Mark Twain
Skizzenbuch
Mark Twain

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kandidatenfreuden.

Vor ein paar Monaten wurde ich im großen Staate New-York von der Partei der Unabhängigen als Kandidat für den Gouverneursposten aufgestellt. Meine Gegenkandidaten waren John T. Smith und Blank J. Blank. Diesen Herren gegenüber glaubte ich erheblich im Vorteil zu sein – ich erfreute mich nämlich eines guten Rufes. Wenn sie aber – das konnte man leicht aus den Zeitungen ersehen – je gewußt hatten, was es heißt, einen fleckenlosen Namen zu tragen, so war diese Zeit längst vorüber. Offenbar hatten sie sich in den letzten Jahren mit den schändlichsten Verbrechen ganz vertraut gemacht. Aber während ich mich noch insgeheim an dem Bewußtsein meiner Überlegenheit ergötzte, lauerte schon ein trübes Unbehagen im Hintergrunde meiner Seele und nagte an den Wurzeln meines Glücks. Mich quälte der Gedanke, daß nun mein Name fortwährend in Verbindung mit demjenigen solcher Menschen genannt werden würde. Meine Unruhe darüber wuchs von Tag zu Tage. Endlich schrieb ich es meiner Großmutter. Ihre Antwort traf ein und lautete sehr bestimmt wie folgt:

»Du hast nie in deinem Leben das geringste gethan, dessen du dich zu schämen brauchtest, nicht das geringste. Nun wirf einen Blick auf die Zeitungen, lies und erkenne, was für Charaktere die Herren Smith und Blank sind und dann prüfe dich, ob du Willens bist, dich so weit zu erniedrigen, daß du mit ihnen den öffentlichen Wettbewerb um ein Amt aufnimmst.«

Mir ganz aus der Seele gesprochen! Ich verbrachte eine schlaflose Nacht; aber wie ich's mir auch überlegte, zurücktreten konnte ich nicht mehr, ich war meinen Wählern gegenüber gebunden und mußte den Kampf fortsetzen. Als ich beim Frühstück mechanisch die Zeitung überblickte, stieß ich auf den folgenden Artikel, und, ehrlich gestanden, hat mich noch nie im Leben etwas dermaßen verblüfft:

»Meineid. – Da nun Herr M. Twain öffentlich als Kandidat für den Gouverneursposten auftritt, wird er sich vielleicht zu einer Erklärung herbeilassen, wie es kam, daß er im Jahre 1863 zu Wakawak in Cochinchina von vierunddreißig Zeugen des Meineids überführt wurde. Der Zweck dieses Meineids war, eine arme eingeborene Witwe und ihre hilflosen Kinder der elenden kleinen Bananenpflanzung zu berauben, welche ihnen in ihrer Not und Verlassenheit allein Nahrung und Unterhalt gewährte. Herr Twain ist es sich selbst und dem großen Volk schuldig, um dessen Stimmen er sich bewirbt, diese Angelegenheit aufzuklären. Wird er es thun? –«

Ich meinte, mich rühre der Schlag vor Entsetzen. Eine so grausame und herzlose Beschuldigung! Cochinchina hatte ich nie gesehen und von Wakawak niemals gehört. Ich hätte eine Bananenpflanzung nicht von einem Känguruh unterscheiden können. Ich war ratlos, von Sinnen, wußte mir nicht zu helfen! So verging der Tag, ohne daß ich einen Entschluß faßte. Am nächsten Morgen brachte dieselbe Zeitung folgende kurze Notiz:

»Bezeichnend. – Herr Twain hüllt sich, wie man bemerkt, über den Cochinchina-Meineid in ein vielsagendes Schweigen.«

Während des ganzen Wahlkampfes wurde ich, beiläufig gesagt, von dieser Zeitung nie anders erwähnt, als der »schändliche, meineidige Twain.«

 

Die »Gazette« brachte nun zunächst Folgendes:

»Anfrage. – Wird der neue Gouverneurskandidat die Güte haben, einige seiner Mitbürger, die ihre Stimmen nicht leichtsinnig abgeben wollen, über einen geringfügigen Umstand aufzuklären? Wie kam es, daß seine Schlafgenossen in Montana dann und wann kleine Wertsachen verloren, die jedesmal an Herrn Twains Person oder in seinem »Koffer« (einem Zeitungsblatt, in welches er seine Habseligkeiten einzuwickeln pflegte) vorgefunden wurden, bis man sich endlich veranlaßt fühlte, ihm zu seinem eigenen Besten eine freundschaftliche Verwarnung zu erteilen? Man theerte und federte ihn, ließ ihn auf einem Balken reiten und gab ihm schließlich den Rat, an dem Platz, den er gewöhnlich im Lager einnahm, eine bleibende Lücke zu lassen. Wird er dem Rate folgen? –«

Konnte man sich etwas ausgeklügelt Boshafteres vorstellen, zumal ich zu keiner Zeit meines Lebens in Montana gewesen bin?

Von da ab nannte mich dieses Journal nie anders als den »Montana-Dieb Twain.«

Ich kam so weit, daß ich mich fast fürchtete, eine Zeitung in die Hand zu nehmen; ungefähr wie jemand, der eine wollene Decke, die er nötig braucht, aufheben möchte, aber eine Klapperschlange darunter vermutet. Eines Tages las ich folgendes:

»Der Lügner ist entlarvt! – Durch die beschworenen Aussagen der Herren Michael O'Flanagan, Snub Rafferty und Catty Mulligan aus Five Points und Water Street,Eine berüchtigte Gegend New-Yorks, wo viel irisches Gesindel wohnt. wurde festgestellt, daß Herrn Mark Twains schändliche Behauptung, als wäre der verstorbene Großvater unseres edlen Bannerträgers Blank J. Blank wegen Straßenraubs gehängt worden, eine gemeine, aus der Luft gegriffene Lüge ist. Für tugendhafte Männer ist es eine niederschmetternde Erfahrung, daß man zu solchen unehrenhaften Mitteln greifen kann, um einen politischen Erfolg zu erringen, daß man sich nicht scheut, die Toten noch im Grabe zu beschimpfen und auf ihren geachteten Namen Verleumdungen zu häufen. Wenn wir an den Schmerz denken, den diese elende Lüge den unschuldigen Verwandten und Freunden des Verewigten bereitet haben muß, sind wir fast versucht, das betrogene und beleidigte Publikum zu schneller, wenn auch ungesetzmäßiger Rache gegen den Verleumder aufzustacheln. Aber nein – überlassen wir ihn den Qualen eines gepeinigten Gewissens! – Sollte jedoch der Fall eintreten, daß das Publikum, von Leidenschaft übermannt, in blinder Wut dem Verleumder körperliche Mißhandlungen zufügte, so liegt es auf der Hand, daß kein Schwurgericht die Thäter für schuldig erklären, kein Richter sie strafen könnte.«

Der geschickt abgefaßte Schlußsatz bewirkte, daß ich noch in derselben Nacht in größter Eile aus dem Bette und zur Hinterthür hinausflüchten mußte, während das »betrogene und beleidigte« Publikum vor dem Hause wütete und tobte wie brandende Meereswogen, in seiner gerechten Entrüstung beim Kommen Möbel und Fenster zerschlug und beim Gehen so viel von meinem Eigentum mitnahm, als es tragen konnte. Und doch kann ich meine Hand auf die Bibel legen und versichern, daß ich Herrn Blanks Großvater niemals verleumdet habe. Ja noch mehr – ich hatte bis zu jener Stunde seinen Namen nicht einmal nennen hören.

Gelegentlich will ich nur erwähnen, daß das Journal, welchem obiges Inserat entstammt, mich von nun an immer als »Twain, den Leichenschänder« bezeichnete.

 

Der nächste Zeitungsartikel, der meine Aufmerksamkeit erregte, lautete wie folgt:

»Ein netter Kandidat! – Herr Mark Twain, der gestern abend bei der Volksversammlung der Unabhängigen eine donnernde Rede halten sollte, glänzte durch Abwesenheit. Ein Telegramm seines Arztes meldete, daß er von einem durchgegangenen Gespann zu Boden geworfen worden sei und an einem doppelten Beinbruch in großen Schmerzen darniederliege, und so weiter, und so weiter, noch ein ganzer Haufen ähnlichen Unsinns. Die Unabhängigen gaben sich alle Mühe, die elende Notlüge hinunterzuschlucken und zu thun, als ahnten sie den eigentlichen Grund der Abwesenheit jenes Verworfenen nicht, den sie zu ihrem Bannerträger erkoren haben. Gestern abend sah man einen gewissen Menschen im Zustand viehischer Betrunkenheit in Herrn Twains Hotel hineintaumeln! Es ist unbedingt Pflicht für die Unabhängigen, zu beweisen, daß dieses zum Tier entwürdigte Geschöpf nicht Mark Twain selbst gewesen ist. Jetzt endlich sind sie gefangen – hier giebt es kein Entrinnen! Im Donnerton ruft die Volksstimme: ›Wer war der Mensch?‹« –

 

Unglaublich, völlig unglaublich, daß es wirklich mein Name war, den man mit diesem schmachvollen Verdacht in Verbindung brachte! Waren doch drei Jahre über mein Haupt dahingegangen, seit ich einen Tropfen Ale, Bier, Wein oder überhaupt ein geistiges Getränk angerührt hatte.

Es zeigt, wie abgestumpft ich schon mit der Zeit geworden war, daß ich es ohne Schmerz ertragen konnte, mich in der nächsten Nummer dieses Journals ganz selbstverständlich als Herr »Delirium tremens Twain« erwähnt zu finden, obgleich ich sicher sein konnte, daß das Blatt mit unwandelbarer Eintönigkeit fortfahren werde, mich bis ans Ende so zu bezeichnen.

Unter den Postsachen, welche ich täglich erhielt, begannen jetzt anonyme Briefe eine große Rolle zu spielen. Die Form derselben war meistens folgende:

»Wie war's denn mit die alte Bettelfrau, die Sie von Ihrer Dürschwölle mit Fußdritte weckjachten?

Pol Pry.«

Dann weiter: –

»Sie haben Dahten gethan, welche Niemand bewußt sind wie mir. Rücken Sie nur ein bar Batzen raus an Ihren Ergebenen oder Sie sollen durch die Zeitungen was hören von

Handy Andy.«

So ungefähr lauteten sie. Auf Wunsch könnte ich damit fortfahren, bis der Leser übergenug hat.

Bald darauf »überführte« mich das bedeutendste republikanische Journal einer großartigen Bestechung und das demokratische Hauptblatt bezüchtigte mich eines niederträchtigen Erpressungsversuches. Auf diese Weise erwarb ich zwei neue Titel: »Twain, der elende Verführer« und »Twain, der schändliche Räuber«.

Inzwischen verlangte man mit solchem Toben eine »Antwort« auf alle die entsetzlichen Beschuldigungen, die gegen mich laut geworden waren, daß die Redakteure und die Führer meiner Partei behaupteten, es wäre mein politischer Ruin, wollte ich länger bei meinem Schweigen verharren. Wie um ihr Verlangen noch dringender zu machen, erschien schon am nächsten Tage folgendes in einer Zeitung:

»Seht einmal den Menschen! – Der Kandidat der Unabhängigen schweigt noch immer, weil er nicht zu reden wagt. Alle gegen ihn erhobenen Anschuldigungen sind vollauf bewiesen worden und sein fortgesetztes, beredtes Schweigen hat deren Wahrheit genug bestätigt, so daß er nunmehr für alle Zeit überführt dasteht. – Ihr Unabhängigen, seht ihn euch einmal an, euern Kandidaten! Seht den verruchten Meineidigen, den Montana-Dieb, den Leichenschänder! Betrachtet euch euern Delirium Tremens, den elenden Verführer, den schändlichen Räuber! Schaut ihn an – genau und gründlich – und dann sagt, ob ihr mit gutem Gewissen einem Schurken eure Stimmen geben könnt, der sich durch seine entsetzlichen Verbrechen eine so grauenvolle Auswahl von Ehrentiteln erworben hat und es nicht wagt, den Mund aufzuthun, um auch nur einen einzigen von sich zu weisen.«

Ich sah keine Möglichkeit, mir die Sache zu ersparen, und so machte ich mich denn tief gedemütigt daran, eine »Antwort« auf den Wust von grundlosen Beschuldigungen und boshaften Lügen vorzubereiten. Aber ich brachte diese Aufgabe nicht zu stande. Schon am folgenden Morgen erschien nämlich eine neue gräßliche Geschichte in einem Blatt, mit abscheulicher Erfindungsgabe beschuldigte man mich allen Ernstes, ein Irrenhaus nebst sämtlichen Insassen niedergebrannt zu haben, weil es die Aussicht vor meinem Hause versperre. Dies versetzte mich in Todesschrecken. – Ferner sollte ich noch meinen Onkel vergiftet haben, um sein Vermögen an mich zu bringen und man bestand heftig darauf, das Grab müsse geöffnet werden. Es trieb mich an den Rand der Verzweiflung. Als nun noch die Anklage folgte, ich hätte als Pfleger des Findelhauses meine zahnlosen, altersschwachen Verwandten angestellt, um die Kost zu bereiten – da begann ich zu wanken, die Sinne schwanden mir. Schließlich setzte man der empörenden Verunglimpfung, die der Parteihaß mir angethan, noch die Krone auf, indem man neun zerlumpte Kinder, in allen Farbenschattierungen, die kaum laufen gelernt hatten, abrichtete, bei einer öffentlichen Versammlung auf die Rednertribüne zu stürzen, sich an mich zu drängen und mich Papa zu nennen.

Das gab den Ausschlag. Ich strich die Flagge und ergab mich. Zum Wahlkampf im Staate New-York bei Besetzung des Gouverneurpostens reichten meine Kräfte nicht aus. Ich sandte meinen Verzicht auf die Kandidatur ein und unterzeichnete mich in der Bitterkeit meines Herzens

Ihr ergebener

ehemaliger Ehrenmann,
aber jetzt V.M. – M.D. – L.Sch. – D.T. – E.V. u. S.R.
Mark Twain.

vignette

 << zurück weiter >>