Mark Twain
Skizzenbuch
Mark Twain

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Die Geschichte von einem guten kleinen Knaben.

Eine Verspottung der Pedanterie der amerikanischen Sonntagsschul-Literatur; mehr auf amerikanische als auf deutsche Verhältnisse passend. Der Übers. Es war einmal ein guter kleiner Knabe, der hieß Jakob Bliwens. Er war seinen Eltern stets gehorsam, mochten ihre Befehle noch so verkehrt und unvernünftig sein; auch lernte er immer seine Lektion und kam nie zu spät zur Sonntagsschule. Nie pflegte er die Schule zu schwänzen, auch wenn sein nüchterner Verstand ihm sagte, daß er gar nichts Gescheiteres thun könne. – Keiner der andern Buben konnte aus ihm klug werden, so absonderlich war alles, was er that. Er wollte nicht lügen, wenn es auch noch so bequem gewesen wäre. Er sagte einfach, es sei unrecht zu lügen – das war ihm genug. Und von einer Ehrlichkeit war er – geradezu lächerlich! Was für seltsame Grillen dieser Jakob hatte, das glaubt niemand. Er wollte Sonntags nicht mit Murmeln spielen, wollte keine Vogelnester ausnehmen und des Leiermanns Affen nicht mit heißgemachten Pfennigen anführen. Keine Art von vernünftiger Kurzweil schien für ihn einen Reiz zu haben. Vergebens dachten die andern Jungen über ihn hin und her, sie konnten ihn nicht begreifen und zu keinem befriedigenden Abschluß gelangen.

Wie gesagt, sie brachten es nur zu einer dunkeln Vorstellung, daß es bei ihm »nicht richtig« sein müsse; so nahmen sie ihn denn unter ihre Obhut und ließen nicht zu, daß er zu Schaden käme.

Dieser gute kleine Knabe las alle Sonntagsschulbücher. Sie waren sein größtes Vergnügen. Das ganze Geheimnis erklärte sich einfach aus folgendem: Er glaubte an die guten kleinen Knaben, die in den Sonntagsschulbüchern beschrieben waren, mit vollster Zuversicht. Seine Sehnsucht war, einmal einem von ihnen lebendig zu begegnen – aber dazu kam er niemals. Wahrscheinlich waren sie alle vor seiner Zeit gestorben. So oft er von einem ganz besonders guten Jungen las, blätterte er schnell bis ans Ende, um zu sehen, was aus ihm geworden sei, denn er wäre gern tausend Meilen weit gereist, um ihn zu Gesicht zu bekommen; aber es war nichts damit; der gute kleine Knabe starb immer im letzten Kapitel. Dann kam ein Bild vom Begräbnis mit allen Anverwandten und den Sonntagsschulkindern, die das Grab umstanden in zu kurzen Hosen und zu weiten Mützen, und alle Leute weinten in Schnupftücher, die mindestens anderthalb Ellen maßen.

Immer und immer wieder sah sich Jakob getäuscht. Er bekam niemals einen der guten kleinen Knaben zu sehen, weil sie im letzten Kapitel regelmäßig starben.

Jakobs höchstes Streben ging dahin, auch einmal in einem Sonntagsschulbuch beschrieben zu werden. Er wollte gern mit Bildern hineinkommen, die ihn darstellten, wie er siegreich der Versuchung widerstand, seiner Mutter etwas vorzulügen und sie darüber in Freudenthränen ausbrach, oder auf denen er abgemalt war, wie er auf der Schwelle der Hausthüre einer armen Bettlerin mit sechs Kindern ein paar Pfennige giebt und ihr freundlich zuredet, sie zu verbrauchen wie sie wolle, aber ja Maß zu halten, weil Unmäßigkeit eine Sünde sei. Auf andern Bildern sollte zu sehen sein, wie er sich hochherzig weigert, den bösen Buben anzugeben, der immer an der Straßenecke auf ihn lauert, wenn er aus der Schule kommt, ihm mit dem Lineal über den Kopf haut und ihn unter lautem Hihi! bis nach Hause verfolgt.

Ja, das war der Ehrgeiz unseres Jakob Bliwens. Er trachtete danach, in ein Sonntagsschulbuch zu kommen. Bisweilen ward es ihm freilich unheimlich zu Mut, wenn er überlegte, daß die guten kleinen Knaben immer starben. Er lebte nämlich gern und das war die unangenehmste Seite im Lebenslauf eines Sonntagsschulbuchknaben. Er wußte, es war nicht gesund, sehr gut zu sein; er wußte, es war gefährlicher als die Schwindsucht, so übernatürlich brav zu sein wie die Knaben in den Büchern, denn keiner von ihnen war ja einmal imstande gewesen, es lange auszuhalten. Auch peinigte ihn der Gedanke, daß, wenn man ihn in ein Buch thäte, er es entweder niemals sehen würde, oder – käme es heraus, ehe er gestorben sei – es keinen Anklang fände, wenn das Bild von seinem Begräbnis am Schlusse fehlte. Das konnte ja gar kein richtiges Sonntagsschulbuch sein, das nichts von seiner letzten Vermahnung an die Gemeinde in seiner Sterbestunde enthielte. –

So mußte er sich denn endlich, wohl oder übel, mit dem zufrieden geben, was unter solchen Umständen zu erreichen war – mußte rechtschaffen zu leben trachten, so lange als möglich, und seine Sterberede bereit halten, wenn seine Zeit um war. –

Aber wunderbarer Weise ging mit diesem guten kleinen Knaben alles verkehrt. Nichts trug sich mit ihm auf die gleiche Art zu, wie mit den guten kleinen Knaben in den Büchern. Diesen erging es immer gut, und die bösen Buben hatten die Beinbrüche. In seinem Fall schien jedoch in dem Triebwerk irgend etwas nicht richtig zu sein, denn es kam immer gerade umgekehrt heraus. Wenn er Jim Blake Äpfel stehlen sah und sich unter den Baum stellte, um ihm die Geschichte von dem bösen Knaben vorzulesen, der von des Nachbars Apfelbaum herunterfiel und den Arm brach, da fiel Jim zwar auch vom Baum, aber er fiel auf ihn und zerbrach ihm den Arm. – Jim selbst war ganz heil geblieben.

Einmal, als ein paar böse Buben einen blinden Mann anrannten, daß er in den Schmutz fiel und Jakob hinlief, um ihm aufzuhelfen und dafür seinen Segen zu empfangen, da segnete ihn der blinde Mann ganz und gar nicht, sondern hieb ihm mit dem Stock über den Kopf und sagte: »Warte nur, ich will dich lehren, mich erst zu stoßen und dann zu thun, als wolltest du mir helfen.« – Das stimmte mit keinem der Bücher. Jakob hat sie alle darauf durchgesehen.

Eines hätte Jakob sehr gewünscht, nämlich einen lahmen Hund zu finden, der hungrig und verfolgt wäre und keine Unterkunft hätte. Den wollte er mit nach Hause nehmen, ihn pflegen und des Hundes lebenslange Dankbarkeit dafür ernten. Endlich fand er wirklich einen und war glücklich. Er brachte ihn nach Hause und fütterte ihn; als er ihn aber streicheln wollte, fuhr der Hund auf ihn los und riß ihm von hinten alle Kleider vom Leibe, so daß er einen ganz anstößigen Anblick darbot. Jakob forschte in seinen Quellen nach, aber die Sache blieb ihm dunkel. Der Hund war von derselben Rasse, die in den Büchern stand, und doch benahm er sich ganz anders. Kurz alles, wofür die Knaben in den Büchern belohnt wurden, erwies sich für ihn als das Unersprießlichste, was er unternehmen konnte.

Als er einstmals auf dem Wege zur Sonntagsschule war, sah er ein paar böse Buben in einem Segelboot abfahren. Er war sehr erschrocken, denn er wußte ja aus seinen Büchern, daß Knaben, die am Sonntag Boot fahren, unfehlbar ertrinken müssen. So lief er denn auf einem Floß in den Fluß hinaus, um sie zu warnen, aber der Stamm, auf den er trat, drehte sich um und er fiel ins Wasser. Zwar brachte ihn ein Mann ziemlich schnell wieder aufs Trockene und der Doktor pumpte das Wasser aus ihm heraus und blies ihm mit seinem Blasebalg neues Leben ein, aber er hatte sich erkältet und lag neun Wochen krank zu Bette. Das Unerklärlichste bei der Geschichte war jedoch, daß die bösen Buben im Boot den ganzen Tag über kreuzfidel gewesen waren und gesund und lebendig nach Hause kamen – was sich durchaus nicht erwarten ließ. Jakob sagte, dergleichen käme in seinen Büchern nirgends vor. Er war ganz starr vor Verwunderung.

Als er wieder gesund wurde, war er zwar etwas entmutigt, beschloß aber doch, seine Versuche fortzusetzen. Er sah wohl ein, daß seine bisherigen Erlebnisse nicht in ein Buch paßten, aber er war ja auch noch nicht bis an das Lebensziel gelangt, welches gute kleine Knaben zu erreichen pflegen. Wenn er nur ausharren konnte, bis seine Zeit kam, so hoffte er es doch noch dahin zu bringen, daß man eine Geschichte von ihm schreibe. Schlug alles andere fehl, so blieb ihm immer noch seine Sterberede übrig.

Aus seinen Sonntagsschulbüchern ersah er, daß es für ihn nun an der Zeit sei, als Schiffsjunge zur See zu gehen. So begab er sich denn zu einem Schiffskapitän und brachte sein Anliegen vor. Als der Kapitän Empfehlungen verlangte, zog er stolz ein Traktätchen aus der Tasche und zeigte auf die Zueignung: »Dem guten Jakob Bliwens von seinem ihn liebenden Lehrer.« Aber der Kapitän war ein grober, ungebildeter Mensch und sagte: »Zum Henker mit dem Zeug! Das ist kein Beweis, daß du Teller auszuwaschen und den Spülichteimer zu gebrauchen verstehst. Geh' nur deiner Wege!«

Das war der unerhörteste Fall, der unserm Jakob im Leben vorgekommen war. Eines Lehrers Lob auf einem Traktätchen hatte doch noch nie verfehlt, die freundlichsten Gefühle bei Schiffskapitänen zu erwecken und den Weg zu allen Ehrenämtern und Vorteilen zu bahnen, welche sie zu vergeben hatten – wenigstens in keinem Buch, das er gelesen hatte. Er konnte kaum seinen Sinnen trauen.

 

So erging es diesem guten kleinen Knaben immer schlecht. Nichts nahm bei ihm jemals den Verlauf, den es nach seinen Büchern nehmen mußte. – Endlich, eines Tages, als er umherging, um nach kleinen bösen Buben auszuschauen und sie zu ermahnen, traf er auf einen ganzen Haufen in der alten Eisengießerei. Die hatten sich das Späßchen gemacht, vierzehn oder fünfzehn Hunde in einer langen Reihe fest an einander zu knüpfen und waren eben im Begriff, dieselben mit leeren Nitroglycerinbüchsen auszuschmücken, die sie ihnen an die Schwänze banden. Das rührte Jakobs Herz. Er setzte sich auf eine der Büchsen – denn er machte sich nichts daraus, sich mit Fett zu beschmieren, wenn es die Erfüllung einer Pflicht galt – ergriff den vordersten Hund am Halsband und sah den bösen Tom Jones mit vorwurfsvollem Blicke an.

Aber gerade in diesem Augenblick trat der Ratsherr Mac Welter in hellem Zorn mitten unter sie. Alle bösen Buben liefen davon. Jakob aber, im Bewußtsein seiner Unschuld, stand auf und begann eine jener wohlgesetzten Sonntagsschulbuchreden, die immer mit: »O, mein Herr« anfangen, ohne die Thatsache zu berücksichtigen, daß kein Junge, ob gut oder böse, jemals eine Bemerkung mit: »O, mein Herr« beginnt. – Allein, der Ratsherr wartete das Weitere nicht ab. Er packte unsern Jakob beim Ohr, drehte ihn um, versetzte ihm mit der flachen Hand eins auf die Rückseite und – in einem Augenblick schoß dieser gute kleine Knabe durch das Dach und der Sonne zu – hinter ihm die Fetzen der fünfzehn Hunde an einem Bindfaden, wie der Schwanz eines Drachen. – – Und nirgends auf der Erde war weder von dem Ratsherrn noch von der alten Eisengießerei eine Spur mehr übrig.

Was Jakob Bliwens betrifft, so hatte er nun keine Aussicht mehr, seine Sterberede zu halten, auf die er sich doch mit so vieler Mühe vorbereitet hatte, er müßte sie denn den Vögeln des Himmels gehalten haben.

Obgleich die Hauptmasse seines Körpers ganz richtig in einem Baumwipfel der nächsten Grafschaft herunterkam, so waren doch die übrigen Glieder auf vier umliegende Stadtbezirke verteilt. Es mußte fünfmal Leichenschau über ihn gehalten werden, um festzustellen, ob er tot sei oder nicht und wie sich die Sache zugetragen. So weit ist noch niemals ein Knabe herumgestreut worden.

Auf solche Weise ist dieser gute kleine Knabe ums Leben gekommen, der sein Allerbestes that und dem es doch nicht so erging, wie's in den Büchern steht. Sein Fall ist in der That höchst merkwürdig. Wahrscheinlich wird er niemals aufgeklärt werden.

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