Mark Twain
Skizzenbuch
Mark Twain

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Über das Briefschreiben.

Ich glaube, es giebt kaum etwas auf der Welt, was uns allen so widerwärtig ist, als die Pflicht einen Brief zu schreiben – besonders einen Privatbrief. Geschäftsbriefe sind übrigens nur wenig angenehmer. Fast alle Freude über einen Brief den ich erhalte, wird mir durch den Gedanken vergällt, daß er beantwortet werden muß. Ja, ich fürchte mich so sehr vor der Qual solche Antworten auf der Seele zu haben, daß mich häufig die Lust anwandelt, meine ganze Post ins Feuer zu werfen, statt sie zu öffnen.

Zehn Jahre lang ist mir diese Furcht erspart geblieben, weil ich fortwährend umherzog, von Stadt zu Stadt, von Staat zu Staat und von Land zu Land. Da konnte ich, ganz nach Gefallen, sämtliche Briefe unbeantwortet lassen, die Absender derselben nahmen natürlich an, daß ich meinen Aufenthaltsort gewechselt habe und ihre Zuschriften fehlgegangen seien.

Jetzt kann ich aber leider diese Form der Täuschung nicht mehr anwenden. Ich bin vor Anker gegangen, bin festgefahren – und nun kommen die tödlichen Geschosse, die Briefe aller Art, schnurgerade auf mich losgeflogen.

Es sind Briefe der verschiedensten Gattung und sie behandeln die mannigfaltigsten Gegenstände. Ich lese sie meist beim Frühstück und sehr oft verderben sie mir mein ganzes Tagewerk; sie leiten meinen Gedankengang in neue Kanäle, das Arbeitsprogramm, welches ich mir für meine Schreiberei aufgestellt habe, gerät in Verwirrung, ja es wird wohl auch gänzlich umgestoßen.

Nach dem Frühstück werfe ich mich gewöhnlich ins Geschirr und versuche eine Stunde lang fleißig zu schreiben, aber ich komme nur mühsam vorwärts, da die Briefe immer wieder in meine Gedanken eingreifen. Die Sache hat keinen rechten Fluß, ich gebe sie zuletzt auf und verschiebe alle weiteren Bemühungen auf den nächsten Tag.

Man sollte meinen, ich würde mich nun schleunigst daran machen die Briefe zu beantworten und aus dem Wege zu schaffen. Alle Musterknaben, von denen wir lesen, daß sie barfuß nach New-York gewandert kommen und im Laufe der Zeit zu unverschämten Millionären werden, hätten damit sicherlich keinen Augenblick gezögert – aber, ich bin nicht wie sie.

Es fällt mir garnicht ein, die Gewohnheiten jener Leute anzunehmen, denn ich werde nie ein Millionär werden. Wäre ich darauf ausgegangen, so hätte ich nicht gleich von vornherein den verhängnisvollen Mißgriff begehen dürfen, Stiefel an den Füßen zu tragen und mehr als vierzig Cents in der Tasche zu haben, als ich in New-York einzog.

Wie hätte ich nach einem so verkehrten Beginn meiner Laufbahn noch den Versuch machen sollen mir Reichtümer zu erwerben? Man würde mich nur mit dem größten Mißtrauen betrachtet haben und mich einfach zum Betrüger stempeln.

Deshalb verzichte ich also darauf, in die Fußtapfen dieser Krösusse zu treten und meine Briefe mit kaufmännischer Pünktlichkeit und Schnelligkeit zu beantworten. Ich setze meine Arbeiten einen Tag lang aus, und die aufgeschichteten Briefe von heute bleiben bei denen liegen, welche gestern, vorgestern und von allen früheren Daten angekommen sind.

Erst wenn der Haufen so angewachsen ist, daß mir angst und bange davor wird, blase ich zum Angriff und laufe Sturm, manchmal fünf volle Stunden lang, zuweilen sogar sechs.

Und wie viele Briefe beantwortete ich in dieser Zeit? Nie mehr als neun, oft auch nur fünf bis sechs. Der Korrespondent in einem großen kaufmännischen Geschäft würde in einer solchen Reihe von Stunden wenigstens hundert Antworten zu Papier bringen.

Einem Mann, der Jahre damit zugebracht hat für die Presse zu schreiben, kann man aber eine solche Federgewandtheit unmöglich zutrauen.

Aus alter Gewohnheit knüpft er dabei einen Gedanken an den andern; geduldig zerbricht er sich minutenlang den Kopf, um auf eine unwichtige Zuschrift die passende Erwiderung zusammen zu drechseln, und so verfließt ihm unversehens die kostbare Zeit.

Mir ist es in den letzten Jahren förmlich zur andern Natur geworden, Schriftstücke jeder Art – selbst Privatbriefe nicht ausgeschlossen, mit Sorgfalt und reiflicher Überlegung abzufassen. Die Folge davon ist, daß ich das Briefschreiben hasse, und ich habe noch bei allen meinen Bekannten, die für Zeitungen und Journale arbeiten eine ähnliche Abneigung dagegen gefunden.

Obige Bemerkungen sollen nur zur Erklärung und zu meiner Entschuldigung bei allen den Leuten dienen, welche mir über allerlei Angelegenheiten geschrieben haben, ohne eine Antwort zu erhalten.

Einmal übers andere habe ich im guten Glauben, daß es mir gelingen würde, wirklich versucht ihnen zu antworten. Einiges konnte ich wohl erledigen, aber unwiderruflich blieb doch die Mehrzahl der in der letzten Woche eingegangenen Briefe bis zur nächsten liegen.

Die Folge war dann jedesmal, daß die sich aufhäufenden Briefe zuerst eine vorwurfsvolle Miene annahmen, dann mir grimmige Blicke zuwarfen, als wollten sie mir eine Strafpredigt halten, und zuletzt ein so beleidigendes, unverschämtes Gesicht machten, daß mir die Geduld ausging. Wenn das geschah, öffnete ich die Ofenthür und statuierte ein Exempel an ihnen.

Und siehe da – sofort war jedes bedrückende Gefühl über vernachlässigte Pflichten verschwunden und alle meine verlorene Seelenheiterkeit kehrte zurück.

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