Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zehntes Kapitel.

Der feierliche Schwur. – Schrecken bringt Reue. – Seelenleiden.

 

Entsetzt und sprachlos flohen die beiden Knaben dem Dorfe zu, von Zeit zu Zeit einen verstohlenen Blick über die Schulter hinter sich werfend, wie wenn sie fürchteten, verfolgt zu werden. Jeder im Wege stehende Baumstumpf erschien ihnen als ein Feind, und das Gebell der Haushunde in der Nähe des Dorfes verlieh ihren Füßen Flügel.

»Wenn wir nur die alte Gerberei erreichen können, ehe wir zusammenbrechen«, flüsterte Tom atemlos, »ich kann es nicht länger aushalten!«

Huckleberrys keuchende Atemstöße waren die einzige Antwort. Das Auge auf das ersehnte Ziel gerichtet, rafften sie ihre äußersten Kräfte auf, es zu erreichen; kamen ihm immer näher – stürzten endlich Beide zugleich durch das geöffnete Thor und sanken todmüde und dankenden Herzens im bergenden Schatten nieder. Nach und nach besänftigten sich die fliegenden Pulse und Tom flüsterte:

»Was meinst du, Huckleberry, wozu wird diese Geschichte führen?«

»Zum Galgen, sicher genug, wenn Dr. Robinson stirbt!«

»Glaubst du?«

»Ich bin davon überzeugt!«

Tom sann ein wenig nach:

»Aber wer wird es sagen? Wir?«

»Wie du sprichst! Wenn wir es sagten, und der Indianer Joe entrönne durch eine mögliche Verkettung der Umstände dem Galgen, wie dann? Er würde uns umbringen, so gewiß als wir hier liegen!«

»Das fürchte ich eben auch, Huck!«

»Wenn es jemand sagen muß, so soll Muff Potter es thun, wenn er ein Narr sein will. Besoffen genug ist er gewöhnlich dazu!«

Tom antwortete nicht und sann.

»Aber Huck, Muff Potter weiß es nicht. Weil er eben jenen Streich empfangen hatte, der ihn besinnungslos zu Boden streckte, als Joe die That vollbrachte. Wie konnte er da etwas sehen, oder wissen?«

»Du hast Recht, Tom! 's ist wahr!«

»Und dann hat er sich vielleicht von jenem Streich nicht erholt!«

»Nein, das ist nicht wahrscheinlich. Er war betrunken, wie er es ja immer ist. Wenn mein Vater voll ist, kann man ihn über einen Kirchturm werfen, ohne ihm wehe zu thun. Er selbst sagt so. Natürlich ist es mit Muff Potter nicht anders. Aber jener Hieb hätte auch einem stocknüchternen Mann den Garaus machen können! Ich weiß nicht!«

Nach längerem, stillen Nachdenken sagte Tom:

»Huck, kannst du schweigen?«

»Tom, wir müssen schweigen. Jener verteufelte Indianer würde uns, wenn er den Hals aus der Schlinge zöge, ersäufen, als wären wir zwei junge Katzen. Was wir zu thun haben, ist, uns gegenseitig durch einen feierlichen Eid zum unverbrüchlichen Stillschweigen zu verpflichten.«

»Einverstanden! Das ist das Beste!«

»So reiche mir die Hand und schwöre – halt! Das ist nicht genug. Das ist gut für unbedeutende, nichtssagende Anlässe, besonders wenn Mädchen dabei im Spiele sind, die Einen immer im Stiche lassen und plaudern müssen. Aber in einer so wichtigen Sache muß das schriftlich abgemacht werden und mit Blut.«

Tom applaudierte mit Leib und Seele. Es war tief still, finster und unheimlich; die Stunde, die Umgebung, alles war günstig. Er raffte eine Schindel vom Boden auf, nahm ein Stückchen Rötel aus der Tasche und schrieb, vom Monde beleuchtet, mühsam folgende Worte, die Grundstriche mit einem Druck der Zähne aus die Zunge und die Haarstriche mit jeweiligem Nachlassen des Druckes begleitend: »Huck Finn und Tom Sawyer schwören, über dieses zu schweigen und wünschen auf dem Wege tot umzufallen, wenn sie es jemals sagen und ausplaudern!«

Huckleberry war von Toms Meisterschaft im Schreiben von seinem sublimen Stil entzückt. Er nahm eine Stecknadel aus seinen Aermelumschlägen und wollte sich eben in die Hand stechen, als Tom sagte: »Halt! Laß das! Das ist Messing! Vielleicht ist Grünspan dran!«

»Was ist Grünspan?«

»Gift ist's! Probiere es, verschlucke davon, du wirst dann sehen!«

Tom wickelte den Faden von einer seiner Nadeln. Jeder stach sich in den Daumen und preßte einen Tropfen Blut heraus. Nach langer Quetschung hatte Tom, den kleinen Finger als Feder benutzend, seinen Namen auf der Schindel zu Stande gebracht und unter seiner Leitung malte Huck ein H und ein F dazu. Der Eid war geschworen. Sie verscharrten die Schindel dicht an der Mauer unter verschiedenen, unheimlichen Ceremonien und Zaubersprüchen. An ihrem Munde hing ein Schloß und der Schlüssel war verloren.

Eine Gestalt kroch durch eine Bresche auf der entgegengesetzten Seite des verfallenen Gebäudes. Die Knaben merkten es nicht.

»Tom«, flüsterte Huck, »sind wir nun durch diesen Eid für immer, für alle Zeiten gebunden?«

»Natürlich sind wir es! Möge auch kommen was da wolle, wir müssen schweigen. Weißt du nicht mehr, daß wir tot niederfallen würden?«

»Ja so! 's ist auch wahr!«

Sie flüsterten eine Zeit lang weiter, da erscholl plötzlich, nur etwa 10 Schritte entfernt, das langgedehnte, lamentable Geheul eines Hundes. Zu Tode erschrocken umfaßten sich die Knaben.

»Wen von uns meint er?« fragte Huckleberry.

»Ich weiß nicht! Gucke durch den Riß! Schnell!«

»Nein, du, Tom!«

»Ich darf nicht, gewiß nicht, Huck!«

»Bitt, Tom! Da ist es wieder!«

»Gottlob«, flüsterte Tom, »ich kenne ihn! Es ist Harlisons Haushund.«

»O, wie froh bin ich! Ich sage dir, Tom, ich war zum Tod erschrocken. Ich hielt ihn für einen Werwolf!«

Das Geheul erscholl von neuem. Die Knaben zitterten.

»O, das ist nicht Harlisons Hund! Schaue einmal hin, Tom!«

Tom näherte das Auge der Mauerritze und fuhr erschrocken zurück. Er wisperte kaum hörbar:

»O, Huck, es ist wirklich ein Werwolf!«

»Schnell, Tom, schnell! wen meint er?«

»Vielleicht uns Beide. Wir sitzen so nahe beisammen!«

»O, Tom, mit uns ist's aus! Wir müssen fort! Fort zur Hölle! Ich wenigstens, da ist kein Zweifel. Ich war so gottlos!«

»Das ist das Ende davon. Das hat man vom Schulschwänzen! das hat man davon, wenn man alles thut, was man nicht thun soll! Ich hätte können fromm und brav sein, so gut als Sid, wenn ich es nur versucht hätte! Aber natürlich, ich wollte nicht! Wenn ich aber diesmal davon komme, sollen die Sonntagsschulen meine Lieblingsstätten sein!« Und Tom begann zu weinen.

»Du und böse!« Tom und Huckleberry weinte auch. »Ach du bist ein wahres Lamm im Vergleich mit mir. Ach Gott, ach Gott, ach Gott! Zum Teufel, wenn ich nur halb deine Hoffnungen hätte!«

Tom fuhr auf.

»Sieh, Huck! Er kehrt mir den Hintern!«

Huck blickte freudig hin.

»Es ist so! Zum Henker, that er das vorher nicht?«

»Doch, aber ich dachte nicht daran.«

»O, wie lustig! Aber wen meint er denn?«

Das Geheul verstummte. Tom spitzte die Ohren.

»St! was ist das?«

»Es tönt wie Schweinegegrunz.«

»Doch nein, es schnarcht da jemand!«

»Richtig! Wo?«

»Ich glaube auf der andern Seite. Das Schnarchen scheint wenigstens von dort her zu kommen. Vater schlief manchmal dort mit den Schweinen. Aber wenn der schnarcht, fährt alles in die Luft. Und dann glaube ich nicht, daß er jemals hierher zurückkehren wird.«

Der abenteuerliche Geist erfaßte die Jungen wieder.

»Huck, kommst du, wenn ich voraus gehe?«

»Nicht gerne; wenn es der Indianer Joe wäre?«

Tom ließ den Mut sinken. Doch bald wurde die Versuchung stärker; die Jungen wurden einig, es zu wagen, unter der Bedingung, ungesäumt davon zu laufen, wenn inzwischen das Schnarchen verstumme. Sie näherten sich dem Platz geräuschlos auf den Zehen. Etwa fünf Schritte von dem Schnarcher trat Tom auf einen dürren Ast, der mit einem lauten Krach entzwei brach. Der Mann stöhnte, wandte sich im Schlafe um und Muff Potters Antlitz kam zum Vorschein. Die Knaben, erst von jähem Schreck erfaßt, beruhigten sich, als Potter fortschlief. Sie schlichen auf den Zehen durch die zerfallene Bretterwand und hielten in einiger Entfernung, um noch ein paar Abschiedsworte zu tauschen. Wieder hallte das unheimliche Hundegeheul durch die Nacht. Sie wandten sich um und sahen den fremden Hund vor Potter stehen, die Nase heulend aufwärts gerichtet. »O, Gott, es gilt ihm!« riefen die Jungen in einem Atem.

»Höre Tom, man sagt, ein verirrter Hund habe vor vierzehn Tagen um Mitternacht vor John Millers Hause geheult und ein Ziegenmelker habe sich in derselben Nacht auf dem Treppengeländer niedergelassen und dort gesungen – und doch ist bis jetzt Niemand im Hause gestorben!«

»Ich weiß wohl! Und wenn auch niemand dort gestorben ist, so ist doch den darauffolgenden Sonnabend Grace Miller ins Küchenfeuer gefallen und hat sich fürchterlich verbrannt.«

»Ja, aber sie ist nicht gestorben, und überdies geht es ihr wieder besser.«

»Schon recht! Warte nur, du wirst es schon sehen! Sie muß es ebensogut, wie Muff Potter. Die Neger behaupten es und die wissen am besten Bescheid in diesen Dingen, Huck!«

Sie trennten sich nachdenklich. Die Nacht war beinahe vorüber, als Tom zum Kammerfenster hineinkroch. Er entkleidete sich in tiefster Stille und wünschte sich Glück, von niemand bemerkt worden zu sein. Er gewahrte nicht, daß Sid wacht und seit einer Stunde wach war.

Als Tom aufstand, war Sid angekleidet und fort. Er schöpfte Verdacht. Warum hatte man ihn nicht wie gewöhnlich geweckt und zum Aufstehen gezwungen? Ein unbehagliches Gefühl beschlich ihn. Nach fünf Minuten war er angekleidet und schlich die Treppe hinab, schläfrig und verdrossen. Die Familie saß noch am Tische, hatte aber ihr Frühstück beendigt. Tom nahm Platz und suchte heiter zu scheinen. Er begegnete nur abgewandten Augen und die feierliche Stille lag kalt auf seinem Herzen. Kein Wort des Tadels, keine Antwort auf seine Fragen. Niedergeschlagen und mutlos saß er schweigend da.

Nach dem Frühstück nahm ihn Tante auf die Seite und Tom lebte wieder auf in der Erwartung, von ihr durchgepeitscht zu werden, dem war aber nicht so. Sie weinte über ihn und fragte, wie er es über sich bringen könne, sie so zu quälen und ihr altes Herz zu brechen. Er möge nur fortfahren, dem eigenen Untergang zuzueilen und ihre grauen Haare mit Sorgen in die Grube zu bringen! Sie habe alle Hoffnung verloren und werde sich um ihn keine unnütze Mühe mehr geben. – Das war schlimmer als tausend andere Strafen. Er weinte, flehte um Verzeihung, versprach Besserung und wurde mit dem Gefühle entlassen, nur halbe Verzeihung und sehr mangelhaftes Zutrauen davongetragen zu haben. Er fühlte sich so elend, daß er gar nicht an Rache gegen Sid dachte und dieser unnötigerweise heimlich davongeschlichen war. Traurig und düster ging er zur Schule und nahm dort mit Joe Harper die ihnen wegen Schulschwänzens vom vorigen Tage zuerkannte Tracht Prügel mit der Miene eines Menschen in Empfang, der größere Schmerzen hat, als sich um solche Kleinigkeiten zu kümmern. Er setzte sich auf seine Bank und starrte, den Kopf auf beide Hände gestützt nach der Wand. Nach einiger Zeit fühlte er etwas Hartes an seinem Ellbogen. Er wandte sich langsam um. Es lag etwas da, in Papier gewickelt. Er rollte es auf und o Schrecken! fand seinen messingenen Feuerbockknopf. Das schlug dem Faß den Boden aus.


 << zurück weiter >>