Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
»Habe des Süßen und Sauren viel genossen –
aber des Sauren war mehr.«
Der alte Dessauer
Aus einem völkischen Kochbuch. Man schneide einen alten Juden in nicht zu dünne Scheiben, wälze ihn in einer Mehlschwitze und überstreue ihn vorsichtig mit etwas gestoßenem »Berliner Tageblatt«. Die Mischung lasse man in einem Stahlhelm dreimal aufkochen und serviere heiß. Ein Hakenkreuz aus Mazze wird den Appetit jedes deutschen Gastes anregen.
*
Aus einem demokratischen Kochbuch. (Vorrede). Wir enthalten uns hier ausdrücklich jeder Politik, da wir der demokratischen Auffassung sind, daß die Hauptgebiete des Lebens, wie zum Beispiel die Nahrungszufuhr, unpolitisch sind und es auch bleiben müssen. Daher folgen hier die Rezepte in der ungekürzten Fassung der Vorkriegszeit, ohne Rücksicht auf die Zeitereignisse.
(Eine Seite darauf)
Unserer ersten deutschen Hausfrau:
der jeweiligen deutschen Kaiserin
ehrfurchtsvoll dargewidmet
von einer deutschen Familienmutter.
*
Aus einem sozialdemokratischen Kochbuch. Man nehme nach Anhörung des Parteivorstandes drei frische Eier und zerschlage sie bei einem vorliegenden Beschluß der Reichstagsfraktion. Während man umrührt, berufe man einen Parteitag ein und lasse über die Menge des zu verwendenden Mehles abstimmen. Will man ein brauchbares Rezept haben, verwende man die Angaben der Opposition. Ist Einstimmigkeit zwischen Fraktion und Vorstand erzielt, setze man die Speise aufs Feuer, ziehe sie aber bei Bedenken der Gewerkschaften sofort zurück. Auf diese Weise hat man zwar keinen Eierkuchen, wohl aber ein höchst anregendes Gesellschaftsspiel.
*
Aus meinem Privatkochbuch. Man fülle guten, alten Whisky in eine nicht zu flache Suppenterrine, rühre gut um und genieße das erfrischende Getränk, soweit angängig, nüchtern. Ein Zusatz von Mineralwassern empfiehlt sich nicht, da selbe oft künstliche Kohlensäure enthalten, daher gesundheitsschädlich sind.
Anmerkung: Der Whisky muß von Zeit zu Zeit erneuert werden.
Am sechsten Juli dieses Jahres beschloß der Löwe Franz Wüstenkönig aus dem großen Raubtierhaus des Berliner Zoologischen Gartens, fürder nicht mehr mitzumachen. Er brach aus.
Das machte er so, daß er, gelegentlich der Reinigung seines Käfigs durch den Oberwärter Pfleiderer in den Nebenkäfig gescheucht, das Schließen der Verbindungstür durch Dazwischenklemmen seines Schweifendes geschickt verhinderte, die Reinigung abwartete, sich dann mit Gebrüll Nr. 3 auf den ahnungslosen Pfleiderer stürzte, diesen über den Haufen rannte und durch die offenstehende Käfigtür das Weite suchte und fand.
Der Löw' ist los –!
Dieser Schreckensruf verbreitete sich, einem Lauffeuer gleich, in den Wandelgängen unseres geliebten Zoologischen Gartens. Die Aufregung der Besucher war unbeschreiblich. Viele ließen in der Eile ihr Bier stehen, ohne zu zahlen – und noch lange nach diesen Ereignissen sah man an den Restaurants des Zoo die Kette der ehrlichen Berliner anstehen, die ihre schuldige Zeche begleichen wollten. Kinderwagen fielen um und ergossen ihren schreienden Inhalt auf die Wege, ältere Damen, die sonst nur mühsam einherschlurchten, liefen plötzlich, daß es eine Freude war – die Lästerallee war wie leergefegt, und nur ängstliche Kellner saßen hoch oben in den Zweigen der Bäume, und ihre schwarzen Fräcke hingen hernieder wie die Schwänze fremdartiger Zaubervögel. Der Löw' ist los –!
Hastig stürzten die aufgeschreckten Menschen auf die Straßen und ohrenbetäubend verkündete auch dort ihr Geschrei: »Der Löw' ist los! Und seinen Apostroph hat er auch mitgenommen –!«
Die Wirkung war furchtbar.
Wüstenkönig war noch damit beschäftigt, gedankenvoll und langsam in der leeren Waldschänke die dort aufgehängten kleinen Würstchen zu verzehren – da standen draußen schon ganze Straßenzüge auf dem Kopf. Die gewöhnlichen Leute stürzten, haste was kannste, über Rinnsteine, Hunde, Babys, Aktentaschen, und dicke Damen, die nicht weiter konnten. Die minder gut gestellten Schichten der Bevölkerung machten sich die Situation rasch zunutze – sie kauften die an die Bordschwellen gespülten Strandgüter der Fliehenden à la baisse und eröffneten damit an den Ecken einen schwunghaften Handel. Die oberen Schichten hingegen bewahrten auch hier ihre überlegene Ruhe, sobald sie erst einmal im Auto saßen – umsichtig und ernst sorgten sie dafür, daß sich keiner an die Wagen hängte. Die Droschkenkutscher schlugen augenblicks um das Achtzehnfache auf – zum ersten Mal in Berlin, ohne den Polizeipräsidenten um Erlaubnis zu fragen. Es war ein Höllenlärm. In der Mitte stand, starr und stolz, ein Polizeiwachtmeister, turnte ägyptisch und regelte den Verkehr, und der Verkehr blieb stehen und sah zu, wie er geregelt wurde, und war sehr stolz. Es ging zu wie in einer getauften Judenschule.
Der Löwe Wüstenkönig war inzwischen mit den Würstchen fertig geworden. Er brüllte nach dem Kellner – keiner kam. Unwillig mit dem Schweif den kleinen Alltagsreif schlagend, begab sich Wüstenkönig ins Freie. Das majestätische Tier schritt würdevoll dem Ausgang nach dem Kurfürstendamm zu.
*
Berlin war aufgestört wie ein Ameisenhaufen. Alle Telephone klingelten mit einem Male schrill auf – aber es meldeten sich nur die falschen Verbindungen. Die einzigen, die den Kopf nicht verloren, waren die Damen vom Amt, sie verrichteten kaltblütig ihren Dienst in gewohnter Weise weiter, und so bekam niemand Anschluß. In den Redaktionen der großen Zeitungen drängten sich die Reporter. »Wie soll das jetzt noch in die Abendausgabe?« jammerte Redakteur Ausgerechnet. »Konnte dieser verdammte Löwe nicht eine halbe Stunde früher ausbrechen?« – »Dann machen wir eben eine Extraausgabe!« sagte der Verleger Mülvoß. Und: »Extraausgabe! Extraausgabe!« hallte es durch das Haus. Und die Setzer klapperten mit den Winkelhaken, und die schweren Rotationspressen setzten sich rasch in Bewegung …
Die Börse nahm die Nachricht vom Ausbruch des Löwen verhältnismäßig gefaßt auf. (Haben Sie schon mal eine Nachricht gesehen, die die Börse nicht gefaßt aufgenommen hätte?) Montanwerte fester, Gerste leicht angezogen, Brauereien flau, Jakob Goldschmidt immer oben auf, Herbert Guttmann repartiert, Häute fest.
Im Reichswehrministerium tagte gerade eine Unterkommisston des Untersuchungsausschusses zur Nachprüfung seiner eignen Unentbehrlichkeit, als die Schreckensnachricht eintraf. Das Frühstück, Verzeihung, die Sitzung, wurde sofort abgebrochen. Zwei Generalstabsoffiziere arbeiteten hopphopp mit ihren Referenten einen Feldzugsplan für die Bekämpfung des Löwen aus und forderten dazu an:
2 Armeekorps,
1 Pressestelle,
24 außeretatmäßige Stabsoffizierstellen,
1 Stück Kanone,
1 Land-Panzerkreuzer.
Der Löwe Wüstenkönig schritt inzwischen, immer majestätisch, wie es ihn seine liebe Mutter gelehrt hatte, durch die Kurfürstenstraße zum Lützowplatz. Menschenleer lagen Straßen und Plätze. Da stand ein großes Löwendenkmal. Mißmutig schnupperte der Löwe. Dann hob er – da rührte sich etwas. Was war das? Nichts. Der Löwe ließ seinen Gefühlen freien Lauf.
Ging und lief dann in langen Sätzen die Lützowstraße entlang durch die Potsdamer Straße und stürmte vor ein großes Warenhaus.
Er war Gourmand, der Löwe Franz Wüstenkönig. Er wollte so eine nette, kleine, pruzlige Verkäuferin zum Frühstück essen – so eine frische, junge … Herrgottnichtnochmal! Das Wasser lief ihm in Appetitschnüren zum Maule heraus und hing in langen Fäden an seinem Bart … Schnurrend legte er sich und wartete.
Die Behörden hatten inzwischen fieberhaft gearbeitet. In aller Eile, so gut das eben in der Geschwindigkeit ging, hatte man eine Reichslöwenabwehrabteilung mit einem Sonderressort für bayrische Löwen begründet, und es handelte sich nur noch darum, ob die Abteilung das ganze Rathaus oder das Hotel Adlon beziehen sollte –
Die Deutsche Volkspartei war wie stets auf dem Posten. Schon nach einer halben Stunde klebten an allen Säulen und Bäumen knallblaue Plakate:
»MITBÜRGER!
DER LÖW' IST LOS!
WER IST DARAN SCHULD?
DIE JUDEN!
WÄHLT DIE DEUTSCHE VOLKSPARTEI!«
Das Leben in der Stadt war völlig umgekrempelt. Niemand wagte sich mehr aus dem Hause. Aus allen Stadtteilen wurden Löwen gemeldet – im ganzen zweiundsechzig. Acht große Hunde wurden erschossen, erst an den Hundemarken erkannte man den kleinen Irrtum. Bei Königs ließ die Köchin Babett das Teeservice mit dem gesamten Gedeck fallen, weil ihr der junge Herr von hinten einen Kuß aufgedrückt hatte. Mit dem Ausruf: »Jessas! der Löwe!« brach das brave Mädchen zusammen.
Die Berliner Theaterdirektoren Bindelbands suchten verzweifelt den Löwen. Sie wollten ihn für den Shawschen »Androklus« engagieren. Sie fuhren von Straße zu Straße – kein Löwe. Feuerwehrautos klingelten durch die Gegend – kein Löwe. Der Löwe war fottefliegt.
Der Löwe war gar nicht fort. Er war, des Wartens müde, aufgestanden, schlenderte nun durch die Straßen, erblickte einen Wagen mit Kirschen und warf ihn, durch den hohen Preis erschreckt, um – und dann war er weiter und weiter gegangen.
Also das war Berlin! Dieser traurige Haufe von Steinkästen und schnurgeraden Straßen, die alle ein bißchen unsauber aussahen – das war das Weltdorf Berlin! Der Löwe schüttelte das Haupt. Da hatten ihm die Spatzen im Käfig wer weiß was erzählt – und wenn abends vor der Fütterung aus dem Raubtierhaus, ja, aus dem ganzen Zoo ein Schrei aufstieg: » Swoboda!« (Russisch ist nämlich das Volapük der Tiere, und dies heißt so viel wie Freiheit!) – dann meinten alle, die ja zum großen Teil ihre natürliche Heimat nie gesehen hatten, gar nicht Afrika oder die Kordilleren oder Indien – der Schrei hieß: Berlin! – Einmal auf der Rutschbahn im Lunapark fahren, war die Sehnsucht der Krokodile; einmal zum Rennen nach Ruhleben, danach lechzten die Aasgeier; einmal sich in der Bar wälzen können, träumten die wilden Schweine. Abend für Abend. Und das hier war Berlin? Das war es?
Wüstenkönig schüttelte nochmals das Haupt.
Und da rückte es heran. Die Feuerwehr von der einen Seite und die Gebirgs-Marine der Reichswehr von der andern, Kino-Operateure und Leute, die bei allen Premieren dabei sein müssen, Journalisten, Damen der ersten besten Gesellschaft und die Bindelbands … Da rückte es heran.
Und das Erstaunliche geschah, daß sich der Löwe Franz Wüstenkönig, der Beherrscher der Tiere, die Majestät der Fauna pp., ruhig abführen ließ – in seinen Käfig zurück, in das große Raubtierhaus des Zoologischen Gartens.
Und als die Tür hinter ihm zugeklappt war und ihn der Oberwärter Pfleiderer vorwurfsvoll angeschnupft hatte, und als sich der ganze Schwarm verlaufen, da senkte der enttäuschte Löwe den Schweif, den er bis dahin glorios nach oben getragen hatte, streckte sich still der Länge lang hin und sagte mit Wärme und Überzeugung: »Nie wieder –!«
»Ich sah im Draum e gleenes Dromedar;
das liebe Dhier war gaum e halbes Jahr.
Am Halfter fiehrts e blondes Därkenkind –
in seinen Locken seiselte der Wind …
Ach, war das scheen –!«
Sächsisch-türkisches Volkslied
Am hübschesten sind eigentlich Bücher, die gar keine sind. Die richtigen Bücher: diese Lyriksammlungen, diese Entwicklungsromane (»Adolar blickte versonnen auf die letzten vierundachtzig Jahre seines Lebens«), diese expressionistisch geballten Bücher, in denen es scheinbar zackig, in Wirklichkeit aber aalglatt zugeht –: wer will denn das alles noch lesen! Ich weiß etwas viel Schöneres.
»Durch türkische und ägyptische Harems. Erlebnisse eines deutschen Landsturmmannes, von August Mies, Landsturmmann und Kriegsteilnehmer, abkommandiert nach der Türkei zur Organisation der Viehherden des ehemaligen Kriegsministers Enver Bey.« Wir wollen uns zunächst einmal einigen: ich habe weder den Titel noch das Buch erfunden: das Werk ist im Verlag des Allgemeinen Stallschweizerbundes, Sitz Plauen i. V., wirklich erschienen. Jetzt gehts los.
»Der Kapitän eines russischen Kriegsschiffes nimmt seine Tochter Tatjana auf eine Fahrt über das Schwarze Meer mit. Das russische Schiff wird von den Türken gekapert. Der Kapitän kommt in ein Internierungslager, während die junge Dame, die Braut eines russischen Offiziers, in den Harem eines Paschas verschleppt wird. Ein deutscher Landsturmmann wird für den Viehstand Enver Beys abkommandiert. Mit seiner Herde weilt er auf einsamer Heide, als der Pascha mit seinem Harem bei ihm sein Zeltlager aufschlägt. Hier lernt der deutsche Landstürmer die Russin als solche kennen und verspricht ihr, sie zu retten und heimzubringen.«
Mit diesen einleitenden Worten erzählt der Verlag den Inhalt des Büchleins »Der Jugend möchte der Inhalt meiner Schilderungen besser ferngehalten werden«. Kinder, rein!
Thomas Mann hat einmal von einem Bahnbeamten erzählt, er habe in einer Nacht gar kein Eisenbahnunglück erlebt, sondern den Zeitungsbericht über ein Eisenbahnunglück. So auch der Dichter August Mies, Landsturmmann und Kriegsteilnehmer. »Na, Steuermann, beruhige dich, noch vier Stunden, und wir sind im sichern Hafen. – Aber halt, siehe da, gegen Südwest, ist dies nicht eine Rauchfahne?« Beide standen wie versteinert vor Schreck, beide sahen mit ihren Fernrohren nach dieser Stelle. »Heil, Wladimir, der Dampfer hat uns gemerkt …« So pflegen sich die Russen auf See zu unterhalten.
Was aber das Haremsleben türkischer Wüstlinge im Orient angeht, so ist selbes noch niemals mit einer solchen Bliemchenkaffeepoesie geschildert worden wie hier. Unwiderstehlich komisch, wie da orientalische Sinnenlust und preußische Organisation durcheinanderwirbeln. Es geht alles ganz ordentlich vor sich. Ein Kapitel heißt: »Wie man Eunuche wird« (wahrscheinlich eine Gebrauchsanweisung), – einer wird »Zum Obereunuchen befördert«, und auch sonst ist es lebensgefährlich. »Als dieser nun sah, daß Mohammed kein Eunuche, sondern ein Mann war, nahm er seine stets bei sich tragende Pistole und schoß Mohammed auf der Stelle nieder.« Die edle Tatjana aber bleibt keusch und unberührt inmitten all des Greuels. Zwar mußte sie den wildesten Ausschweifungen zusehen, aber: »Sie zog sich Beinkleider an, wickelte sich kreuz und quer Tücher um ihren Unterleib und hielt Aspirin bereit. Wenn auch so ein hoher Herr lüstern ist, aber vor einer kranken Frau hat er Abscheu.« Tatjana wußte schon, warum sie sich so schützte, denn die Türken, das sind ja dolle Nummern! Was sehen meine entzündeten Augen –? »Entkleide dich«, befahl er, welchem Verlangen dieselbe sofort nachkam.« Kinder, wieder raus.
Die anstößigen Stellen des Buches sind mit erfreulicher Diskretion gemildert, die Vorgänge der wilden Sinnenlust hat der Verfasser in das geliebte Papierdeutsch übertragen, wodurch sie etwas abgeklärt Registrierendes bekommen. Einmal entschuldigt er sich geradezu.
Er hat, durch einen Eunuchen geführt, die Hakori, die Liebesnacht seines Effendis, mitangesehen. Seine Tatjana, die er aus dem Harem befreit hat, fragt ihn eifersüchtig, wo er denn nachts gewesen sei. Er sagt es ihr. »Höre auf, deiner Erzählung bedarf es nicht, du hast heute nacht dem Hakori beigewohnt.« – »Wie meinst du das, daß ich beigewohnt oder zugesehen habe?« – »Natürlich zugesehen. Ja, mein Lieber, zu diesem Treiben war ich immer schwer krank. Einen Ekel empfinde ich, wenn ich nur daran denke, und du siehst zu?« Und nun der brave Landsturmmann: »Nicht aus Wollust, liebe Tatjana, sondern nur um das in der Heimat schwebende Dunkel etwas zu lüften!« Das kann jeder sagen. Wenn das seine Alte liest, dann glaubt sie es ihm doch nicht, und er bekommt sicherlich mit dem Besen.
Aber es sind auch allgemein gültige Betrachtungen in dem Büchlein. »Was ist ein Mensch neben einer Pyramide?« Wie wahr! Und wie erschütternd ist nicht jene Szene, in der der Vater des Eunuchen bedauert, denselben zu einem solchen gemacht zu haben und das Geschehene rückgängig machen will! Dahin, dahin! Denn das wäre das Ei des Kolumbus.
Schließlich kommt der Landsturmmann und Kriegsteilnehmer nach Odessa und liefert seine Tatjana, die frühere Haremsdame, zu Hause ab … Die Courts-Mahler steht beim Einzug ein bißchen Pate. Tatjana hatte als Haremsdame den Namen Hakara bekommen. »Nun ließ sich aber die frühere Haremsdame nicht mehr Hakara titulieren. »Nein, mein Lieber, jetzt mußt du mir schon meinen früheren Namen gönnen: Fräulein Tatjana Borewitsch.« – »Aber wenn ich bloß Tatjana sage, bist du da zufrieden?« – »Aber selbstverständlich!« Mit diesem kleinen Geplänkel lief der Zug in Pultawa ein …« In Kiew ist große Hochzeit. Die Haremsdame heiratet, und der Landsturmmann bekommt viele Küsse, viele Wodkas und viele Rubel und fährt in die Heimat.
Als ich das Buch bis hieher gelesen hatte, zwinkerte ich erheblich. Was, August? du bist jahrelang mit diesem Haremsmädchen herumgezogen und willst uns nun einreden, du habest selbstlos, ohne einmal zu trinken, diesen Quell der Freude in seine Heimat transportiert? War Tatjana so keusch? Sie war es. Wenigstens dir gegenüber, August, denn am Schluß des Buches ist das Bild des Verfassers angebracht, und wenn er auch in Polen wohnt: Gott strafe mich, wenn er nicht sächselt. Er hat einen bunten Gummikragen und ein kleines Vorhemdbrettchen und einen geklebten Schlips und eine Brille und einen viereckigen Kopf. Du keusche Tatjana! »Der Verfasser ist früher jahrelang der Vorsitzende des Allgemeinen Stallschweizerbundes, Sitz Plauen, gewesen. Er besitzt umfangreiche Kenntnisse auf dem Gebiete der Rindviehzucht, und ihm unterstanden schon vor dem Kriege große Rinderbestände von weit über hundert Stück. Seine Fachkenntnisse auf diesem Gebiet waren die Ursache für die ihm gewordene in Kriegszeit als Auszeichnung geltende Abkommandierung nach der Türkei zwecks Verwaltung des dortigen großen Rindviehbestandes.« Daß der Mann nicht Reichstagspräsident geworden ist –!
Wonach also festzustellen, daß auch diesmal am deutschen Wesen die Welt genesen ist, und daß unsere Fahnen kulturell und siegreich über den Zeltharems türkischer Paschas geflattert haben. Bitte, erheben Sie sich von Ihren Sitzen und ehren Sie mit mir den Verfasser dieses aufschlußreichen Büchleins.
Die Griechen, die so gut wußten, was ein Freund ist, haben die Verwandten mit einem Ausdruck bezeichnet, welcher der Superlativ des Wortes »Freund« ist. Dies bleibt mir unerklärlich.
Friedrich Nietzsche
Als Gott am sechsten Schöpfungstage alles ansah, was er gemacht hatte, war zwar alles gut, aber dafür war auch die Familie noch nicht da. Der verfrühte Optimismus rächte sich, und die Sehnsucht des Menschengeschlechtes nach dem Paradiese ist hauptsächlich als der glühende Wunsch aufzufassen, einmal, nur ein einziges Mal friedlich ohne Familie dahinleben zu dürfen. Was ist die Familie?
Die Familie ( familia domestica communis, die gemeine Hausfamilie) kommt in Mitteleuropa wild vor und verharrt gewöhnlich in diesem Zustande. Sie besteht aus einer Ansammlung vieler Menschen verschiedenen Geschlechts, die ihre Hauptaufgabe darin erblicken, ihre Nasen in deine Angelegenheiten zu stecken. Wenn die Familie größeren Umfang erreicht hat, nennt man sie »Verwandtschaft«. Die Familie erscheint meist zu scheußlichen Klumpen geballt und würde bei Aufständen dauernd Gefahr laufen, erschossen zu werden, weil sie grundsätzlich nicht auseinandergeht. Die Familie ist sich in der Regel heftig zum Ekel. Die Familienzugehörigkeit befördert einen Krankheitskeim, der weit verbreitet ist: alle Mitglieder der Innung nehmen dauernd übel. Jene Tante, die auf dem berühmten Sofa saß, ist eine Geschichtsfälschung: denn erstens sitzt eine Tante niemals allein, und zweitens nimmt sie immer übel – nicht nur auf dem Sofa: im Sitzen, im Stehen, im Liegen und auf der Untergrundbahn.
Die Familie weiß voneinander alles: wann Karlchen die Masern gehabt hat, wie Inge mit ihrem Schneider zufrieden ist, wann Erna den Elektrotechniker heiraten wird, und daß Jenny nach der letzten Auseinandersetzung nun endgültig mit ihrem Mann zusammenbleiben wird. Derartige Nachrichten pflanzen sich vormittags zwischen elf und eins durch das wehrlose Telephon fort. Die Familie weiß alles, mißbilligt es aber grundsätzlich. Andere wilde Indianerstämme leben entweder auf den Kriegsfüßen oder rauchen eine Friedenszigarre: die Familie kann gleichzeitig beides.
Die Familie ist sehr exklusiv. Was der jüngste Neffe in seinen freien Stunden treibt, ist ihr bekannt, aber wehe, wenn es dem jungen Mann einfiele, eine Fremde zu heiraten! Zwanzig Lorgnons richten sich auf das arme Opfer, vierzig Augen kneifen sich musternd zusammen, zwanzig Nasen schnuppern mißtrauisch: »Wer ist das? Ist sie der hohen Ehre teilhaftig?« Auf der anderen Seite ist das ebenso. In diesen Fällen sind gewöhnlich beide Parteien davon durchdrungen, tief unter ihr Niveau hinuntergestiegen zu sein.
Hat die Familie aber den Fremdling erst einmal in ihren Schoß aufgenommen, dann legt sich die große Hand der Sippe auch auf diesen Scheitel. Auch das neue Mitglied muß auf dem Altar der Verwandtschaft opfern; kein Feiertag, der nicht der Familie gehört! Alle fluchen, keiner tuts gern – aber Gnade Gott, wenn einer fehlte! Und seufzend beugt sich alles unter das bittere Joch …
Dabei führt das »gesellige Beisammensein« der Familie meistens zu einem Krach. In ihren Umgangsformen herrscht jener sauersüße Ton vor, der am besten mit einer Sommernachmittagsstimmung kurz nach einem Gewitter zu vergleichen ist. Was aber die Gemütlichkeit nicht hindert. Die seligen Herrnfelds stellten einmal in einem ihrer Stücke eine Szene dar, in der die entsetzlich zerklüftete Familie eine Hochzeitsfeierlichkeit abzog, und nachdem sich alle die Köpfe zerschlagen hatten, stand ein prominentes Mitglied der Familie auf und sagte im lieblichsten Ton der Welt: »Wir kommen jetzt zu dem Tafellied –!« Sie kommen immer zum Tafellied.
Schon in der großen Soziologie Georg Simmels ist zu lesen, daß keiner so wehtun könne, wie das engere Kastenmitglied, weil das genau um die empfindlichsten Stellen des Opfers wisse. Man kennt sich eben zu gut, um sich herzinniglich zu lieben, und nicht gut genug, um noch aneinander Gefallen zu finden.
Man ist sich sehr nah. Nie würde es ein fremder Mensch wagen, dir so nah auf den Leib zu rücken, wie die Cousine deiner Schwägerin, à conto der Verwandtschaft. Nannten die alten Griechen ihre Verwandten die »Allerliebsten«? Die ganze junge Welt von heute nennt sie anders. Und leidet unter der Familie. Und gründet später selbst eine und wird dann grade so.
Es gibt kein Familienmitglied, das ein anderes Familienmitglied jemals ernst nimmt. Hätte Goethe eine alte Tante gehabt, sie wäre sicherlich nach Weimar gekommen, um zu sehen, was der Junge macht, hätte ihrem Pompadour etwas Cachou entnommen und wäre schließlich durch und durch beleidigt wieder abgefahren. Goethe hat aber solche Tanten nicht gehabt, sondern seine Ruhe – und auf diese Weise ist der Faust entstanden. Die Tante hätte ihn übertrieben gefunden.
Zu Geburtstagen empfiehlt es sich, der Familie etwas zu schenken. Viel Zweck hat das übrigens nicht; sie tauscht regelmäßig alles wieder um.
Irgend eine Möglichkeit, sich der Familie zu entziehen, gibt es nicht. Mein alter Freund Theobald Tiger singt zwar:
»Fang nie was mit Verwandtschaft an –
denn das geht schief,
denn das geht schief!«
aber diese Verse sind nur einer stupenden Lebensunkenntnis entsprungen. Man fängt ja gar nichts mit der Verwandtschaft an – die Verwandtschaft besorgt das ganz allein.
Und wenn die ganze Welt zugrunde geht, so steht zu befürchten, daß dir im Jenseits ein holder Engel entgegenkommt, leise seinen Palmenwedel schwingt und spricht: »Sagen Sie mal – sind wir nicht miteinander verwandt –?« Und eilends, erschreckt und im innersten Herzen gebrochen, enteilst du. Zur Hölle.
Das hilft dir aber gar nichts. Denn da sitzen alle, alle die andern.
Man sollte mal heimlich mitstenographieren, was die Leute so reden. Kein Naturalismus reicht da heran. Gewiß: in manchen Theaterstücken bemühen sich die Herren Dichter, dem richtigen Leben nachzuahmen – doch immer mit der nötigen epischen Verkürzung, wie das Fontane genannt hat, der sie bei Raabe vermißte, immer leicht stilisiert, für die Zwecke des Stücks oder des Buchs zurechtgemacht. Das ist nichts.
Nein, man sollte wortwörtlich mitstenographieren – einhundertundachtzig Silben in der Minute – was Menschen so schwabbeln. Ich denke, daß sich dabei folgendes ergäbe:
Die Alltagssprache ist ein Urwald – überwuchert vom Schlinggewächs der Füllsel und Füllwörter. Von dem ausklingenden »nicht wahr?« (sprich »nicha?«) wollen wir gar nicht reden. Auch nicht davon, daß: »Bitte die Streichhölzer!« eine bare Unmöglichkeit ist, ein Chimborasso an Unhöflichkeit. Es heißt natürlich: »Ach bitte, sein Sie doch mal so gut, mir eben mal die Streichhölzer, wenn Sie so freundlich sein wollen? Danke sehr. Bitte sehr. Danke sehr!« – so heißt das.
Aber auch, wenn die Leute sich was erzählen – da gehts munter zu. Über Stock und Steine stolpert die Sprache, stößt sich die grammatikalischen Bindeglieder wund, o tempora! o modi!
Das oberste Gesetz ist: der Gesprächspartner ist schwerhörig und etwas schwachsinnig – daher ist es gut, alles sechsmal zu sagen. »Darauf sagt er, er kann mir die Rechnung nicht geben! Er kann mir die Rechnung nicht geben! Sagt er ganz einfach. Na höre mal – wenn ich ihm sage, wenn ich ganz ruhig sage, Herr Wittkopp, gehm Sie mir mal bitte die Rechnung, dann kann er doch nicht einfach sagen, ich kann Ihnen die Rechnung nicht geben! Das hat er aber gesagt. Finnste das? Sagt ganz einfach …« in infinitum.
Dahin gehört auch das zärtliche Nachstreicheln, das manche Leute Pointen angedeihen lassen. »Und da sieht er sie ganz traurig an und sagt: Wissen Sie was – ich bin ein alter Mann: geben Sie mir lieber ein Glas Bier und eine gute Zigarre!« Pause. »Geben Sie mir lieber ein Glas Bier und eine gute Zigarre. Hähä.« Das ist wie Selterwasser, wenn es durch die Nase wiederkommt …
Zweites Gesetz: die Alltagssprache hat ihre eigene Grammatik. Der Berliner zum Beispiel kennt ein erzählendes Futurum. »Ick komm die Straße langjejangn – da wird mir doch der Kuhkopp nachbrilln: Un vajiß nich, det Meechen den Ring zu jehm! Na, da wer ick natierlich meinen linken Jummischuh ausziehen un ihn an Kopp schmeißn …«
Drittes Gesetz: Ein guter Alltagsdialog wickelt sich nie, niemals so ab wie auf dem Theater: mit Rede und Gegenrede. Das ist eine Erfindung der Literatur. Ein Dialog des Alltags kennt nur Sprechende – keinen Zuhörenden. Die beiden Reden laufen also aneinander vorbei, berühren sich manchmal mit den Ellenbogen, das ist wahr – aber im großen ganzen redet doch jeder seins. Dahin gehört der herrliche Übergang: »Nein.« Zum Beispiel:
»Ich weiß nicht (sehr wichtige Einleitungsredensart) – ich weiß nicht: wenn ich nicht nach Tisch meine Zigarre rauche, dann kann ich den ganzen Tag nicht arbeiten.« (Logische Lässigkeit: es handelt sich um den Nachmittag.) Darauf der andere: »Nein.« (Völlig idiotisch. Er meint auch gar nicht: Nein. Er meint: mit mir ist das anders. Und überhaupt …) »Nein. Also wenn ich nach Tisch rauche, dann …« folgt eine genaue Lebensbeschreibung, die keinen Menschen interessiert.
Viertes Gesetz: Was gesagt werden muß, muß gesagt werden, auch wenn keiner zuhört, auch, wenn es um die entscheidende Sekunde zu spät kommt, auch wenns gar nicht mehr paßt. Was so in einer »angeregt plaudernden Gruppe« alles durcheinander geschrien wird – das hat noch keiner mitstenographiert. Sollte aber mal einer. Wie da in der Luft nur für die lieben Engelein faule Pointen zerknallen und gute auch, wie kein Kettenglied des allgemeinen Unterhaltungsgeschreis in das andere einhakt, sondern alle mit weitgeöffneten Zangen etwas suchen, was gar nicht da ist: lauter Hüte ohne Kopf, Schnürsenkel ohne Stiefel, Solo-Zwillinge … das ist recht merkwürdig.
Ungeschriebne Sprache des Alltags! Schriebe sie doch einmal einer! Genau so, wie sie gesprochen wird: ohne Verkürzung, ohne Beschönigung, ohne Schminke und Puder, nicht zurechtgemacht! Man sollte mitstenographieren.
Und das so Erraffte dann am besten in ein Grammophon sprechen, es aufziehen und denen, die gesprochen haben, vorlaufen lassen. Sie wendeten sich mit Grausen und entliefen zu einem schönen Theaterstück, wissen Sie, so eines, Fritz, nimm die Beine da runter, wo man so schön natürlich spricht, reine wie im Leben, haben Sie eigentlich die Bergner, find ich gar nicht, na also, mir ist sie zu …
Man sollte mitstenographieren.
»Ist Frau Zinschmann zu Hause –?« fragte der Mann, der geklingelt hatte. Das kleine, runde Kind stand da und steckte die Faust in den Mund. »Aaaoobah –«
»Hier hängt se. Wat jibbs 'n –?« sagte die Frau des Hauses. Der Mann an der Tür machte eine Art Verbeugung. »Komm Se man rin«, sagte die Frau. »Es is woll weejn den Jas. Ja, bester Herr …!«
»Es ist nicht des Gases wegen«, sagte der Mann und ließ das Hochdeutsch auf der Zunge zergehen. »Ich komme vom Kriegerverein aus – von Vereins wegen, sozusagen. Sie wissen ja, Frau Zinschmann, der Kriegerverein, dem Ihr Mann angehört. Ja. Es ist wegen … Wir haben beschlossen, daß wir eine Umfrage machen, wie die Frauen unsrer alten Kameraden über die Lage denken … Und auch etwaige Beschwerden zu sammeln. In betreffs der politischen Lage. So ist das.«
»Ja, also was diß anjeht,« sagte Frau Zinschmann und jagte die Katze von der Kommode, »mit Polletik befaß ick mir ja nun jahnich. In keine Weise. So leid es mir tut. Nehm Se Platz.«
»Unrecht von Ihnen, sehr unrecht von Ihnen, liebste Frau Zinschmann. Die Politik greift auch in das Leben der Frau tief hinein.«
»Entschuldjn Se man, det ick Ihnen unterbrechen due – aber wat hier so anjebrannt riecht, det is man bloß die Milch. Es is Magermilch, aba stinken dut se …! Aber wat wollten Sie sahrn –?«
»Ich meinte: sie greift hinein. Und seit unser ehrwürdiger Präsident Hindenburg an der Spitze dieses Staatswesens steht, ists besser um uns bestellt.«
»Na ja«, sagte Frau Zinschmann. »Er ist ja auch man erscht kurze Zeit Da. Der ewije Wechsel – Det is ja ooch nischt. Wissen Se, da, wo ick frieha reinejemacht habe, bei Hackekleins, Drekta Hackeklein, Se wern velleicht von den Mann jeheert ham – da hatten se 'n Meechen, mit der wahn se ja nu jahnich zefriedn. Erst jingt ja: Emma hinten und Emma vorn, aber Denn waht Doch nischt. Nu ham se doch die Lina jemiet, die, die de da bei Rejierungsrats jesient hatte. Fuffzehn Jahr wah se Da – keen Mensch im Hause hätte jedacht, det se da ma wechmachen täte. Denn hatte Der Olle Pech, er fiel De Treppe runta und wurde pensioniert, Da jing se, Knall und Fall jing se bei Hackekleins. Se saachte: wen se bekochte, sacht se, det wär se janz eejal. Ja, det is nu die Neie. Aber wissen Se: besser kochn dut se ooch nich.«
»Gewiß sind diese Hausangestellten in ihren Dienstobliegenheiten oft nicht recht zufriedenstellend«, sagte der Mann. »Wenngleich … immerhin ist ein Mensch wie unser Außenminister Stresemann …«
»Otto!« schrie Frau Zinschmann durch das offene Fenster. »Wißte runta von de Schaukel! Der Limmel sitzt den janzen Tach nischt wie uff de Schaukel!« Und, zum Gast gewendet: »Un dabei kann er nich mal richtich schaukeln –! Aba ick habe Ihn untabrochn!«
»Ich wollte sagen: Die Richtlinien unsrer äußern Politik passen sich nur schwer den wirtschaftlichen Belangen an. Der Feindbund … Aber Da haben wir ja unsre herrliche Reichswehr mit einem doch recht tatkräftigen Minister und einem Manne, der ihm zur Seite steht …«
Zwei brüllende Kinder brachen in das Zimmer ein. »Mutta! Mutta!« schrie der größere Junge. »Orje haut ma imma! Er sacht, ick soll mir in Mülleima setzen un Die Wacht am Rhein blasn! Wir spieln Solfatn. Ick will aba nich in Mülleima sitzn, Mutta!« – »Woso laßt du dirn det jefalln, du oller Dösknochen! Oller Schlappschwanz – do!« Der Junge zog ein kräftiges Licht hoch und sagte: »Wo er doch mein Vorjesetzta is –«
»Entschuldjen Se man«, sagte Frau Zinschmann und warf die Jöhren wieder heraus. »Son langer Lulatsch und noch so dammlich. Herrjott –! Wie meintn Se soehmt?«
»Ja, sehen Sie, Frau Zinschmann, es ist ja Vieles faul in dieser – ehimm – Republik. Aber, Gott sei Dank, unser altes preußisches Richtertum, das hält doch noch stand. Das hält stand.«
»Ach, hörn Se mal,« sagte Frau Zinschmann, »wo Se nu doch vom Vaein sind – könn Se ma da valleicht 'n Rat jehm …? Also – da is doch det Froklein Hanschke, die von dritten Stock, newa –? Wissen Se, wat die is? Wo wir hier alleene sind, kann icks Ihnen ja sahrn: also eine janz jeweehnliche, also det is eene, die, wissen Se, wenn da eena kommt und – also so eene is det. Und nu, seit eine ßwei, drei Jahre … da tut sie so fein und tritt uff int Haus und hat sich feine Pelze anjeschafft, ick weeß nich, wovon. Na, neilich, wie se hier langjemacht kam, da haak se nachjerufn: Ham Se sich man nich so, Sie olle Vohrelscheuche! Ohm 'n Pelz und 'n Ding uffn Kopp – aber unten die alten Beene kucken doch raus! Sahrn Se mal: is det strafbar –? Newa, det is doch nich strafbar? Wa? Na, wollt 'ck meen …!«
»Ihr Mann hat doch gar keine Verbindung mehr mit den Sozialdemokraten?« nahm der Vereinsabgesandte das Gespräch wieder auf. »Diese verdammten Roten …«
»Na allemal. Nee – Hujo seht da nich mehr hin, er saacht, et lohnt nich. Neilich, in die kleene Kneipe, wo se imma ham ihrn Zahlahmt, da ham se Zwei mächtig vahaun – det wahrn sonst anständche Jeste. Un vatobackt ham sie die! A richtich! 'n nächsten Morjen ham se noch uff'n Hof jelejn. Der Wirt wollt se nich so uff de Straße raustrahrn – bei den Hundewetter … Det is 'n Jemiet, is der Mann. Ja, un wissen Se: 'n nächsten Morjn – da ham die Beedn doch von jahnischt jewußt! I! die kam ausn Mustopp. So war det.«
»Ja«, sagte der Mann und trocknete sich mit einem Taschentuch die Stirn. »Die sozialdemokratische Bewegung – das is so eine Sache. Nur gut, daß wir den ehernen Wall der Gutsbesitzer haben! Das Land, Frau Zinschmann! Die preußische, die deutsche Erde –!«
»Entschulden Se 'n kleen Momang!« sagte Frau Zinschmann. »Ick heer die Katze wirjn; det Aas hat sich wieda ibafressn. Wissen Se: die frißt, bis se platzt – un denn schreit se vor Hunger! Wißtu! Husch, husch! Pusch! Wat sagten Sie doch jleich –?«
»Ja, ich meine: wir wollen zusammenhalten, bis wieder einst bessere Zeiten herankommen, herrliche Zeiten, Frau Zinschmann! Frontgeist wirds schaffen!«
»Na jewiß doch. Na allemal. Da draußen nach den Rummel missn Se jahnich nach hinheern – des sind Meßackers ihre, 'ne dolle Bande! Siehm Jungs. Aber ick kenn se: jroße Schnauze un nischt dahinter.«
»Nun, Gott befohlen, Frau Zinschmann! Eine schwarz-weiß-rote Fahne haben Sie doch im Hause?« fragte der Mann, der schon auf der Treppe stand.
»Ja, Huro hat eene«, sagte Frau Zinschmann. »Sehn Se sich da draußen vor – det Jeländer is frisch jestrichn, un die alte Farbe kommt imma wida durch. Die neue doocht nischt – et müßte mal ibajestrichn wern! Und nischt fir unjut, Herr Sekatär, nischt für unjut –! Denn sehn Se mal, also mit Polletik – da befasse ick mir nu jahnich –!«
Südamerika ist krumm.
Joh. Aug. Galletti 1770-1828
Beschäftigt mit meinem Werk: »Die Hämorrhoiden in der Geschichte des preußischen Königshauses«, blätterte ich neulich versonnen in einem Katalog der Staatsbibliothek. Das ist eine freundliche Arbeit. Schon nach vier Seiten hat mein geübtes Philologengehirn vergessen, wozu ich eigentlich hergekommen bin, und strahlend versenke ich mich in das Meer von Geschreibsel. Einmal bin ich auch auf mich selber gestoßen – Es gibt den Ausspruch eines hannoverschen Bauern, der den dummen Streichen der Studiker zusieht: »Wat se all maket, die Studenten!« Wat se wirklich all maket … Wenn die Deutschen keine Geschäftsordnungsdebatten abhalten, scheinen sie Bücher geschrieben zu haben. Hier ist es schön still, in der Bibliothek. Draußen klingeln die Bahnen: hier muffeln kurzsichtige Professoren in dicken Wälzern, freundliche, wenn auch großfüßige Mädchen laufen hin und her, die Bibliothekare sehen sauer aus, als wollten sie alle Studenten, die nicht Bescheid wissen, auffressen – eine Insel der Seligen.
Und wie ich da so blättere, stoße ich auf »Gallettiana«. Was ist das? Wer ist Galletti? Ein Druckfehler für Valetti? Ich bat um das Buch.
Das Buch heißt so: »Gallettiana. Unfreiwillige Komik in Aussprüchen des Professors Joh. G. Aug. Galletti. Mit einem Bildnis Gallettis.«
Dieser Galletti war Professor am Gothaer Gymnasium, und seine bei ihm geblüht habenden Kathederblüten sind in dem Büchelchen gesammelt. Es ist herrlich.
Wissen Sie noch? Wir saßen da, ließen langsam, aber sorgfältig eine lange Bahn Tinte die Bank herunterlaufen und bohrten zwischendurch ernsthaft in der Nase. Es war zum Sterben langweilig. Anstandshalber konnte man nicht immerzu nach der Uhr sehen. Fünf Minuten vor halb – das war ein Schicksalswort. Bring die ältesten deutschen Männer auf ihre Schulzeit zu sprechen, und du wirst in den meisten Fällen ein Wachsfigurenkabinett verschrullter Tröpfe vorgeführt bekommen, die übrigens jetzt so sachte aussterben; die von heute sind farbloser. Aber wir wollen nicht vom deutschen Schulmeister sprechen – sondern von Galletti. Von Galletti, den wir alle gekannt haben, weil in jeder Schule einer gewesen ist. Dieser war so:
Er liebte die überraschenden Dicta. »Gotha ist säbelförmig gebaut.« Bumm. Da weiß man doch. Und man sieht ordentlich das Surren, das durch die Klasse geht, wenn das Gehirn da vorn überlief und folgendes zutage förderte: »Als Humboldt den Chimborasso bestieg, war die Luft so dünn, daß er nicht mehr ohne Brille lesen konnte.« Das sind gar keine Witze mehr – das ist wirklich die Luft dieser Schulstuben, die übrigens am besten in jener deutschen Humoreske »Der Besuch im Karzer« eingefangen ist – neben der »Meyerias« ein Meisterstück dieses Genres. Und darauf wieder Galletti: »Die Afghanen sind ein sehr gebirgiges Volk.«
Er macht nicht nur die üblichen Schwupper – es sind mitunter geradezu nestroyhafte Sätze, die jener von sich gegeben hat. »Die Zimbern und Teutonen stammen eigentlich voneinander ab.« Mit Recht. Und besonders hübsch, wenn sich Papierdeutsch mit einer falschen Vorstellung mischt: »Karlmann verwechselte das Zeitliche mit dem Geistlichen und starb.« Man kann es nicht kürzer sagen. Und sollte dieses hier Ironie sein: »Maria Theresia hatte bei ihrer Thronbesteigung viele Feinde: die Preußen, die Russen und die Österreicher«? Nein, er ist sicherlich ein unpolitischer Untertan gewesen, der Professor Galletti, so, wie ihn die Regierung brauchte, und nichts wird ihm ferner gelegen haben als ein Spaß, den er sich niemals mit so ernsthaften Dingen zu machen erlaubt hätte. Hier gehts bei weitem nicht so tief wie bei dem, was die Lehrer an dem einzigen Schulvormittag Hanno Buddenbrooks sagen, jenem Vormittag, darin die ganze deutsche Schule eingefangen ist – hier schlägt nur einer Kobolz. Und da hörten sicherlich die frechsten Ruhestörer auf, Klamauk zu machen. Weil sie lachen mußten.
»Maximilian der Erste hatte die Hoffnung, den Tron auf seinem Haupt zu sehen.« Er wollte natürlich sagen: sich auf die Krone zu setzen; aber man kann sich irren. »Sie kriegten den Grumbach her, rissen ihm das Herz aus dem Leibe, schlugen es ihm um den Kopf und ließen ihn laufen.« Und das wird nur noch von der unbestreitbaren Weisheit übertroffen: »Wäre Cäsar nicht über den Rubikon gegangen, so läßt sich gar nicht absehen, wohin er noch gekommen wäre.« Bei Gott: so war es.
Und abgesehen davon, daß es manchmal etwas wild hergeht: »Erst tötete Julianus sich, dann seinen Vater und dann sich« und: »Richard der Dritte ließ alle seine Nachfolger hinrichten« – am schönsten strahlt doch der »gewaltige Leuhrer« (so nannte sich unser Professor Michaelis immer und wir ihn auch, und Gott segne ihn, wenn er dieses hier liest!), am stärksten manifestiert sich das Gestirn Galletti, wenn er persönlich wird. Das ist gar nicht zu übertreffen.
»Der Lehrer hat immer recht, auch wenn er unrecht hat.« Lachen Sie nicht: das glaubt jeder preußische Schulrat – und so sieht er auch aus. »Als ich Sie von fern sah, Herr Hofrat Ettinger, glaubte ich, Sie wären Ihr Herr Bruder, der Buchhändler Ettinger, als Sie jedoch näherkamen, sah ich, daß Sie es selbst sind – und jetzt sehe ich nun, daß Sie doch Ihr Herr Bruder sind!« Na, Onkel Shakespeare? »Ich bin so müde, daß ein Bein das andere nicht sieht.« Na, Onkel Nestroy? Und dann, ganz Pallenbergisch: »Ich statuiere mit Kant nicht mehr als zwei Kategorien unseres Denkvermögens, nämlich Zaum und Reit – ich wollte sagen: Raut und Zeim.« Und wenn dann die Klasse nur noch röchelte, dann fügte er hinzu: »Ich, der Herr Professor Uckert und ich – wir drei machten eine Reise«, und dann prustete wohl selbst der Primus seine Bank voll. Bis der Lehrer aufstand, sagte: »Nächsten Dienstag ist Äquator« und das Lokal verließ.
Gewiß blühten in dem Tintengärtlein auch Kathederblüten. »Bei den Israeliten waren die Heuschrecken, was bei uns der Hafer ist« – das ist eine. Auch: »In Nürnberg werden viele Spielsachen verfertigt, unter andern auch Juden« – eine tiefe Weisheit. Aber er war doch ein Philosoph, der Herr Professor Galletti. »Das Schwein führt seinen Namen mit Recht – denn es ist ein sehr unreinliches Tier.« Heiliger Mauthner, was sagst du nun? Daß das schon bei dem großen Lichtenberg steht –? Und wirklich erledigend ist dieser Ausspruch: »Die Gans ist das dümmste Tier; denn sie frißt nur so lange, als sie etwas findet.«
Ja, so war das. Natürlich hat das mit den richtigen Büchern von der Schule nichts zu tun: nichts mit meinem Lieblingsbuch Philippe Monniers: »Blaise, der Gymnasiast«, nichts mit jener Schulgeschichte Heinrich Manns, nichts mit Freund Hein, nichts mit Hermann Hesse – dieser Galetti ist nur ein Stückchen Menschen-Original gewesen.
Entschuldigen Sie, daß ich Sie aufgehalten habe. Sie werden zu tun haben – nein, bitte, lassen Sie sich nicht stören. »Die Berliner«, habe ich neulich zu meiner größten Freude bei Alfred Polgar gelesen, »sind alle intensiv mit ihrer Beschäftigung beschäftigt«. Sie sicherlich desgleichen.
Und auch ich muß gehen. Ich werde schleunigst von diesen »fremden Dingen«, von diesen Allotriis abstehen und zu meiner ernsthaften Arbeit zurückkehren. Zu den Hämorrhoiden und ihren Hohenzollern. Ein Thema, wert, daß es behandelt werde. Denn wohinein steckt der deutsche Historiker am liebsten seine Nase –?
Auf Wiedersehn.
Meine Freundin Grete Walfisch hat mir aus dem völkerversöhnenden Locarno einen Notizkalender geschickt, den man in die Tasche stecken kann. Ich habe darin geblättert und sogleich des alten, schönen Berliner Liedes gedacht:
Ich gucke einmal,
ich gucke zweimal –
Ich denk: Nanu?
da hat doch einer dran gedreht …?
Das Ding ist in deutscher Sprache verfaßt, unzweifelhaft – aber irgend etwas in der Druckerei muß feucht geworden sein: der Verfasser, das Papier oder der Setzer … es ist eine Art Privatdeutsch. So:
Über »Angaben und Rezepten über einfache Tierarzneikunde«, wobei zu merken: »Zur Vernichtung der Lause« und »Zur Entfernung der Fliegen« treten wir in den Jahreskalender, der durch allgemein belehrende Angaben und fromme Sprüche geziert ist. Da hätten wir im Januar die »Sieben Wunder der Welt«, unter denen an erster Stelle die »Längenden Görten von Semiramis« hängen, an fünfter aber der »Koloß von Rhodus, der in dem Hafen als Leuchtturm diente«. Der Koloß schillert in allen Artikeln. »Er war zirka 40 Meter hoch. Durch ihre Beine fuhren die größten Schiffe mit vollen Segeln.« Durch dem Koloß seine.
Die eingestreuten Sentenzen sind unbestreitbar richtig, wenn auch nicht immer zur Gänze verständlich. »Wer bitter im Munde hat, kann nicht süßpricken« – wie wahr! und weil schön dunkel, so doppelt beachtenswert … Auch: »Die Rosen fallen ab, die Dörner bleiben« enthält eine schwermütige Lebensweisheit, die uns überall weiterhilft, nur nicht in der Küche. In der Küche helfen Kochrezepte. Zum Beispiel dieses: »Würste mit Eiern.«
»Nehmet die Würste eine nach der andern, schneidet sie in der Länge und setzt sie zum Kochen in eine ungeschmierte Brandpfanne: sind dieselben zu mager, so kann man sie mit einen bißchen Butter kochen. Sobald die Würsten gekocht sind, wirft darauf die geschüttelten Eier und nachdem diese gerinnt sein werden, schickt die Speise ganz warm auf den Eßtisch.« Das war ein merkwürdiger Vorgang.
Der ist aber gar nichts gegen das am Bratspieß geröstete Lamm.
»Der am Bratspieß geröstete Lamm. Nimmt ein ¼ Lamm« (man beachte die Subtilität der Gewichtsangabe!); »laßt ihm einige Stunden lang mit öhl, Pfeffer, Salz oder einem Tropfen Essig ausruhen. Durchbohrt ihm da und dort mit einer Messerspitze. Zieht ihm auf den Brandspieß mit einem Ästchen Rosmarin, und schmiert ihm öfters mit der obgenannten Flüssigkeit, bis er gekocht ist. Bevor ihn zu servieren nimmt das Ästchen Rosmarin weg.« Ob es Hammelbraten wird, was da herauskommt, ist eine andre Frage; aber es ist sicherlich die tierfreundlichste Art, ein Lamm zu braten. Nie noch hat ein Koch daran gedacht, ein Lamm bei solcher Prozedur ausruhen zu lassen.
So blättere ich und lerne die »Embleme der Farbe«, zum Beispiel: »Dunkelpomeranzenfarbig: Genugtuung, Ruhmlieben«; kluge Sätze allgemein gültiger Lebenserfahrung: »Der Mensch spinnt an, der Zufall webt«, und am allerschönsten ist es, wenn ich überhaupt nicht mehr weiß, was gemeint ist. Dann leuchtet die deutsche Sprache wie der Mond hinter den Wolken hervor, und ich denke darüber nach, ob wir Vollmond haben oder Mittelmond oder Jungmond; es ist ein Deutsch wie frisch aus dem Lexikon, die einzelnen Wörter gibt es, aber es ist keine Sprache. Nun, laßt uns hier nicht von der modernen und mondainen Literatur sprechen, sondern im bescheidenen Kalender aus Locarno blättern – denk du an deine Liebe, ich denk an meine, und beherzigen wir den Spruch auf Seite 22, links unten:
»Liebe ist nicht ohne bitter.« Wem sagt der Kalender das!
Der seltsamste Mensch, dem ich in meinem Leben begegnet bin, ist ein Bankangestellter aus der Provinz Brandenburg gewesen, ein geborener Berliner. Dieser Mann war ein Dichter, ohne ein Wort schreiben zu können.
Schon die Fähigkeit, eine Figur auf die Beine zu stellen und sie ihre Sprache sprechen zu lassen, ist nicht sehr verbreitet. Dieser rätselhafte Bursche aber entwickelte seine Figuren aus der Sprache, und zwar aus der berlinischen. Die Bank hatte kleine Leute zu Kunden, vielleicht hatte von da sein Ohr die letzten Schwingungen des Tones aufgefangen, jene feinsten Nuancen, die nie ein Fremder trifft – aber er erzählte keine Berliner Witze, er erfand Leute, ließ sie ein paar Minuten leben und sprach dann von etwas anderem, als seien sie nie gewesen.
Vor allem konnte er sich in den gehobenen, organisierten, etwas kleinbürgerlichen Berliner Arbeiter verwandeln. So stand er etwa an einem imaginären Telephon und war der Telegraphenarbeiter, der den Apparat kontrollierte. Das Gemisch von technischem und privatem Gerede war kostbar. »Jehm Se mah die Leitung B, Frollein!« Pause. »Ja, hier Schmorrke, Bautrupp III. Frollein, wie is die Vaständjung? Nein. Franz, bist du da?« (Jetzt sprach er mit einem Kollegen und riskierte eine kleine Privatunterhaltung, übrigens ohne den Ton zu wechseln, diesen etwas mürrischen, trockenen, dussligen Ton.) »Ick sehe von hier direkt in de Bamberjerstraße. Nein – is aledicht. Hast du mit Rabener jesprochen, wejn die Picke? Wir wahn jestern in seine Laube – die Bohnen komm janz jut. Ick weeß nich, meine wolln nich wern. Nein, hier Störungssucher. Leitung A, Frollein …« Auf diese Art.
Er hatte das Berliner Tempo weg, aber nicht jenes falsch-amerikanische, mit dem so viel Unfug getrieben wird, sondern dieses ruhige, fast behäbige in aller Hast, das Pathoslose, er war der Mann mit dem hängenden Hosenboden, der mit zwei Kameraden an der Ecke steht, einer erzählt eine endlose Geschichte, die nie aufhört, und kein Aas hört zu. Und er saß um einen runden Stammtisch herum, wieder erzählte einer, und mitten drin, grade an der Stelle, auf die der Erzähler den größten Wert legte, zog jener sein Zigaretten-Etui heraus und sprach: »Paul hat welche ohne Banderole …«, was gleichermaßen die ganze Umwelt ignorierte und eine gewisse neidische Bewunderung für Paulen ausdrückte.
Einmal, im Winter, stand er nachdenklich vor dem Haus, in dem ich damals wohnte, es war spät abends, und er sah an der Fassade empor und sagte langsam, ohne jeden Zusammenhang und völlig aus einem unterirdischen Gedankengang heraus: »Machen laßt er nischt, der olle Jude. Aber Miete nehm, det kann er.« (Wobei zu bemerken wäre, daß der Wirt ein wilder Völkischer war.) Und dann fiel sein unzufriedenes Auge auf die großen Schneehaufen, die dort aufgehäuft waren. »Ick frahre nur: wo bleiben da die Arbeitslosen, frahre ick!« Und dann ging er zu etwas anderm über.
Einmal machte ich die Probe und bat ihn, alles zu sagen, was ihm zu dem Thema »Berliner Chauffeur« einfiele. Er sprach, und ich stenographierte; die Bogen liegen noch vor mir.
»Wenn se schon so uff die Uhr gucken, denn weiß ick, det sie sinn ausjemist! – Die sagen, ick hätte mir mit jestohlnen Benzin bereichert – det war aber meine Schwester ihre Beßiehung!« (Hierbei wie im folgenden ist besonders das schöne Schriftdeutsch zu beachten, das man im Berlinischen sehr häufig antrifft.) – »Nee, eene Person – det jeht heite nich. Da hab ick ja mehr Polster als Fahrjeste! Mein Motor is doch keen Badeofen!« – »Wenn ick stehe, und wart, denn will mir keener ham. Aber kaum det ick mal 'ne Bockwurst essen due, denn kommse an!« – Und nun, mit dem ganzen Berufsstolz des alten Fahrers: »Der Mann hat auf Doktor studiert, die Eltern ham sich was zusammenjescharrt, und nu denkt der Mann, er kann mir belehren. Auf keine Art kann er das. Niemals! sage ich zu den Herrn. Ick unterstelle mir, das frühestens zu konschtatiern. Die Herrnfahrer, wo nie jearbeitet ham – mitn Anlasser fahrn se, die feinen Herrn; watn richtcher Schofföhr is, der braucht seine Bremse nich – der richt sich ein! Man muß ehmt mit Jefühl schalten! Sone Maschine, det isn Orjanismus. Aber der – Hat mal rumjespielt an de Klingelleitung … nu meint der, er kann faahn …!« Und dann kam eine ganz wilde Geschichte aus dem intimsten Familienleben. »Wenn ick ahms nach Hause komme, denn stellt mir meine Braut imma die Milch ant Fensta – da is son kleenet Jitta. Der Wirt hat jesacht, sie hätte 'n Vahältnis mit Athua.« Entrüstetes Schnaufen. »Det is ja nischt wie Neid von den Mann!« Und das alles ganz langsam und ruhig, ohne die leiseste Überlegung, mühelos.
Das Allermerkwürdigste aber war, daß der Mensch noch etwas anderes sprechen konnte, bis zur Täuschung genau; wenn man die Augen schloß, sah man sie vor sich: die dicke, bewegliche, geschwätzige Frau aus dem Mittelstand des Berliner Westens. Dann nahm seine Stimme eine etwas kreischende Färbung an, er plapperte wie ein Papagei, der Redestrom floß über alle Ufer, hemmungslos, wie die Sintflut.
»Meine hat gestern wieder zwei Teller zerschlagen, von den guten. Nimmst du Eier in die Bouillon? Ich lasse sie nie allein mit den Eiern wirtschaften. Neulich …« Aber nun kam wirklich ein Dienstmädchen ins Zimmer, durchaus real und gleichgültig. Der Satz war wie mit der Schere abgeschnitten. In einem lächerlich gezierten und unnatürlichen Ton: »Die Butter wird ja jetzt auch immer teurer. Wir zahlen … Was zahlst du …?« Und, kaum war das Mädchen heraus: »Stiehlt deine –?«
Ich besinne mich noch sehr genau, wie wir einmal einen Kranken besuchten, der lag am Blinddarm danieder und hatte eine große Eisblase auf dem Bauch, er mußte ganz still liegen. Das erste Wort beim Entree lautete so: »Guten Tag! Hast du dir nicht den Blinddarm rausnehmen lassen? Jenny hat gesagt, sie läßt bei ihren Kindern sofort den Blinddarm rausnehmen! Bei Israel …!« Der Kranke fiel fast aus dem Bett, die Eisblase verrutschte, und wir mußten jenen hinaustun. Noch im Korridor hörten wir ihn schwabbern: »Wenn du mal 'ne billige Quelle für Krepteschiehn hast …«
Ich habe so etwas niemals wiedergesehn. Es gibt in der gesamten deutschen Literatur eine einzige Figur, die so berlinisch ist: das ist der Portier Quaquaro aus Hauptmanns »Ratten«, diesem berlinischsten Stück, das in einem völlig verfehlten Dialekt geschrieben ist, in einem Jargon, den es überhaupt nicht gibt, und in dem doch das ganze Herz dieser Stadt schlägt. Der hat das auch: die filzenen Schuhe, den Bauch, die Mischung von Roheit, Sentimentalität und Kleinbürgertum, die Ruhe weg … »Immer anzeijn, Herr Doktor, immer anzeijn …« Man riecht den Burschen.
Der Bankbeamte ist nicht imstande, einen guten Brief zu verfassen. Er »labert« das so vor sich hin, wie die Schlesier sagen, denkt sich vielleicht sein Teil dabei …
Und ich höre immer noch die rauhe, etwas kehlige Stimme, mit der er einmal in der Siegesallee sagte: »Ick bin jewiß in meine Jewerkschaft als radikaler Mann bekannt. Aber wenn ick det hier allens so ansehe, da muß ick doch sahrn: Ordnung muß sein, Herr Doktor! Ordnung muß sein –!«
»Sie sind der ungeborene Peter Panter –?« sagte der liebe Gott und strich seinen weißlichen Bart, der stellenweise etwas angeraucht war. Ich schwamm als helle Flocke in meinem Reagenzgläschen und hüpfte bejahend auf und nieder. »Für Sie gibt es drei Möglichkeiten«, sagte der himmlische Vater und zerdrückte in unendlicher Güte eine Wanze, die ihm über das Handgelenk lief. »Drei Möglichkeiten. Wollen Sie sie bitte überprüfen und mir dann mitteilen, welche Wahl Sie getroffen haben. Es liegt uns viel daran, bei dem herrschenden Streit zwischen Deterministen und Indeterministen es mit keiner von beiden Parteien zu verderben. Suchen Sie hier oben aus, was Sie einmal werden wollen – unten können Sie nachher nichts dafür. Bitte.« Der alte Mann hielt mir einen großen Pappdeckel vor das Gläschen, auf dem stand zu lesen:
Peter Panter (1. Verarbeitung). Geboren am 15. April 1889, als Sohn armer, aber gut desinfizierter Eltern, zu Stettin auf der Lastadie. Vater: Quartalssäufer, das Jahr hat fünf Quartale. Mutter: Abonnentin des Berliner Lokal-Anzeigers. Studiert das Tierarzneiwesen in Hannover und wird 1912 städtisch approbierter Kammerjäger in Halle. Zwei Frauen: Annemarie Prellwitz, edel, Schneckenfrisur, in Flanell (1919-1924); Ottilie Mann, sorgfältig, korrekt, von großem Gebärfleiß, in Ballonleinen (1925-37). Vier Söhne; danach Anschaffung eines deutschen Perserteppichs. 1931: Reinigung des Bartes von Hermann Bahr, Bahr kommt heil davon, P. wird katholisch. Wird im Juni 1948 nach Wien berufen, um die Wanzen, die sich in der Feuilletonredaktion der »Neuen Freien Presse« angesammelt haben, zu vertilgen. Da die Operation selbstverständlich mißlingt, wird Kammerjäger P. trübsinnig. Hört in dieser Geistesverfassung am 20. April 1954 einen Keyserling-Vortrag. Tod: 21. April. Panter geht mit den Tröstungen der katholischen Kirche versehen dahin, nachdem er kurz zuvor mit großem Appetit ein Mazze-Gericht verzehrt hat. Beerdigungswetter: leicht bewölkt, mit schwachen, südöstlichen Winden. Grabstein (Entwurf: Paul Westheim): 100,30 Mark, Preis des (Marmors: 100 Mark. Stets in Ehren gehaltenes Andenken: acht Monate.
*
»Nun –?« sagte der liebe Gott. »Hm –«, sagte ich.
Und las weiter:
Peter Panter (2. Verarbeitung). Geboren am 8. Mai 1891 als ältester Sohn des Oberregierungsrats Panter sowie seiner Ehefrau Gertrud, geborener Hauser. Das frühgeweckte Kind hört schon als Knabe auf dem linken Ohr so schwer, daß es für eine Justizcarriere geradezu prädestiniert erscheint. Tritt in das Corps ein, in dem ein gewisser Niedner alter Herr ist –
Der liebe Gott behakenkreuzigte sich. Ich las weiter:
– und bringt es bald zu dem verlangten korrekt-flapsigen Benehmen, das in diesen Kreisen üblich ist. 1918: Kriegsassessor, gerade zu Kaisers Geburtstag. Schwört demselben ewige Treue. 1919: Hilfsbeamter im Staatskommissariat für öffentliche Ordnung; der Staatskommissar Weismann sitzt, aus altpreußischer Schlichtheit, in keinem Fauteuil, sondern auf einer Bank und hält dieselbe Tag und Nacht. Landgerichtsrat Panter leistet der Republik die größten Dienste sowie auch ihrem Präsidenten. Schwört demselben ewige Treue. Beteiligt sich 1920 am Kapp-Putsch, berät Kapp in juristischen Fragen und schwört demselben ewige Treue. Durch das häufige Schwören wird man auf den befähigten Juristen aufmerksam und will ihn als obersten Justitiar in die Reichswehr versetzen. Inzwischen wird Rathenau ermordet, weshalb die Republik einen Staatsgerichtshof über sich verhängt, wo ohne Ansehen der Sache verhandelt wird. Dortselbsthin als Richter versetzt, verstaucht er sich im Jahre 1924 beim Unterschreiben von Zuchthausurteilen gegen Kommunisten den Arm. Eine Beerdigung entfällt, da ein deutscher Richter unabsetzbar ist und auch nach seinem Tode noch sehr wohl den Pflichten seines Amtes nachkommen kann.
*
»Wie kann man so tief sinken –!«, sagte der liebe Gott, weil ich inzwischen auf den Boden des Reagenzgefäßes gekrochen war. Ich wackelte mit dem Schwänzchen, der liebe Gott erriet richtig »Nein!«, bedavidsternte sich und gab mir
zu lesen:
Peter Panter (3. Verarbeitung). Geboren am 9. Januar 1890 zu Berlin mit Ungeheuern Nasenlöchern. Seine Tante Berta umsteht seine Wiege und hat es gleich gesagt. Gerät nach kurzen Versuchen, ein anständiger Mensch zu werden, in die Schlingen des Herausgebers S. I., der ihn zu mannigfaltigen Arbeiten verwendet: er darf zu Beginn der Bekanntschaft Artikel und Gedichte schreiben, bringt es aber schon nach fünfzehn Jahren zum selbständigen Briefefrankieren und andern wichtigen Bureauarbeiten. Nimmt nacheinander die Pseudonyme Max Jungnickel, Agnes Guenther, Waldemar Bonsels und Fritz v. Unruh an. Kann aber niemand darüber hinwegtäuschen, daß hinter diesen Namen nur ein einziger Verfasser steht. Wird von Professor Liebermann in Öl gestochen und schenkt ihm als Gegenangebinde einen echten Paul Klee, den Liebermann jedoch nicht frißt. Panter stirbt, als er alles weiß und nichts mehr kann – denn so kann man nicht leben.
*
»Nun –?«, fragte der liebe Gott. »Hm –«, sagte ich wieder. »Könnte man nicht die drei Biographien kombinieren? Etwa so, daß ich als Sohn des Oberregierungsrats Kammerjäger bei der ›Weltbühne‹ …«
»Beeilen Sie sich!«, sagte Gottvater streng. »Ich habe nicht viel Zeit. Um zehn Uhr präsidiere ich drei Feldgottesdiensten: einem polnischen gegen die Deutschen, einem deutschen gegen die Polen und einem italienischen gegen alle andern. Da muß ich bei meinen Völkern sein. Also – wählen Sie.«
Und da habe ich dann gewählt.
Käut ihr manchmal wieder –? Ich für meinen Panterteil kaue. Nämlich so:
Wenn ich ganz allein bin, steigen mitunter, wie bunte glänzende Bälle, alte gute Witze in mir hoch, und, »selig lächelnd wie ein satter Säugling« belächle ich sie alle noch einmal, ein kindliches Gemüt. Manche haben erst dann die volle Reife, wenn sie ein bißchen abgelagert sind; wenn man sie schon zweimal belacht hat; wenn sie noch einmal auftauchen …
An den letzten, den S. I. noch redigiert hat, denke ich oft; wie Liebermann erzählt, er habe Hauptmann im Tiergarten getroffen und ihm gleich gesagt: »Sie sind doch zu beneiden!« – »Er fracht warum. Nu wird er denken, ick wer sagn: Weil Sie so talentvoll sind oder: weil Sie so viel Erfolch ham. Ick sage: Weil Sie so schön sind, Herr Hauptmann!« Dazu höre ich immer noch den kleinen Mann lachen … Und dann den andern, der einmal vor dem Krieg bei uns gestanden hat; wie da ein Backfisch von sechzehn Jahren seinen lieben Eltern zur silbernen Hochzeit gratuliert hat – der Backfisch und seine zwei jüngern Geschwister. Blumen, Kranzüberreichung, Ansprache in Versen.
»Wir nahen uns an diesem Tage
als Kleeblatt, das ihr selber habt gepflückt,
wir machten euch beim Bücken viele Plage,
denn dreimal habt ihr euch nach uns gebückt.«
Das ist eine stille, glucksende Freude, die man bei solchen alten Witzen empfindet – das Gesicht glänzt, man muß leise lachen, der Mund wird noch breiter als er schon von Natur ist. Manchmal denke ich auch an ganze Szenen. So an die unsterbliche im Goldrausch, wo Chaplin an des Abgrunds Rand einherwackelt, auf steiler Felsen Grat, und sich umsieht, ob nicht Gefahr dräut. Nein, dräut keine. Da geht er weiter – von hinten, aus einer Höhle tappt ein Bär hinter ihm her, er immer weiter, der Bär verschwindet in der nächsten Höhle, der Wandrer sieht sich wieder um, ob keine Gefahr dräut. Es dräut, wie gehabt, keine. Also hat er recht. Ich kann gar nicht sagen, wo dieses Maximum an ästhetischem Vergnügen steckt: in dieser Überhüpfung eines Gliedes der Kette, in der absoluten Ahnungslosigkeit vor der Gefahr – Diese Stelle ist eine der reinsten Verkörperungen dessen, was man Humor nennt. Er ist eben doch unser Größter, da gibts nichts.
Und manchmal belache ich mich privatim auch noch über die ganz, ganz alten Soldatenscherze (»Det mach du man. Die Kaiserin runter von der Elektrischen, dir 'n paar in die Fresse jehauen, wieder ruff uff die Elektrische –«) ja, ich schäme mich nicht, zu sagen, daß ich ein paar Freunde habe, mit denen ich manchmal alte Witze abschmecke – wir machen gewissermaßen eine Schau und reichen uns dies und das. »Kennen Sie diesen hier?« Es ist eigentlich keine Witzeerzählerei, das wäre schrecklich. Es ist eine wirkliche Weinprobe, ein Nachgenießen, ein Echo des Echos. Wobei es denn keinen, aber auch keinen meiner Generation gibt, der: »Da ist ja auch der Morgenstern – das Schwein!« nicht als besten aller Jahrgänge hoch verehrt.
Diese Flasche liegt gleich neben jener … wie da einer in ein rituelles Lokal kommt und sich gefüllte Milz bestellt. »Milz ist alle«, spricht der Kellner. Da sieht der Gast den Kellner mit feuchten Augen an und sagt ganz leise: »War sie fett –?«
An dem »goldnen deutschen Humor« ist so viel Messing. Laßt uns von Zeit zu Zeit die paar Goldkörner, die im Ledersäckchen ruhen, heimlich herausnehmen, sie betrachten und selig lächeln.
Auf eine Rundfrage
Wie mein Nachruf aussehen soll, weiß ich nicht. Ich weiß nur, wie er aussehen wird. Er wird aus einer Silbe bestehen.
Pappa und Mamma sitzen am abgegessenen Abendbrottisch und vertreiben sich ihre Ehe mit Zeitungslektüre. Da hebt Er plötzlich, durch ein Bild von Dolbin erschreckt, den Kopf und sagt: »Denk mal, der Theobald Tiger ist gestorben!« Und dann wird Sie meinen Nachruf sprechen. Sie sagt:
»Ach –!«
Ein Rundfunkvortrag
Schon Gneisenau, Regierungsrat bei der Filmzensur, hat in seinem ziemlich unsterblichen »Wolfgang von Goetz« darauf hingewiesen, daß das deutsche Volk als das sangesfreudigste der Welt mit Fug angesehen werden kann. Der wahre Gesang ist der Männergesang. Sagt doch bereits die deutsche Bibel für das Wochenende, das Strafgesetzbuch, über die Männergesangvereine so schön: »Wenn sich eine Menschenmenge öffentlich zusammenrottet und mit vereinten Kräften gegen Personen oder Sachen Gewalttätigkeiten begeht …«, und auch der Ausdruck »Rädelsführer« deutet ja klar auf den Dirigenten solchen musikalischen Tuns hin. Aber ach! nicht jeder gehört einem Männergesangverein an; ja, es gibt unter den Deutschen sogar einige, wenn auch wenige verworfene Wesen, die überhaupt keinem Verein angehören. Aber das soll mit Rücksicht auf die zarter Besaiteten unter unsern Hörerinnen hier nicht erörtert werden; diese Menschen gehören in das Gebiet der Psychopathia sexualis. Genug davon. Wenden wir uns von den Verirrungen des Geschlechtslebens mehr heitern Gegenständen zu.
Was zum Beispiel Gertrud Bäumer betrifft, so hat sie, eine gebildete Mitteleuropäerin, das Singen von sogenannten »Hausgesängen«, die vorher einen Zensurwolf passiert haben, gestattet – auch ist das Mitsingen dieser Lieder an öffentlichen Orten, Rundfunk-Zapfstellen und andern Bedürfnisanstalten zunächst nicht strafbar. Es ist gewiß von allgemeinem Interesse (Thema am Ende der Einleitung), solche Gesänge an Hand eines kleinen, uns heute vorliegenden Liederbuches einmal wissenschaftlich zu betrachten.
Die deutschen Trällerliedchen zerfallen in drei Abteilungen. Da hätten wir zunächst jene, die auf einem Namen beruhn.
»Liebe Katharina,
komm zu mir nach China!«
ist hier zu nennen, sowie:
»Luise – Luise – warum bist du denn so blaß?«
gewiß eine berechtigte Frage, wenn man bedenkt, daß auch Luise durch die ihr von den uns im Schmachfrieden von Versailles abgetretenen polnischen Kühen stammende fehlende Milch um ihre beste Manneskraft gekommen sein mag. Deutsche, kauft deutsche Kolonien! Auch:
»Wo sind deine Haare,
August – August?«
ist ein schönes Lied. Zeigt sich doch auch hier die deutsche Überlegenheit deutschen Wesens deutscher Namen: mit dem Vornamen des bekannten Baruch Stresemann wären solche echt deutschen Gesänge nicht zu erzielen gewesen. Hep-hep!
Dies führt uns zur zweiten Abteilung: den romantischen Liedern, die ihrerseits wieder zerfallen in die a) wild-romantischen und b) mild-romantischen. Die wild-romantischen Lieder lauten etwa:
»In der Hafenbar von Rio bei Laternenlicht
hatte Jim zum ersten Mal gesehen ihr Gesicht«,
und malen uns diese Verse so recht die bewegte und jeder Polizeistunde spottende Atmosphäre Südamerikas vor Augen. An unsern Alt-Reichskanzler Luther, an dessen Wesen um ein Haar die Welt genesen wäre und der auch auf hoher Warte niemals seine schlichte Herkunft als Kommunalbeamter vergessen läßt, gemahnen uns die Verse:
»Hoch zu Roß mit seinem stolzen Troß
der große Picador«,
wobei denn noch festzustellen wäre, wer bei diesem getätigten Geschäft der Ochse gewesen ist.
Wir kommen nunmehr zu den mildromantischen Liedern. Da wird uns warm ums deutsche Herz. Deutsche Weise und deutsches Land sprechen uns hier an, und jedes Gemüt schlägt Wellen, wenn es hört:
»Am Rüdesheimer Schloß steht eine Linde!
Der Frühlingswind zieht durch der Blätter Grün,
Ein Herz ist eingeschnitzt in ihre Rinde,
Und in dem Herzen steht ein Name drün.«
Da ist nichts vom nervenpeitschenden Rhythmus der Großstadt, ewiger Gehalt klingt uns hier an und zeigt so recht, daß das Erbe der Birch-Pfeiffer und Courths-Clauren in guten Händen liegt. Der Text des Rüdesheim-Liedes stammt von einem Wiener Juden.
Was aber sind alle diese schönen Lieder, wie:
»Am Hügel, wo der Flieder blüht,
und eine Rosenhecke glüht«
und:
»Wißt, dort im Bergrevier,
da ist die Heimat mein,
Thüringer Waldeszier,
treu denk ich dein!«
sowie:
»Am Rhein, da hab ich das Licht erblickt,
am Rhein, da wuchs ich heran,
am Rhein, da ist mir manch Streich geglückt –«
woraus also zu ersehen, daß dieser Streich hier jedenfalls nicht am Rhein entstanden ist – was ist dies alles, sage ich, gegen das unsterbliche Lied:
»Ich hab mein Herz in Heidelberg verloren,
in einer lauen Sommernacht –«?
Da mögen Welsche und Polen, Tschechen und blatternasige Kosaken dräun: solange wir solche Lieder haben, kann Deutschland nicht untergehn. Der Text stammt von zwei Wiener Juden.
Die dritte Abteilung endlich möge die der schlichtweg idiotischen Texte genannt werden, wie etwa:
»Wer hat die liebe Großmama
verkehrt rum aufs Kloset gesetzt?«
»Das war bei Tante Trullala
in Düsseldorf am Rhein,
da haben wir die Nacht verbracht
voll Seligkeit beim Wein –«
Noch zahllose Lieder gibt es, schlichte Äußerungen des Volksgemütes, geeignet, am deutschen Herd, im deutschen Haus, im deutschen Hof gesungen zu werden, wofern nicht dort Teppichklopfen und Musizieren verboten ist. Wo man singt, da komme ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder.
So zieht sich der Sangesfaden von Geschlecht zu Geschlecht, nimmer rastend, ewig blühend. Haben unsre Mütter und Urmütter noch gesungen:
»Sone ganze kleine Frau,
sone ganze kleine Frau –
sone ganze, ganze, ganze, ganze
ganze kleine Frau!«
und:
»Weißt du, Mutterl, was mir träumt hat?
I hab im Himmel die Engerln g'sehn …«
so singen wir mit nicht minder herber Kraft:
»Schatz, was ich von dir geträumt hab,
hält ich dir so gern erzählt«
sowie:
»Valencia –
Sieben, achte, neune, zehne,
Bube, Dame, König, As –«
und sind gewiß, daß unsre Altvordern, behaglich ihr himmlisches Pfeifchen schmauchend, voller Beifall auf Deutschland heruntersehen. Und darum benötigen wir eine Reichswehr, die uns stark, seetüchtig und schlagfertig erhält, wenn Hindenburg, oder wer sonst gerade da ist, uns einmal ruft.
Wir stehen am Ende.
Wir haben gesehen, wie das deutsche Lied und die deutsche Seele eines sind, und wie die deutsche Muse immerdar an der Spitze aller Musen marschiert. Möge sie vorne herum schwellen, hintenrum gedeihn und noch recht oft der unsterblichen Verszeile unsres großen Dichters, des Kalligraphielehrers Marcellus Schiffer, eingedenk sein:
»Mir ist schon mies vor mir –!«
In diesem Sinne auf Wiederhören in fünf Minuten zum Vortrag des Herrn Geheimrats Professor Doktor Fritz Haber, Mitglied der republikanischen Kaiser-Wilhelms-Akademie: »Der Harn im Familienleben sowie die Konservierung älteren Büchsenfleisches.«
Auf Wiederhören in fünnef Minuten –!
»Sags ihr mit Schmus!«
Henry Ford
Die hängenden Gärten der Semiramis waren ein Weltwunder. Auch heute noch läßt die Dame von Welt ihren Büstenhalter nur ungern auf dem zierlich gedeckten Frühstückstisch liegen. Sie sollte in der Tat nie versäumen, ihn anzulegen; unsachgemäße Behandlung der überaus empfindlichen Haut verstärkt einen Mangel, an dem schon manches Herzensbündnis jäh zerschellt ist. Welch ein Staunen, wenn ein Geschenk auf dem Gabentisch liegt, das mit vornehmem Takt einen geheimen Wunsch errät! Schenken Sie »Tetons Büstenformer«, Marke »Eierbecher«!
*
Die blaue Stunde des Harems naht heran. Vom nahen Minarett ertönt der Gesang des bärtigen Moslems, der dort Allah ehrt, und die zarten Wölkchen der Zigaretten kräuseln sich um die entschleierten Angesichter schwarzäugiger Türkinnen. Der Fachmann atmet ihren Duft ein und spürt sofort am blauen Dunst: »Die gute Haberland-Zigarette!« Unsre besonders bewährten Fachleute eilen im fernen Osten von Tabakfeld zu Tabakfeld und graben selbst die zarten Tabakpflänzchen ein, ordnen die Blätter in alphabetischer Reihenfolge und überwachen ihre sachgemäße Mischung mit den guten heimischen Kräutern der Uckermark. Es ist uns gelungen, den Herstellungspreis unsrer Qualitätszigarette auf 2 Pfennig herunterzudrücken. Versuchen Sie also unsre 15-Pfennig-Zigarette »Bilanz«, und Sie werden eine Zigarette finden, die, edel, schnittig und rassig im Format, ein vornehmes Geschenk darstellt. Keine Qualität, nur Ausstattung!
*
»Was kann es nur sein?« denkt sich jener Tänzer, um den sich früher die reizvollsten Erscheinungen der großen Salons geschart haben, während er heute allein und verlassen in der Ecke sitzt. Ist es der Tabaksgeruch, den er ausströmt? Oder gar andre Charakterfehler? Nein. Der junge, elegante Mann hat leider vergessen, einen Hosenknopf zu schließen, und indigniert und beschämt sehen die Damen von Geschmack beiseite, weil ein inkonsequenter Charakter auf Frauen keinen Eindruck hervorzuzaubern versteht. Gebrauchen Sie »Automatos«, den selbsttätigen Reißverschluß, und ihre Haut wird niemals spröde und rissig werden.
*
Ein problematisches Symbol ist für so viele die sitzende Lebensführung bei ernster Berufsarbeit im Amt und Bureau. Unsre Zeit ist eine Übergangszeit, und trutzig ragt manches deutsche Standbild in die deutsche Geschichte, Erinnerung und Wahrzeichen an harte Kriegsläufte und stolze Kämpfe um städtische Freiheit. Daher sollten auch Sie nicht versäumen, »Lissauers Stuhlzäpfchen« zu gebrauchen, die, rassig, edel und einfach in vornehmer Linienführung, dem Geist unsrer Zeit entsprechen.
*
Die Flaschen unseres Jahreskonsums aufeinandergestellt, ergeben die Höhe der Kölner Synagogenspitze. Nur eine Sektmarke international anerkannter Qualität, schnittig, edel und rassig im Geschmack, vermag sich solche Anerkennung zu erringen. Ein zarter Fichtennadelgeschmack ermöglicht es, unsern in Deutschland auf Flaschen gefüllten Sekt auch als Badezusatz zu verwenden.
*
Gehört diese Geste noch in unsre Zeit? So fragen wir uns, wenn wir den deutschen Ritter Götz von Berlichingen am Burgfenster stehen sehen. Der tadellos gepflegte Hauptmann, dem er seinen Gruß hinausruft, wird seiner Aufforderung wohl nicht Folge leisten; sicher ist, daß kein starres Gesetz ihm dies vorschreibt. Jedem ist dieser Ausdruck der Verehrung nach eignem Gefühl überlassen. Wenn aber das Mittelalter schon unser »Altes Lavendel« gekannt hätte, wird dieses Gefühl zum Gesetz. Verlangen Sie die kreuzweise Packung.
*
Im Banne der Liebe ermüdet man leicht. Die Nerven sind aufs höchste angespannt; die Luft im Raum ist heiß, drückend und schwül mit ü. In solchen Augenblicken erfrischt nichts so sehr wie eine Tasse klarer Nudelbouillon, die Sie aus »Lubarschs Suppenwürfel« gewinnen können. Ein Täßchen heißer Brühe bringt Ruhe und Sicherheit, vielleicht das Glück!
*
Wenn Baby die Tintenflasche ausgetrunken hat, geben Sie ihm einen Bogen von Hermann Burtes Löschpapier zu essen. Dieses Mittel wird von den Kleinchen erfahrungsgemäß gern genommen, und auch durchnäßte Erwachsene profitieren häufig davon. Gepflegte Kinder in gutbürgerlichen Haushalten sollten von Zeit zu Zeit diese Kur machen – der kleine Steppke, den Sie hier im Bilde sehen, weiß seit seiner Geburt nicht, was Feuchtigkeit ist. Kein Volk ohne Löschpapier! Hermann Burte & Hans Grimm, Löschpapier en gros.
*
Temperamentvolle Frauen halten sich bedeutend länger, wenn man sie nachts auf den Frigidaire legt; sie bleiben auf diese Weise schmackhaft und bekömmlich in jeder Jahreszeit. Die andauernd gleiche und trockne Atmosphäre konserviert jede Dame von Welt; unser Kühlapparat wird an gesundheitlicher Wirkung von keiner Ehe übertroffen.
*
Mehr als ein Souvenir – ein Zaubermittel wie vom Hexenmeister Cagliostro ist Rosens Toilettepapier. Edel, rassig und schnittig in der Linie, hat es sich rasch in die Aristokratie der Eleganz eingeschmeichelt. Vergessen Sie nicht, bevor Sie das zierlich gebundene Paketchen verschenken, die Ecken der einzelnen Blätter umzubiegen: sie geben dadurch Ihrem Geschenk eine persönliche Note.
*
»Ach, wers ihr doch sagen könnte!« – so jung, so schön und schon so gemieden! Menschen mit unreinem Hauch, selbst wenn er dem Munde entströmt, sind einsam. Unter anderm sträubt sich meine Feder, mehr zu sagen: das junge Mädchen hat nicht »Eukal« verwendet, und daher wagt niemand, ihr mit Anträgen zu nahen, denen doch gerade ein sportgeübtes Girl unsrer Zeit gefaßt entgegensehen könnte. Schicken Sie uns Ihre Zähne ein – Sie erhalten Sie postwendend gereinigt zurück, blitzend und blendend weiß.
*
Wenn Sie im Kranz Ihrer Geschäftsfreunde und schöner Frauen bei wohlgepflegtem, schäumenden Sekt sitzen, während Ihr behaglicher, vornehmer und taktvoller Haushalt Sie umgibt, dann vergessen Sie nicht, unsern Luxusapparat »Kokmès« bei der Hand zu haben. Die faszinierende Wirkung Ihrer festlichen Geselligkeit wird dadurch noch erhöht; keine elegante und gepflegte Frau von Welt ist ohne denselben denkbar. »Kokmès« ist ohne jede schädliche Nebenwirkung, weil es überhaupt keine hat. Wir fabrizieren es nur, um die hohen Anzeigenpreise wieder hereinzubringen, und wir inserieren, um fabrizieren zu können. Und so symbolisieren wir, was uns am meisten am Herzen liegt: die deutsche Wirtschaft –!
Das Werk zwingt schon durch die Gelehrsamkeit, die in ihm verkocht erscheint, Bewunderung ab, besonders einem Leser wie mir, dessen Bildung an Emmenthaler-Käse erinnert, indem sie wie dieser größtenteils aus Lücken besteht.
Alfred Polgar
Wenn abends wirklich einmal Gesellschaft ist, bekommen die Kinder vorher zu essen. Kinder brauchen nicht alles zu hören, was Erwachsene sprechen, und es schickt sich auch nicht, und billiger ist es auch. Es gibt belegte Brote; Mama nascht ein bißchen mit, Papa ist noch nicht da.
»Mama, Sonja hat gesagt, sie kann schon rauchen – sie kann doch noch gar nicht rauchen!« – »Du sollst bei Tisch nicht reden.« – »Mama, guck mal die Löcher in dem Käse!« – Zwei Kinderstimmen, gleichzeitig: »Tobby ist aber dumm! Im Käse sind doch immer Löcher!« Eine weinerliche Jungenstimme: » Na ja – aber warum? Mama! Wo kommen die Löcher im Käse her?« – »Du sollst bei Tisch nicht reden!« – »Ich möcht aber doch wissen, wo die Löcher im Käse herkommen!« – Pause. Mama: »Die Löcher … also ein Käse hat immer Löcher, da haben die Mädchen ganz recht! … ein Käse hat eben immer Löcher.« – »Mama! Aber dieser Käse hat doch keine Löcher! Warum hat der keine Löcher? Warum hat der Löcher?« – »Jetzt schweig und iß. Ich hab dir schon hundertmal gesagt, du sollst bei Tisch nicht reden! Iß!« – »Bwww –! Ich möcht aber wissen, wo die Löcher im Käse … aua, schubs doch nicht immer …!« Geschrei. Eintritt Papa.
»Was ist denn hier los? Gun Ahmt!« – »Ach, der Junge ist wieder ungezogen!« – »Ich bin gahnich ungezogen! Ich will nur wissen, wo die Löcher im Käse herkommen. Der Käse da hat Löcher, und der hat keine –!« Papa: »Na, deswegen brauchst du doch nicht so zu brüllen! Mama wird dir das erklären!« – Mama: »Jetzt gib du dem Jungen noch recht! Bei Tisch hat er zu essen und nicht zu reden!« – Papa: »Wenn ein Kind was fragt, kann man ihm das schließlich erklären! Finde ich.« – Mama: » Toujours en présence des enfants! Wenn ich es für richtig finde, ihm das zu erklären, werde ich ihm das schon erklären. Nu iß!« – »Papa, wo doch aber die Löcher im Käse herkommen, möcht ich doch aber wissen!« – Papa: »Also, die Löcher im Käse, das ist bei der Fabrikation: Käse macht man aus Butter und aus Milch, da wird er gegoren, und da wird er feucht; in der Schweiz machen sie das sehr schön – wenn du groß bist, darfst du auch mal mit in die Schweiz, da sind so hohe Berge, da liegt ewiger Schnee darauf – das ist schön, was?« – »Ja. Aber Papa, wo kommen denn die Löcher im Käse her?« – »Ich habs dir doch eben erklärt: die kommen, wenn man ihn herstellt, wenn man ihn macht.« – »Ja, aber … wie kommen denn die da rein, die Löcher?« – »Junge, jetzt löcher mich nicht mit deinen Löchern und geh zu Bett! Marsch! Es ist spät!« – »Nein! Papa! Noch nicht! Erklär mir doch erst, wie die Löcher im Käse …« Bumm. Katzenkopf. Ungeheuerliches Gebrüll. Klingel.
Onkel Adolf. »Guten Abend! Guten Abend, Margot – 'n Ahmt – na, wie gehts? Was machen die Kinder? Tobby, was schreist du denn so?« – »Ich will wissen …« – Sei still …!« »Er will wissen …« – »Also jetzt bring den Jungen ins Bett und laßt mich mit den Dummheiten in Ruhe! Komm, Adolf, wir gehen so lange ins Herrenzimmer; hier wird gedeckt!« – Onkel Adolf: »Gute Nacht! Gute Nacht! Alter Schreihals! Nu hör doch bloß mal …! Was hat er denn?« – »Margot wird mit ihm nicht fertig – er will wissen, wo die Löcher im Käse Herkommen, und sie hats ihm nicht erklärt.« – »Hast dus ihm denn erklärt?« – »Natürlich hab ichs ihm erklärt.« – »Danke, ich rauch jetzt nicht – sage mal, weißt du denn, wo die Löcher herkommen?« – »Na, das ist aber eine komische Frage! Natürlich weiß ich, wo die Löcher im Käse herkommen! Die entstehen bei der Fabrikation durch die Feuchtigkeit … das ist doch ganz einfach!« – »Na, mein Lieber … da hast du dem Jungen aber ein schönes Zeugs erklärt! Das ist doch überhaupt keine Erklärung!« – »Na, nimm mirs nicht übel – du bist aber komisch! Kannst du mir denn erklären, wo die Löcher im Käse herkommen?« – »Gott sei Dank kann ich das.« – »Also bitte.«
»Also, die Löcher im Käse entstehen durch das sogenannte Kaseïn, was in dem Käse drin ist.« – »Das ist doch Quatsch.« – »Das ist kein Quatsch.« – »Das ist wohl Quatsch; denn mit dem Kaseïn hat das überhaupt nichts zu … gun Ahmt, Martha, gun Ahmt, Oskar … bitte, nehmt Platz. Wie gehts? … überhaupt nichts zu tun!«
»Was streitet ihr euch denn da rum?« – Papa: »Nu bitt ich dich um alles in der Welt; Oskar! du hast doch studiert und bist Rechtsanwalt: haben die Löcher im Käse irgend etwas mit Kaseïn zu tun?« – Oskar: »Nein. Die Käse im Löcher … ich wollte sagen: die Löcher im Käse rühren daher … also die kommen daher, daß sich der Käse durch die Wärme bei der Gärung zu schnell ausdehnt!« Hohngelächter der plötzlich verbündeten reisigen Helden Papa und Onkel Adolf. »Haha! Hahaha! Na, das ist eine ulkige Erklärung! Der Käse dehnt sich aus! Hast du das gehört? Haha …!«
Eintritt Onkel Siegismund, Tante Jenny, Dr. Guggenheimer und Direktor Flackeland. Großes »Guten Abend! Guten Abend! – … gehts? … unterhalten uns gerade … sogar riesig komisch … ausgerechnet Löcher im Käse! … es wird gleich gegessen … also bitte, dann erkläre du –!
Onkel Siegismund: »Also – die Löcher im Käse kommen daher, daß sich der Käse bei der Gärung vor Kälte zusammenzieht!« Anschwellendes Rhabarber, Rumor, dann großer Ausbruch mit voll besetztem Orchester: »Haha! Vor Kälte! Hast du schon mal kalten Käse gegessen? Gut, daß Sie keinen Käse machen, Herr Apolant! Vor Kälte! Hähä!« – Onkel Siegismund beleidigt ab in die Ecke.
Dr. Guggenheimer: »Bevor man diese Frage entscheiden kann, müssen Sie mir erst mal sagen, um welchen Käse es sich überhaupt handelt. Das kommt nämlich auf den Käse an!« Mama: »Um Emmenthaler! Wir haben ihn gestern gekauft … Martha, ich kauf jetzt immer bei Danzel, mit Mischewski bin ich nicht mehr so zufrieden, er hat uns neulich Rosinen nach oben geschickt, die waren ganz …« Dr. Guggenheimer: »Also, wenn es Emmenthaler war, dann ist die Sache ganz einfach. Emmenthaler hat Löcher, weil er ein Hartkäse ist. Alle Hartkäse haben Löcher.«
Direktor Flackeland: »Meine Herren, da muß wohl wieder mal ein Mann des praktischen Lebens kommen … die Herren sind ja größtenteils Akademiker …« (Niemand widerspricht.) »Also, die Löcher im Käse sind Zerfallsprodukte beim Gärungsprozeß. Ja. Der … der Käse zerfällt, eben … weil der Käse …« Alle Daumen sind nach unten gerichtet, das Volk steht auf, der Sturm bricht los. »Pö! Das weiß ich auch! Mit chemischen Formeln ist die Sache nicht gemacht!« Eine hohe Stimme: »Habt ihr denn kein Lexikon –?«
Sturm auf die Bibliothek. Heyse, Schiller, Goethe, Boelsche, Thomas Mann, ein altes Poesiealbum – wo ist denn … richtig!
Kanzel, Kapital, Kapitalertragssteuer, Karbatsche, Kartätsche, Karwoche, Käse –! »Laß mich mal! Geh mal weg! Pardon! Also:
»Die blasige Beschaffenheit mancher Käsesorten rührt her von einer Kohlensäureentwicklung aus dem Zucker der eingeschlossenen Molke.« Alle, unisono: »Hast es. Was hab ich gesagt?« … »eingeschlossenen Molke und ist … wo geht denn das weiter? Margot, hast du hier eine Seite aus dem Lexikon rausgeschnitten? Na, das ist doch unerhört – wer war hier am Bücherschrank? Sind die Kinder …? Warum schließt du denn den Bücherschrank nicht ab?« – »Warum schließt du den Bücherschrank nicht ab ist gut – hundertmal hab ich dir gesagt, schließ du ihn ab –« »Nu laßt doch mal: also wie war das? Ihre Erklärung war falsch. Meine Erklärung war richtig.« – »Sie haben gesagt, der Käse kühlt sich ab!« – » Sie haben gesagt, der Käse kühlt sich ab – ich hab gesagt, daß sich der Käse erhitzt!« – »Na also, dann haben Sie doch nichts von der kohlensauren Zuckermolke gesagt, wie da drin steht!« – »Was du gesagt hast, war überhaupt Blödsinn!« – »Was verstehst du von Käse? Du kannst ja nicht mal Bolles Ziegenkäse von einem alten Holländer unterscheiden!« – »Ich hab vielleicht mehr alten Holländer in meinem Leben gegessen wie du!« – »Spuck nicht, wenn du mit mir sprichst!« Nun reden alle mit einem Mal.
Man hört:
– »Betrag dich gefälligst anständig, wenn du bei mir zu Gast bist …!« »saurige Beschaffenheit der Muckerzolke …« »mir überhaupt keine Vorschriften zu machen!« … »Bei Schweizer Käse – ja! Bei Emmenthaler Käse – nein! …« »Du bist hier nicht bei dir zu Hause! hier sind anständige Leute … Wo denn –? Das nimmst du zurück! Das nimmst du sofort zurück! Ich lasse nicht in meinem Hause meine Gäste beleidigen – ich lasse in meinem Hause meine Gäste nicht beleidigen! Du gehst mir sofort aus dem Haus!« – »Ich bin froh, wenn ich raus bin – Deinen Fraß brauche ich nicht!« – »Du betrittst mir nicht mehr meine Schwelle!« – »Meine Herren, aber das ist doch …!« – »Sie halten überhaupt den Mund – Sie gehören nicht zur Familie! …« »Na, das habich noch nicht gefrühstückt!« – »Ich als Kaufmann …!« – »Nu hören Sie doch mal zu: Wir hatten im Kriege einen Käse –« »Das war keine Versöhnung! Es ist mir ganz egal, und wenn du platzt: Ihr habt uns betrogen, und wenn ich mal sterbe, betrittst du nicht mein Haus!« – »Erbschleicher!« – »Hast du das –!« »Und ich sag es ganz laut, damit es alle hören: Erbschleicher! So! Und nu geh hin und verklag mich!« – »Lümmel! Ein ganz fauler Lümmel, kein Wunder bei dem Vater!« – »Und deine? Wer ist denn deine? Wo hast du denn deine Frau her?« – »Raus! Lümmel!« – »Wo ist mein Hut? In so einem Hause muß man ja auf seine Sachen aufpassen!« – »Das wird noch ein juristisches Nachspiel haben! Lümmel! …« »Sie mir auch –!«
In der Türöffnung erscheint Emma, aus Gumbinnen, und spricht: »Jnädje Frau, es is anjerichtet –!«
*
4 Privatbeleidigungsklagen. 2 umgestoßene Testamente. 1 aufgelöster Soziusvertrag. 3 gekündigte Hypotheken. 3 Klagen um bewegliche Vermögensobjekte: ein gemeinsames Theaterabonnement, einen Schaukelstuhl, ein elektrisch heizbares Bidet, 1 Räumungsklage des Wirts.
Auf dem Schauplatz bleiben zurück ein trauriger Emmenthaler und ein kleiner Junge, der die dicken Arme zum Himmel hebt und, den Kosmos anklagend, weithinhallend ruft:
»Mama! Wo kommen die Löcher im Käse her –?«
Für Rudolf Leonhard
Am achten Juni, morgens genau um neun Uhr zwanzig, flog in Paris die » Pont de l'Alma« benannte Seine-Brücke mit ungeheuerm Getöse in die Luft und kam schon nach kurzer Zeit ratenweise wieder herunter. Die Panik, die in der Stadt ausbrach, war unbeschreiblich und verdient daher eine kurze Beschreibung.
Der rasch herbeigerufene Sanitätsdienst konnte nur noch den soeben eingetretenen Polizeipräfekten feststellen, der die Geistesgegenwart hatte, den Präsidenten der Republik telephonisch zu verhindern, seinen lächelnden Zylinder über den Steintrümmern zu lüften. Bei dieser Gelegenheit hat der Präfekt beschlossen, in Paris das Telephon einzuführen.
Entsetzt stürzten die Einwohner der umliegenden Straßen aus ihren Häusern; zahlreiche Passanten, unter denen auch einige Franzosen bemerkt wurden, liefen erschreckt auseinander und stießen in ihren respektiven Sprachen irre Rufe aus, unter denen am lautesten der offenbar landfremde Satz: »Dazu fahr ich nach Paris –!« deutlich zu vernehmen war.
Da man die Brücke wegen Reparaturarbeiten gesperrt hatte, waren Opfer nicht zu beklagen; nur ein schwerer Pflasterstein flog einem just vorübergehenden adligen Diplomaten an den Kopf, so daß derselbe eine mittlere Gehirnerschütterung davontrug, eine Beeinträchtigung seiner geistigen Fähigkeiten also nicht eingetreten ist.
Der Knall der Explosion war weithin zu spüren: so fiel der bekannte Normanne S. Grumbach aus seinem Bett, rief: »Die Kommunisten sind da –!« und begab sich dann wieder ins Bett zurück, wo er, wie aus seinen Artikeln ersichtlich, noch heute schlummert.
Von allen Seiten liefen die kleinen, flinken Automobile der Stätte des Unglücks zu: es waren die Reporter, die aus der ganzen Stadt an den Ort der Katastrophe hetzten. Den Rekord schlugen die Amerikaner: die Nachricht von der Explosion traf in New York eine Minute vor der Explosion ein. Die französischen Zeitungen brachten am nächsten Tage sämtlich das Bild des Attentäters, und zwar jede Zeitung ein andres, alle zeigten einen düstern Mann ohne Kragen; das Dementi stand vierundzwanzig Stunden später auf der dritten Seite, Petit, ohne Durchschuß.
Die deutschen Journalisten eilten gleichfalls herbei und konnten vor Erregung kaum die Füllfederhalter aufs Papier bringen – so mußten sie sich übereinander ärgern. Eifrig disputierend und sich gegenseitig stufenweise verachtend, zogen sie auf die Deutsche Botschaft, deren sämtliche Fenster durch die Lufterschütterung gesprungen waren. Der Botschafter, eine hohe, markige Gestalt, trat ihnen auf den Glassplittern gefaßt entgegen und sagte auf ihre Fragen: »Meine Herren! Es ist mir bisher offiziell nicht bekannt, daß in Paris eine Brücke in die Luft geflogen ist, und ich glaube es auch nicht. Es wäre vielleicht gut, wenn die Herren im Augenblick nichts über Brückeneinstürze schreiben wollten; ich halte aus taktischen Gründen die Zeit noch nicht für gekommen, derartig delikate Dinge öffentlich zu behandeln.« Hierauf fiel aus dem zweiten Stock ein Fenster in den Hof, der Botschafter lächelte fein, aber diplomatisch, und die Presse, deren Respekt vor der höhern Diplomatie infolge der großen Hitze in Selbstachtung überging, zog sich befriedigt zurück.
Unsere Modenberichterstatterin, Frau Kasimira von Flechthaar, hatte – Snoblesse oblige – Gelegenheit, dem Brückeneinsturz beizuwohnen. Bei Brückeneinstürzen bevorzugt die Pariserin zartgrüne Complets, an den Rändern ausgefranst, mit hinten leicht geschwungenem, ärmellosem Rock; dazu einen Plauschmantel aus Krepp-Satin mit gepunktetem Umhang. Zu den feinen Pastelltönen wird in der Agraffe gern ein winziges Stückchen Dynamit getragen. Als modisches Kuriosum mag angemerkt werden, daß der Strumpf der zufällig anwesenden Frau Kommerzienrat Dr. rebb. hon. caus. Margot Gurgelheimer unbeschädigt blieb; das Gewebe war aus Lemberg-Seide.
Inzwischen hatte die Nachricht von der Brückenkatastrophe die Telephondrähte, die die Völker trennen, durchlaufen und war in die Berliner, Kölner und Frankfurter Redaktionen gelangt. Im »Berliner Lokalanzeiger« löste das Telephonat heftige Diskussionen aus. Ganze Straßenzüge weit konnten die erstaunten Passanten eine Stimme, die des Generaldirektors Klitzsch, hören, der bei offenen Fenstern schrie: »Eisenbahnunfälle und ähnliches wird nur gebracht, wenn die Versicherungsgesellschaften inserieren! Merken Sie sich das: wir haben hier die Unabhängigkeit des Inseratenteils!« Man hörte noch eine antwortende Stimme: »Echt jüdisch!«, hierauf das Geräusch einer Ohrfeige, und darauf wurden die Fenster und die Redaktionskonferenz geschlossen. Wie wir hören, wird im Hause Hugenberg die Stellung des Renommierchristen neu besetzt werden.
Leider hat das Bekanntwerden der Nachricht in Berlin zu einem bedauerlichen politischen Zwischenfall geführt, der in diplomatischen Kreisen und solchen, die es gern sein möchten, eifrig diskutiert wird. Der Pressereferent der Nachrichtenstelle der hamburgischen Gesandtschaft in Berlin hat die Pariser Nachricht durch die Pressestelle der Reichskanzlei eine Minute früher bekommen als der Abteilungsleiter der Nachrichtenabteilung bei der Königlichen Bayrischen Gesandtschaft. Bayern droht nun Hamburg mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Wasser und zu Lande, und es wird schon erwogen, wer denn das Zechlin bezahlen muß. Die Stellung des demokratischen Parteivorsitzenden in Lippe-Detmold gilt infolge der in Schaumburg-Lippe dieserhalb ausgebrochenen Krise für erschüttert. Der Verband entschieden republikanischer Beschneidungsbeamter hat daraufhin seinen Vorstand zu einer Audienz beim Herrn Reichspräsidenten delegiert, sine sine.
Mit Recht aber hat ein großer Zeitungsverlag die Frage des Tages aufgeworfen:
»Und Berlin –?«
Wir stehen in der Tat vor der Hochflut der Berliner Fremdensaison – sprich: »Ssssiesn« –, und es ist bekannt, daß die Amerikaner Deutschland nur deshalb besuchen, um hier genau das zu finden, was sie in Frankreich haben. Was uns not tut, ist der pulsende Rhythmus der modernen Zeit sowie ein tobendes, aber geregeltes Großstadtleben. Um diesem Bedürfnis abzuhelfen, steht Oberbürgermeister Dr. Böß bereits in Verbindung mit der Staatsregierung, um durch ein Pionierbataillon die Weidendammer Brücke in die Luft sprengen zu lassen. Auch dies wird zum Wiederaufbau Deutschlands beitragen. Zu der Brückensprengung wird der tausend Mann starke Kittelsche Lehrer- und Männer-Gesangverein die Chorstücke: »Ich bin allein auf weiter Flur« sowie »Doktor Zion, freue dich!« zum Vortrag bringen. Die Spitzen der Reichs-, Staats-, Länder- und Kommunal-Behörden werden, pro Behörde eine Spitze, vertreten sein; auch die nichtbeamtete Bevölkerung ist gleichfalls in beschränktem Umfange zugelassen. Als Tag der Brückensprengung, die genau nach Pariser Muster ausgeführt wird, ist der elfte August in Aussicht genommen; die Republik hofft, auf diese Weise die allgemeine Aufmerksamkeit auf das Bestehen einer Verfassung hinzulenken.
In Paris sind die Aufräumungsarbeiten in vollem Gange. Unter den Trümmern hat sich ein Buch mit dem Titel »Till Eulenspiegel« angefunden; doch wird das Werk mit der Explosion nicht in Verbindung gebracht, da es unmöglich eine zündende Wirkung gehabt haben kann. Daß der Graf Keyserling einen Knall hat
vernehmen können, entspricht den Tatsachen. Die Fülle der Beileidstelegramme, die in Paris stündlich einlaufen, ist groß: Mussolini, Ford, Edison; alte Brückenbauer wie Otto Wels und Hermann Müller haben gratuliert; Ich und die Kaiserin sind auch dabei.
Nach Lektüre aller Leitartikel aber zeigt uns dieser Vorgang aufs neue:
die Vergänglichkeit der irdischen Werke;
die Größe Deutschlands;
die Wahrheit des christlichen Gedankens;
die Notwendigkeit der Beibehaltung der Simultan-
Schule;
die Notwendigkeit der Abschaffung der Simultan-
Schule;
die Schurkerei des Bolschewismus
sowie
die Dringlichkeit des Baus einer neuen Eisenbahnbrücke
im Kreise Oldenburg-Nord
(Nichtgewünschtes bitte zu durchstreichen!)
P. S. Wie wir soeben von unserm Spezialkorrespondenten erfahren, handelt es sich nicht um den Pont de l'Alma, sondern um die Tower Bridge; auch ist diese Brücke nicht in die Luft geflogen, sondern sie wird frisch gestrichen. Eine Änderung unsres grundsätzlichen Standpunktes kann dies natürlich nicht herbeiführen.
Ereignisse haben manchmal unrecht – die Zeitung hat es nie.