der erste Teil des heutigen Festprogramms erschöpft, und es ging an die » Original-Kompositionen« der jungen Damen.
Nach der Reihe trat eine jede vor bis an den Rand der Estrade, räusperte sich, entfaltete das mit farbigen Bändern geheftete Manuskript und begann zu lesen, dabei die peinlichste Sorgfalt auf Betonung und Punktuation verwendend. Die Themata waren die gewöhnlichen, wie sie schon von ihren Müttern und Großmüttern bearbeitet und seit den Kreuzzügen von einer Generation auf die nachfolgende vererbt worden waren. – »Freundschaft« war eines; »Erinnerung an entschwundene Tage« ein anderes; »Die Religion in der Geschichte«; »Das Land der Träume«; »Die Vorteile der Kultur«; »Vergleichung und Kritik der Regierungs-Systeme«; »Melancholie«; »Kindesliebe«;»Herzsehnen« u. s. w. u. s. w. folgten und wurden abgewandelt.
Ein großer Teil der Kompositionen oder Aufsätze trugen einen und denselben Stempel, den der gehätschelten Melancholie; ein anderer war vollgepfropft von sogenannten »eleganten« Metaphern; noch ein anderer war darauf berechnet, durch abgedroschene, aber damals beliebte Ausdrücke sich durchs Ohr ins Herz zu stehlen. Und durchgängig wedelte am Ende einer jeden Komposition ein verkümmerter moralischer Schwanz. Was auch vorgetragen wurde, immer mußte das Thema zu einem erbaulichen Schlusse führen. »Reime dich, oder ich fresse dich!«
Obgleich die Heuchelei dieser Nutzanwendungen offen zu Tage liegt, und von Rechtswegen aus der Schule verbannt sein sollte, so war sie es doch damals nicht, und wird es wohl auch nie werden, solange die Erde steht. In unserem ganzen Lande existiert auch nicht eine Schule, in der die jungen Dämchen ihre Kompositionen nicht mit einer Moralpredigt schließen zu müssen glauben, und dem aufmerksamen Beobachter wird es nicht entgehen, daß gerade die leichtfertigsten Dirnen ihren Aufsätzen immer die längsten moralischen Schwänze anhängen. Aber genug hiervon. Der Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande.
Kehren wir zum Examen oder zur Parade zurück. Die erste Komposition, die vorgetragen wurde, war betitelt:
»Und das nennt man Leben!«
Ein kleiner Auszug wird dem Leser nicht schaden:
»Wie erhebt sich nicht das jugendliche Herz im Einerlei des Lebens bei der Aussicht auf eine Festivität. Die Phantasie ist geschäftig, sich alles aufs Rosigste auszumalen. Die angehende Modedame erblickt sich selbst im Festgedränge als Gegenstand der allgemeinen Bewunderung. Ihre graciöse Gestalt in schneeweißen Gewändern wirbelt in jubelndem Tanze durch die Menge; ihr Auge ist das strahlendste, ihr Fuß der leichteste in der ganzen Assemblee. – Unter solch' entzückenden Träumen kommt die willkommene Zeit, in der ihr der Zutritt in die ersehnte, geträumte, elegische Welt gestattet ist. Wie feenhaft erscheint alles ihren entzückten Augen! Jede neue Scene bringt neue Wonne. Aber wie bald, ach wie bald findet sie, daß hinter all diesem Gepränge öde Leere lauert, und daß eben alles eitel ist! Die Schmeicheleien, die sie früher begierig einsog, zerreißen nun ihr Ohr, der Tanzsaal hat all seinen Reiz verloren; schwindsüchtig, mit Galle im Herzen, kehrt sie ihm den Rücken und weiß nun, daß alle Freuden dieser Erde weit entfernt sind, dem Sehnen der unsterblichen Seele Genüge zu thun!«
Und so fort und so weiter, hie und du ein beifälliges Gemurmel, ein Geflüster: »Ach, wie süß!« – »Gott, wie schön!« – »Wie wahr!« und dergleichen, und nachdem das Ding mit einer besonders trübseligen Nutzanwendung geschlossen, enthusiastische Beifallsrufe.
Es trat ein dünnes, mageres, melancholisches Mädchen auf, dessen interessante Blässe auf schlechte Verdauung und Wurmpillen schließen ließ, und recitierte ein Gedicht. Zwei Stanzen davon werden zur Beurteilung genügen:
»Abschied eines Missouri-Mädchens von Alabama.
Leb' wohl, Alabama, mein Herz bleibt dir,
Wenn das Geschick mich in die Ferne treibt!
Betrübt, beklommen ziehe ich von hier,
Wo meiner Seele bester Teil verbleibt!
Nein, deiner Wälder Reiz vergess' ich nie.
Nie Tallaporsas und Tallassees Flut!
Nie, wie am Coosa ich des Morgens früh
Bewunderte Auroras Rosenglut!
Mit schwerem Herzen ließ ich dich zurück!
Die Thräne rinnt, ich schäm' mich ihrer nicht!
Hier lachte mir des Lebens erstes Glück,
Und Heimatliebe ist mir süße Pflicht!
Lebt wohl, ihr Thäler, ihr geliebten Höh'n!
Erkalten müssen Aug' und Herz und tête,
Eh' treulos ich verzicht' aufs Wiedersehn;
Adieu, ich kehre wieder, wenn auch spät.«
Von den Zuhörern wußten Wenige, was mit tête gemeint sei, dessenungeachtet erntete das Gedicht lebhaften Beifall.
Nun erschien eine schwarzhäutige, schwarzäugige, schwarzhaarige, junge Lady; sie machte eine erwartungsvolle Pause, nahm eine tragische Miene an und las in abgemessenem, peinlichem Tone, wie folgt:
»Düster und stürmisch war die Nacht. Am Himmelsdome flimmerte auch nicht ein Stern. Das dumpfe Rollen des Donners schlug unausgesetzt ans Ohr, während fürchterliche Blitze die wolkigen Gelasse des Firmaments durchzuckten, unbekümmert um die vom berühmten Franklin über sie erlangte Gewalt. Selbst die ungestümen Winde waren aus ihren geheimnisvollen Heimstätten herbeigekommen, und bliesen nach Kräften, um die Wildheit der Scene zu erhöhen. So saß ich, und seufzte aus ganzer Seele nach Sympathie. Da kam die, die ich vor allen liebe, meine Freundin und Beraterin, mein Trost im Kummer, meine Lust in der Freude.
Sie schwebte einher, wie ein Gebild aus Himmelshöhen, ohne anderen Schmuck, als den ihr von der Natur verliehenen. Ihr Tritt war so sylphidenartig leicht, daß ich ohne ihre, mich magnetisch durchzuckende Berührung, ihre Ankunft nicht geahnt und sie vorbeigelassen hätte, wie eine andere der gewöhnlichen Sterblichen auch.
Tiefe Trauer lag auf ihren Zügen, wie die eisigen Thränen auf dem Mantel des Dezember, als sie auf die im Kampfe liegenden Elemente zeigte, und mir befahl, die beiden zum Vorschein kommenden Wesen zu betrachten.«
Durch zehn Seiten ihres Manuskriptes dauerte dieses Alpdrücken, und schloß mit einer, alle Nichtpresbyterianer so aller Hoffnung auf die Ewigkeit beraubenden Moral, daß sie den ersten Preis davontrug. – Diese Komposition wurde als die Perle des Abends proklamiert. Der Bürgermeister ließ bei Ueberreichung des Preises einen warmen – Speech los, worin er sagte, daß er nie etwas Besseres gehört, und daß Daniel Webster selbst, oder Edgar Poe stolz darauf sein könnten.
Im Vorübergehen möge die Notiz noch hier Platz finden, daß in diesen Vorträgen das Wort »wunderschön« zu oft angewendet, und daß »Erfahrung« immer durch »das Blatt des Lebens« übersetzt wurde.
Inzwischen hatte sich der Schulmeister ein Zöpfchen angetrunken. Er stieß seinen Thron beiseite, drehte der Versammlung den Rücken, und begann die Karte Amerikas auf die schwarze Tafel zu zeichnen, um die Geographieschüler vorzunehmen. Die Hand war unsicher, und es wollte nicht recht gehen. Man kicherte. Er verstand das, löschte aus, versuchte besser zu machen, und machte schlimmer. Das Gekicher wurde lauter. Er richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf die Zeichnung, entschlossen, sich nicht verblüffen zu lassen, und wußte, daß aller Augen auf ihm ruhten. Er sah oder glaubte, daß die Karte gelinge, und doch hörte das Gelächter nicht auf – im Gegenteil.
Und Grund genug war vorhanden.
Gerade über seinem Kopfe, in der Decke, befand sich eine Luke, und durch diese Luke erschien eine Katze mit verbundenem Kopf und Maul, an einem um die Körpermitte geschlungenen Strick schwebend. Im Niederschweben klammerte sie sich bald an den Strick, bald suchte sie umsonst die unter ihr liegende Leere zu erfassen. Das Gelächter nahm zu – die Katze war noch 6 Zoll vom Kopf des in seiner Aufgabe vertieften Schulmeisters entfernt – tiefer – noch ein wenig – und sie hatte dessen Perrücke mit ihren verzweifelten Krallen erfaßt. Im Nu war sie mit ihrer Trophäe in der Luke verschwunden.
Und wie herrlich strahlte die Glatze des Schultyrannen! Des Schildmalers Junge hatte sie vergoldet!
Die Versammlung nahm ein jähes Ende. Die Knaben waren gerächt, und Ferien hatten begonnen.