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Geschichten dürfen nicht in Breslau spielen –
dann wird der Leser frech.
Geschichten müssen in Breslau spielen –
dann fühlt sich der Leser gemütlich.
Also wo sollen Geschichten spielen –?
Goethe
Ich persönlich liebe
du liebst irgendwie
er betätigt sich sexuell
wir sind erotisch eingestellt
ihr liebt mit am besten
sie leiten die Abteilung: Liebe.
Einst wurde Roda Roda von Freunden herausgefordert: er könne ja vieles erreichen, aber eines nicht. Nie, niemals würde er den ersten Platz im Kürschner einnehmen. Das Jahr ging zu Ende, der neue Kürschner erschien, und am Anfang stand:
Aaba, siehe Roda Roda
(Wobei besonders schön das fürsorgliche Doppel-A ist: damit auch ja nichts passieren kann.) Aaba Aaba aber steht auch heute noch an erster Stelle in Kürschners Literaturkalender.
Das dicke Buch präsentiert sich in schmuckem, rotem Leineneinband, sehr empfindlich, also für die Redaktionsarbeit durchaus geeignet: man sieht jeden Hauch, jeden Fingerabdruck darauf, und eine Diskussion mit nasser Aussprache in der Nähe des Buches ist nicht gut möglich. Der alte Satzspiegel ist beibehalten worden, aber ein weißer, breiter Rand ist neu, wodurch das Büchlein größer geworden ist, der Druck nicht deutlicher. Einige Photos zieren den Band – aber das schadet nichts.
Wir sind unsrer achttausendzweihundert – die »Gelehrten« nicht eingerechnet, die, zwanzigtausend Mann hoch, in einem besonderen »Gelehrten-Kalender« vereinigt sind. Achttausend … ohne die Zerquetschten. Lasset uns ein wenig blättern.
*
Zunächst sieht jeder nach, ob er selber drin steht. Dann ziemt es sich, die Freunde aufzusuchen – ob vielleicht einer von ihnen mit einem Druckfehler gesegnet ist, ob sie auch alle da sind, wo sie wohnen, wo sie geboren sind, schau! schau! »20. Auflage« – wer hätte das gedacht! und: »Chef vom Dienst«, nimm nur das Maul nicht so voll …
Manche sind verschwunden, andre sind neu hinzugekommen; statt Kurt Eisner steht da zum Beispiel:
Arco auf Valley, Anton, Graf, Geschichtspolitisch, Luftverkehr, Prokurist b. d. Süddtsch. Lufthansa, München, Briennerstr. 50b.
Diese Berufsangabe ist unvollständig – hier fehlt etwas.
Besuchst du deine Freunde im Kürschner, so fällt dir auf, daß da fast immer jemand ist, der »auch so heißt« – es gibt ja ganze Schriftstellergenerationen, bei denen das Dichten endemisch ist: die Hirschfelds von heute heißen Neumann oder Müller … Wolfgang Gneisenau, geb. Goetz, gibt seine Arbeiten an; als erste: » Origines gentis Goetz«. Der Ursprung der gens Goetz? Papier, Herr, Papier.
Bei manchen braucht man gar nicht erst das Geburtsdatum nachzusehen, das viele Damen ausgelassen haben – ein Blick auf die Buchtitel genügt. Roman: »Und sie rüttelte an der Kette« – genug, ich weiß. Auch ist anzumerken, daß offenbar die unbekannten Schriftsteller am meisten geschrieben haben, und wie bei Rundfragen die di minores sich gewöhnlich über lange Seiten ausbreiten, die Gelegenheit, endlich einmal gedruckt zu werden, atemlos ausnutzend, so gibt es hier Kaninchenböcke, von deren unmäßiger Produktion wir uns nichts träumen lassen. Demitrius Schrutz (Adresse: Frau Rosa Obrist) hat eine ganze Kürschner-Spalte vollgedichtet; seit dem Jahre 1885 gehen dem Mann die Stücke jährlich wie die Bandwürmer ab, ringeln sich noch ein wenig und liegen dann still.
Wer aber alles noch lebt, das ist mitunter gespenstisch zu sehen. Von meinem alten Lehrer Hänschen Draheim will ich gar nicht reden – Mehring, du hast immer erzählt, er habe ein Buch geschrieben: »Ein falsches ›Und‹ bei Lessing«, das steht aber nicht drin; doch denkt nur: den alten Joseph von Lauff gibt es noch, und wirklich und wahrhaftig:
Eschstruth, Nataly v. (verw. v. Knobelsdorf-Brenkendorf), Romane, Majorswitwe.
Sie wohnt, wie nicht anders zu erwarten, in einer Kaiser-Wilhelm-Straße. Und inzwischen hat ihre Kunst die von Reimann erfundene Courths-M. übernommen; ob sich die beiden Damen wohl kennen?
Man lernt viel Neues aus dem Kürschner: es gibt, natürlich, ein Buch über »Eberswalde u. s. freiwillige Feuerwehr«; der unzuverlässige Bearbeiter des »Richtigen Berliners« hat ein Buch gebucht: »Die Bühnenanweisung im deutschen Drama«, und wer nicht artig ist, muß es lesen – und Pseudonyme sind da, daß man vor Neid erblassen könnte. Neckische: »Hidigeigei« und »Latschenbock« und »Kiki« und »Joachim Friedenthal« … nein, das ist wohl kein Pseudonym. Einer heißt Heinrich Wilhelm Hubert Evers, sein Pseudonym, das ihn der Menschheit verbirgt, ist: W. Heinz Evers. Nur ein Apotheker kann auf solche Idee kommen.
So stehen wir denn alle im Kürschner verzeichnet, und jeder der Achttausendzweihundert hat, wenn er darin blättert, sicher einmal gesagt: »Ich möchte nur wissen, wozu die Leute so viel Bücher schreiben!« (Anwesende ausgeschlossen.) Denn so geht das:
Das große Erlebnis, das sich vor einer Schreibmaschine, Bibliotheksbänden, einem Weib entzündet; göttlicher Funke, leuchtendes Auge, tiefe Einsamkeit, schwarzer Kaffee und was jeder so braucht; saubere Reinschrift und Paketsendung an eine Verlegerei; wehende Fahnen und haftende Druckfehler; vor Neuheit krachende Bände und verliebte Widmungen; boshafte Kritiken und Hymnen auf strikte Gegenseitigkeit; eine Postanweisung, ein Scheckchen Honorar; stockender Absatz und staubende Vergessenheit; gehäutete Schlange, Dummstolz und Skepsis; angegriffen, abgegriffen, vergriffen … und dann eine halbe Petitzeile in Kürschners Literaturkalender:
Agonie der Leidenschaft. Roman. 1901.
Hierdurch tue ich Dir kund und zu wissen, daß ich am neunundzwanzigsten Februar dieses Jahres gegen den § 184 (Verbreitung unzüchtiger Schriften) ein bißchen habe verstoßen helfen. Ich habe mir nämlich in der Buchhandlung Hujahn in der Rügenwalder Straße 29 ein großes Buch mit durchaus unerlaubten Bildern gekauft. Das Buch ist zweihundertvierundsiebzig Seiten stark, gutes Friedens-Velinpapier, bedruckt mit mattgetönten farbigen Lithographien eines in Bayern wohnhaften Malers. Es ist im Jahre 1919 in München erschienen. Herr Hujahn gab es mir im kleinen Hinterzimmer unter einer sausenden Gasflamme, aus einem Geldschrank; er blinzelte stark dabei, putzte sich schämig die Brillengläser und nahm zweihundert Prozent Teuerungszuschlag.
Es ist ja möglich, lieber Staatsanwalt, daß diese Angaben alle nicht stimmen; aber Du hast doch eine so vorzügliche Polizei – Du wirst es schon herausbekommen. Mach aber keine Haussuchung bei mir: ich habe das Buch in einer Laube vergraben. Komm, wir wollen spielen: »Feuer, Wasser, Kohle …« Streng dich an; such, such, such –!
Man müßte dergleichen übrigens wirklich beschlagnahmen. Denk mal, was da alles darin ist …! Jetzt sitzt Du Armer mit gespitztem Bleistift da, vor Dir liegen die »Mona Lisa« und Deine Karriere, und wenn Du diese Seiten für unzüchtig erklärst, dann wirst Du vielleicht bald Oberstaatsanwalt. Ich will es also ganz vorsichtig anfangen, Onkel.
Es sind Sinnbilder, weißt Du – Allegorien, wenn Du Dich auf Deine Prima besinnst, aber sie sind doch sehr schön. Wenn wir das, was Du dem Onkel Magnus Hirschfeld beschlagnahmst, mit einer Eins bezeichnen und das, was manche Pfaffen bei der Venus von Lonjumeau ausschließlich zu sehen pflegen, mit einer Zwei, dann liegen folgende Bilder vor mir:
Da schippt ein Manu lauter Gold in eine Erdspalte, aber das ist gar keine Erdspalte. Was hältst Du von dem Manne? »Symbolisch!« würde Wilhelm Bendow sagen. Und dann ist ein alter Herr da, der sammelt Zweien: er hat sie alle auf dem Tisch ausgebreitet, fein säuberlich mit Zettelchen etikettiert, und er beguckt sie sich durch eine Lupe, ob er vielleicht eine doppelt hat. Und dann ist ein Bild da, das kannst Du gewiß nicht beschlagnahmen: da steht eine dicke Frau vor dem Elefantenzwinger und sieht sich den Rüssel an und sagt gar nichts. Und ein Bild ist da, das hat keine Unterschrift, aber ich glaube, das weißt sogar Du, was es bedeutet: ein nacktes Mädchen liegt mit gespreizten Beinen auf der Straße, denk mal, mitten auf der Straße! und diese lange Straße geht nun gerade durch das Mädchen hindurch. Und eine Frau ist da, ein Frauenkopf mit süß geschlossenen Augen – sie lauscht wohl auf Musik. Aber an ihrem Ohr macht sich ein kleiner Mann zu schaffen, ich kann Dir gar nicht sagen, wie.
Und es sind auch Vorkommnisse aus dem Familienleben abgebildet: wie ein ganzes Fenster voller Frauen in Aufregung gerät, sie fallen beinah auf die Straße, so weit beugen sie sich hinaus – denn unten steht ein Mann und verrichtet bescheiden ein kleines Werk. Und eine Malerin malt einen männlichen Akt: sie malt ihn ganz richtig, nur wächst ihr die Proportion ins Ungeheure. Und eine fette Frau mit einem Kreuz am Hals gibt aus ihrer ungeheuern Brust einem proletarischen Säugling zu trinken, und das wird von vier Seiten gefilmt, und ich glaube, das heißt: Wohltätigkeit.
Der wilde Affentanz der Geschlechter zieht vorüber, in allen, sagen wir, Lagen des menschlichen Lebens, in allen Situationen mit den wenigen nur denkbaren Abwechslungen, die einem der liebe Gott beschert hat. Du bist auch darin, lieber Staatsanwalt. Du stehst vor einem großen Bild in der Ausstellung und mißt an einem gewaltigen Schinken den Popo, auf daß er ja nicht das Maß Deiner Sittlichkeit überschreite. Und wenn ich mir den ganzen Phall betrachte, die alten Jungfern, die danach gieren, und die alten Kerle, die danach gieren, und die jungen Dinger, die viel, viel mehr von der Sache verstehen, als man ihnen ansieht, und all das lächerliche Gekrampfe, all den Lärm, der um diesen einen Eierkuchen gemacht wird, dann muß ich schon sagen: Es geht nirgends so merkwürdig zu wie auf der Welt.
Jetzt bist Du böse … Jetzt sagst Du gewiß, ich sei einer, der das Schamgefühl gröblich verletzt habe, und obgleich ich doch meine symbolischen Zahlen kaum gebraucht habe, fängst Du am Ende einen Prozeß mit mir an, und ich muß mir von den Professoren bescheinigen lassen, daß ich keinen Menschen habe unterhalten wollen, sondern daß ich ein höherer Künstler bin. Oder ist es vielleicht unterhaltsam, wenn alte, verbrauchte Frauen vor dem Spiegel stehn wie Jericho auf den Trümmern Karthagos und sich die Rudimente ansehen, die noch übrig sind?
Onkelchen, sei wieder gut. Und wenn Du Deine sella curulis verlassen hast und in den staatlich konzessionierten Schoß Deiner Familie zurückgekehrt bist, dann drück den Daumen für mich, daß mir noch einmal in meinem Leben solch ein Chanson glückt, wie es die Zeichnung auf Seite 83 darstellt. Hinter dem Souffleurkasten, vorn an der Rampe, steht, mit dem Rücken zum Publikum, eine junge Dame, die sich das Wenige, womit sie bekleidet ist, auch noch emporgehoben hat. Ihre linke Hand … na, lassen wir das. Es scheint eine Szene aus dem »Götz von Berlichingen« zu sein, die da gespielt wird. Aus ihrem überschnittenen Profil ist zu ersehen, wie entzückend schnuppe ihr die ganze Geschichte ist. Und solch ein Chanson möchte ich einmal schreiben.
Und Dir, Onkelchen, will ich es widmen. »Seinem lieben Staatsanwalt in tiefsinniger Verehrung
Hochachtungsvoll
Peter Panter.«
P. S. Das Buch gibts wirklich. Der Zeichner ist Ungar und heißt Boris. Du kannst ihm aber nichts mehr tun: er ist, ein ganz junger Mensch, in der Schweiz gestorben.
sollte man jeder großen Schauspielerin einmal sagen: daß sie die gefährlichste Rivalin an sich selbst hat. Der Wiener Oscar Sachs, diese letzte Nestroyfigur, hat einst folgenden Ausspruch getan: »Mir hat geträumt, daß i auf einem großen Friedhof umhergeh, und dort liegen alle, alle Komiker – und i spazier da ganz allein –!« Nur Komiker haben noch diese Naivität der Ausschließlichkeit, die sonst Frauen vorbehalten ist. Was also tut eine Schauspielerin, die es zu etwas gebracht hat –?
Sie achtet mit minutiöser Sorgfalt darauf, daß keine, keine neben ihr besteht. Sie beißt sie alle weg: die Schönen, die Begabten, die Grotesk-Komischen, die Langbeinigen, die Beliebten – Nacht muß es sein, wo Fräulein Friedlands Sterne strahlen, und so hat fast jeder weibliche Star eine Wüste um sich, darinnen sie das Oäslein. Denn dies ist der erste Regierungsakt, den sie tut: den Regisseur, den Direktor, den Geldmann zu veranlassen, im selben Stück keine Kollegin zu beschäftigen, die vielleicht auch gefallen, interessieren, Erfolg haben könnte … Sie verbietet es. Er darf es nicht. Und wir langweilen uns.
Ich sehe niemand an, denn es ist wenig unterhaltsam, in diese Schlinggewächse des Klatsches zu steigen, auch ist es gar nicht wichtig. Das Theater aber lamentiert, es werde nicht mehr so beachtet wie früher – tragen diese Frauen nicht einen Teil der Schuld, die sonst die Zeit auf sich nehmen mag –? Wollen wir den ganzen lieben langen Winter nur Frau Pietsch und noch einmal Frau Pietsch und nichts als Frau Pietsch sehen? Wie rasch nutzt sich ihr Ton ab, wie schnell wird er blechern, auch das Ohr ist eines Tages übersättigt. Qualvoll diese Augenblicke, wo der Star nicht auf der Bühne steht, nervenzerpflückend das kindische Geplapper sechster Größen, die gerade noch auftreten dürfen … Und das alles, weil SIE diese törichten Filmmanieren eingeführt hat: »Adam, Eva und die Schlange? Die Titelrollen spiele ich!« Wie schlau, wie fein kalkuliert, wie dumm!
Laß dich nicht tyrannisieren, Direktor. Bleibe hart, Regisseur! Enteile dem Schlafzimmerzauber, glaub nicht an den Kritiker im Bärtchen, gib nicht nach. Stich dem Star den Star: gib uns die fruchtbare Vielweiberei, die Vielgötterei, das Ensemble.
Als ich volljährig wurde und mein Geld ausbezahlt bekam, und es war eine Zangengeburt, denn eine ganze Phalanx von Onkeln stand davor, da gingen wir selbdritt bummeln. Im ersten Übermut und in einem Anfall von Größenwahn steckte ich mir hundert Mark ein und lud den Dicken und den Kleinen auf die Berliner Kirchweih. Anfing es bei Richard Alexander.
Ich kann Ihnen noch die Loge zeigen, in der wir damals gesessen haben. Vor Lachen sind wir beinah herausgefallen.
Ich besinne mich genau auf das Stück, das gespielt wurde. Es handelte sich darum, daß Richard Alexander – Schwerenöter und Mann von Halbwelt – eine junge maskierte Dame zu sich ins Séparée (französisch; soviel wie Spielzimmer) geladen hatte und sie sich dort, eine Weile vergeblich, bemühten, sich gegenseitig auszuziehen: sie ihn finanziell, er sie richtig. Mit ihrer Maske fing er an. Und die nahm sie auch schließlich ab. Alexander konnte fünf Minuten lang nicht weiterspielen – so lachten die Leute. Ihm gegenüber saß ein Miesnick, was, Miesnick! – ein Mädchen, mit dem das Lokal aufgewaschen wurde, ein Lappen von einem Mädchen … Und er tat gar nichts, sondern jedesmal, wenn er wieder ansetzen wollte, zu sprechen, dann mußte er sich leise abwenden und ein bißchen mit der Stimme kiksen. Und dann fing das Lachgeschrei im Theater wieder von vorn an, und er hatte doch gar nichts gesagt.
Wie oft haben wir noch über ihn gelacht! Immer kam da ein Akt vor, in dem spazierte er in Unterhosen umher – sie waren berühmt, diese Unterhosen! –, und jener große Augenblick, wo er »Himmel, meine Frau!« murmelte, badete das ganze Haus in ein unendlich wohliges Entzücken. Ich weiß noch, wie ich einmal neben einer richtigen Dame saß, und jener sang den ganzen Abend: »Mit fester Hand – aber mit zitterndem Stift!«, und man hatte nicht das häßliche Gefühl, daß nun jede Frau im Theater vogelfrei wäre. Den letzten entscheidenden Millimeter hat er niemals überschritten.
Das mit der »festen Hand« war in jenem Stück, wo er zur Freude von ganz Berlin bei Mannheimer Anprobieren gelernt hatte, weil das in dem Stück vorkam und er es auch ganz richtig machen wollte. Und nun zupfte er den Damen so fachmännisch an den Kleidern herum, daß die ganze Konfektion verständnisinnig und tief geschmeichelt lächelte: Ja, wirklich – das war wie im Leben!
Als er ging, machte er keinen Ehren-Abschieds-Benefiz-Gala-Abend – sondern eines Tages stand in der Zeitung, er spiele an dem und dem Tag zum letztenmal. Ich schrieb ihm damals ein kleines Gedicht auf, und er schickte mir einen großen Karton, auf dem war er in seinen hundert und aberhundert Rollen abgebildet – in allen jenen französischen Possen, die das Entzücken unsrer Eltern gebildet hatten.
Es war Theater aus der Zeit, wo die Börseaner noch mit den Goldstücken in der Hosentasche klimperten; das Vergnügen hatte einen andern Klang. Die reichen Leute und viele andre fuhren in die Blumenstraße hinaus – sie hätte noch hundertmal weiter sein können, sie wären doch alle gekommen. »Wie Sie nach der Blumenstraße kommen –? Da fahren Sie nach Frankfurt an der Oder, und loofen det Sticksgen wieder zurück –!« Es war eine Tradition, die sich da gebildet hatte: auf der Bühne und in den Logen, zwischen den Kulissen und im Parkett.
Seine Späße klebten nicht, nichts wurde mit schweißiger Hand serviert, alles blieb nett und amüsant, und man brauchte sich nicht zu schämen, mit andern gelacht zu haben. Er war komisch: in seinen langen Beinen zuckte die Lustigkeit, in seiner Nase steckte die gute Laune, in seinem Kehlkopf gluckste der Humor. Er hat Hunderttausende froh gemacht.
Ja, in jener ersten Nacht gingen wir dann noch weiter: es gab meinen Lieblingswein, roten Aßmannshäuser, und die beiden immer injeladen, nicht bloß uffjefordert! –, und dann rollten wir zu Claire Waldoff, die uns mitteilte, daß nach ihren Beinen ganz Berlin verrückt sei, und uns wissen ließ, daß er Hermann heeße. Und sie lag mit all ihrer Drolerie und ihrer großen Keßheit durchaus an der Panke …
Die beiden andern sind etwas Rechtes geworden: der Dicke ist ein reicher Bankier, der mit Ausnahme seiner Steuern alles nach Dollars berechnet – und der Kleine ist ein höherer Beamter von untadliger monarchistischer Gesinnung, und also durchaus befähigt, in der Republik Karriere zu machen. Es war eine heitere Zeit.
*
Das ist mir eingefallen, als ich las, daß Richard Alexander gestorben ist.
Er hat ja noch vor kurzem in Berlin gespielt – aber ich bin nicht hingegangen, weil ich mir die Erinnerung nicht verderben wollte. Die Erinnerung: das ist ja doch das Schönste.
Was bleibt sonst von den Schauspielern? Einer hat einmal von der »verständlichen Gier« gesprochen, mit der sie ihren irrsinnigen Beruf ausübten: heute rauscht der Beifall noch in ihren Ohren – morgen sind sie vergessen, überholt …
Diesen kleinen Kranz auf deinen Hügel, Richard Alexander.
Das ist in Amsterdam, zwischen dem westlichen Dock und dem Holzhafen – da liegt in einer hohlen Twiete eine Matrosenkneipe, deren unübersetzbarer Name so etwas wie »Zur lütten Laus« bedeutet. Wenn der wiegende Schritt urlaubernder Seeleute unregelmäßig wird, wenn die wilde Kraft, alles, alles bis aufs Hemd zu versaufen, hurra! im besten Brausen ist, dann wogt in den zwei niedrigen Stuben ein Meer von Betrunkenheit. Der Wirt, ein Witwer, ist so dick, daß ihn noch niemand vom Schanktisch hat weggehen sehen. Er gießt bedächtig ein, kassiert und wirft dem Getümmel ab und zu ein fettes Witzwort hin, das brüllend akzeptiert wird.
Aber wer bedient die Gäste? Wer stellt vor jeden sein Glas, läßt sich von den Maats in die Backen kneifen, wird, hochrot und blond, auf den Tisch gehoben, kreischend wie ein Huhn? Matje Fehrs. Vom Wirt das Schwesterkind: flink, anstellig, und bei den Mannsleuten gut angeschrieben.
Man hört sein eigenes Wort nicht. Das tost und spektakelt und gröhlt, und Matje muß springen, daß auch alle ihren Grog haben. Da öffnet sich die Tür, und unisono brüllt der Chor: »Der Elefant! Muuh!« Ein Koloß nähert sich gleichmütig dem Schanktisch, reicht dem dicken Wirt mitfühlend die Hand und kracht auf einen Stuhl. Es ist der dickste Kapitän der Welt. Er blinzelt träge vor sich hin und kriegt seine Mischung. Matjes Lachen dringt von der anderen Stube herüber. Sie haben die Köpfe zusammengesteckt, die Gäste und Matje: eine Dummheit ist auszuhecken – und plötzlich fällt Matje wie eine Bombe auf eine Bank und lacht und lacht. Sie ist am Ersticken, sie piept, sie japst nach Luft, ihre Augen tränen, und sie zieht den Atem in einem hohen Ton singend ein. Die Arme sinken, sie kann nicht mehr, der Kopf fällt vornüber auf die Tischplatte. Dann steht sie auf, und während die beiden Dicken sich anschweigen, pirscht Matje den Elefanten an und pickt ihm ein kleines Täfelchen auf den Rücken. »Hier ist hinten« steht drauf. Ihr Gesicht ist knallrot, sie bläst die Backen auf, um nicht loszuplatzen, das wundervoll blonde Haar hängt büschlig in die heiße Stirn. Da – der Wirt ruft sie an! Das ganze Lokal sieht gespannt hin, wie sich Matje aus der Affäre ziehen wird. Sie würgt das Lachen herunter, kneift links einen Matrosen ins Bein, nur um etwas zu tun, und dann spricht sie. Die einzige Stimmlage, die ihr noch zur Verfügung steht, ist ein quietschiger Sopran. »W … wa … was soll ich?« Ob ihr etwas fehle? »N – nichts!« Und da ist es aus, und sie explodiert aufs neue und mit ihr die ganze Kneipe, und man reicht sie herum, und sie muß Püffe austeilen, weil jeder sie küssen will, und muß doch lachen, lachen. Und einer von den Seeleuten, ein schmaler, braungebrannter junger Mann, der gerade aus der Südsee gekommen ist, sieht ihr bewundernd nach, als sich das Nebenzimmer ihrer bemächtigt, und sagt langsam: »Da möchte man die Zähne hineinschlagen, in dieses blonde Stück Fleisch –;«
Und nachher ist Nacht, und nur die Unentwegten druseln noch an den Wänden, auf den Bänken, schnarchen und gähnen und rauchen verglimmende Pfeifen. Der Elefant ist fort, der Wirt macht ein Nickerchen. Die Lampen flackern und blaken. Wo ist Matje?
Sie steht hinten an der offenen Hoftür und sieht zum Nachthimmel auf. Ein durch hohe Mauern ausgeschnittenes dunkelblaues Viereck, mit ein paar Sternen. Aus dem geöffneten Flur fällt gelbes Licht. Sie ist still und erschreckend bleich. Schritte. Sie rührt sich kaum. Die Hände umklammern hart eine mörtelige Kante. Sie dreht sich nicht herum: sie fühlt, wer kommt. Und sie läßt ganz, ganz langsam den blonden Kopf nach hinten sinken, damit ihn der da in seine Hände nehme, und beißt sich die Lippen blutig. Und empfängt unter Schauern einen Kuß, von dem sie bestimmt weiß, daß er das Ende ist, das Unglück, das Verderben. Tut nichts: sie schließt die Augen und atmet sehr tief. Matje! Matje Fehrs!
*
Das sind die beiden Höflichs: die eine ist neuern Datums, und wir konnten in »Was ihr wollt« bewundern, was da im Entstehen ist. Sie spielt alle Skalen des Gelächters, vom ersten Jubelschrei bis zur völligen Erschöpfung. Es war ein Genuß, diese wundervolle Frau lachen zu hören. Und man durfte es schon mit dem jungen Seemann halten, der gerade aus der Südsee kam.
Die andre ist deutsch, deutsch bis in die Knochen. Nicht Thumann – sondern Schumann, und vielleicht noch Brahms. Und wenn das deutsch ist: der verbissene Trotz – nicht weinen, und ob ich draufgehe, nicht weinen! – wenn das deutsch ist, dieser leicht verzogene Mund, die Innerlichkeit, die Stille und das tiefbewegte Meer: dann ist die Höflich ein Stück Deutschland, wo es am besten ist.
Wenn einem das Einteilen Vergnügen macht, kann man die Schauspieler in zwei Gruppen teilen: die einen sind immer dann gut, wenn sie siegen und die Oberhand haben – die andern dann, wenn sie unterliegen. Jene sind die Komiker, dieses ist die Höflich.
Sie konnte einen so traurig machen. Daß es einmal schief gehen würde, war sicher – es fragte sich nur, wann. Und kam das Unglück: sie schrie nicht. Sie nahm das geduldig hin; aber es wurde nie wieder etwas Rechtes mit ihr. Sie konnte schwach die Hände heben – und eine war abgestorben für ihr ganzes Leben; sie konnte lächeln, lächeln in all der Schmerzlichkeit – und das Herz zog sich dir zusammen; es war viel, viel schlimmer, als wenn sie laut geklagt hätte.
Selbst wenn sie einmal fröhlich ist, ein stilles Glück hat, wenn sie strahlt – immer ist ein unterdrücktes Weinen in ihrer Stimme. Ist es die Vorstellung ihres Haares, daß ich ihre Stimme gelb empfinde? Ich weiß nicht. Aber die Stimme kann klagen, ein heller Ton der Trauer, und sie kann so weinen, daß man versteht, was das heißt: »Weinen ist mehr als Sterben.«
Und sie scheint mir am rührendsten zu sein, wenn sie vor der Katastrophe steht, wenn sie noch das Glück in Händen hält – aber schon naht etwas. Dann ist die Stimme sanft und furchtsam und verklingt.
Da war im »Bürger Schippel« eine Stelle, da hatte sie zum Fürsten zu sagen, der sie aus dem Dunkel eines Liebeswinkels hervorholen wollte: »Ich scheue Gegend, Licht und Atmosphäre. Daß diese Nacht nie endigte!« In diesem Augenblick war der Satz von Shakespeare. Da sie ihn sprach.
Als Junge sah ich sie in einer der ersten Vorstellungen der »Minna von Barnhelm«, in der Soubrettenrolle der Franziska.
»Minna von Barnhelm« ist ein Lustspiel. Ich heulte wie ein Kind, das seine Milch nicht bekommen hat, die ganze Nacht.
» A la foule qui est ici« stand im Programm.
» O Foule! Te voici dans le creux du théâtre –«
Also davon war nun keine Rede. Die Comédie des Champs-Elysées war ganz hübsch »gestopft«, aber zu einer foule langte es nicht. Immerhin wird da beachtenswert gespielt.
Erst plätscherten drei sanfte Akte von Charles Vildrac, dem Verfasser des auch in Deutschland bekannten »Paketboot Tenacity«, auf das Publikum. Herr Vildrac ist kein Stückemacher, sondern ein Dichter, in unendlicher Verdünnung.
Worauf: »Demetrios« von Jules Romains. Ja, Bruder, das ist ganz was andres.
Das Ganze dauerte etwa fünfundzwanzig Minuten, aber sie waren bis zum Platzen gefüllt, die Minuten. Man denke sich eine sanfte Dicke und ein aufgeregtes Dienstmädchen. »Ein Kerl ist draußen, gnädige Frau!« Palawer; was mag das für ein Bursche sein? Herein geistert Er, der möblierte Stubengraf Demetrios. Louis Jouvet sah aus, wie noch nie ein lebender Mensch ausgesehen hat, offenbar hatte ihn Paul Scheurich gezeichnet. Er war schön, o so entsetzlich und furchterregend schön! mit schwarzem Brillantineschnurrbart und einer merkwürdigen Kommode von Zylinder, den er in der Hand hielt. Ein Havelock umwallte ihn, er glich einem edeln Schwan bei Gewitter.
Die sanfte Dicke war nicht im Bilde. »Was … was solls denn sein …?« Da war er schon in den Asphodeloswiesen und den Rosinenhainen der Insel Rhodos – weißt du noch? »Weißt du noch?« sagte er. »Du bist mir dreißigmal im Traum erschienen, du meine Göttin, du mein Ideal, an den blauen Wogen des Meeres …« Alles mitten im Salon, auf dem guten Teppich. Die Göttin wußte nichts, reineweg gar nichts. »Mein Hörr! Was örlauben Sie sich –?« Da ließ er fettige Begeisterung ab, knoblauchduftende Götter durchschritten den Hain … Es kam der Herr Papa, und die dicke Tochter entschwand. Der Papa setzte sich. Geschäftlich: »Bitte –?«
Die Levante setzte sich gleichfalls und entwickelte mit einer gewissen Lyrik, aber unter keineswegiger Außerachtlassung seriöser Vorschläge hundertprozentige Geschäftspläne. Belege? Verzinsung? Anzahlung? Nichts half dem geschäftlichen Papa – die Levante hatte alles bei sich, wogte grüne und weiße Papiere aus der Tasche und log so entsetzlich, daß auch der Dümmste fühlen mußte: Dieser Mensch ist im Grunde wahrhaftig. »Ich habe die Majorität in Wahrheit!« sagte er. »Sie muß heraus, Herr!« Der Papa, erst mißtrauisch, dann geängstigt, weil die Levante Briefe auf dem Herzen hatte und scheußlich genaue Auskünfte, trat in die Geschäfte, die herzbrechend schön waren wie die Asphodeloswiesen. Die dicke Tochter trudelte herein und erinnerte vorsichtig an die Götterhaine, die Levante verstand nichts und verriet sie. Da warf sie den Papa hinaus, der vorsichtshalber seinen Schreibtisch abschloß, und nach kurzem Austausch von Lyrik und spitzem Raisonnement sank sie dem Schwarzen an sein friseurduftendes Herz … Das Dienstmädchen kam einen Augenblick zu früh, die Tochter löste sich in nichts auf, die Levante hatte auf der ganzen Linie gesiegt …! Und nahm mit einem Knick der langen Beine Platz, aber richtig Platz, wer weiß für wie lange …
Das Mädchen ergriff Hut und Havelock. »Wollen Sie nicht auch meinen Stock mitnehmen –?« sagt er. Er ist hier schon zu Hause. Und dann fällt der Vorhang.
Die schauspielerische Leistung Jouvets war reizend; er ritt auf dem Rosinante des klugen Unsinns, steckte die Hand in die Tasche und ließ den kleinen Finger draußen, damit man den Funkelring sehen konnte; wenn er sich aufrichtete, sah er aus wie ein Abruzzenhauptmann am Sonntagnachmittag, und sein Französisch hatte einen Klang … wenn man eine Flasche Houbigant in eine Balkanschlucht wirft, sagt das Echo: » Mißjéé!« Er log und wurde ganz grün vor Eifer. Es war herrlich.
Ich habe den Akt mit Gülstorff und Werner Krauß besetzt und mich doppelt und vierfach amüsiert.
Der Senior ist etwa siebenundsechzig Jahre alt und heißt Hyspa – ein sauberer, weißbärtiger Herr in schwarzem Röckchen, der mit einer historisch knarrenden Stimme leise Lieder von großen Papierbogen absingt. Ab und zu glückt ihm ein Schlager allererster Güte, wie der vom » Sans rien dire – sans rien dire –«, ohne Worte, ohne Worte … Da hat er ein altes Kitschlied neu bedichtet, nun geht es auf den Präsidenten der Republik, der immer lächelt. » Avec son plus beau sourire« tut er alles: er trinkt sauern Ehrenwein, sans rien dire, sans rien dire; er hält lange Reden, sans rien dire, sans rien dire; er schießt, auf einer Jagd bei Rambouillet, Herriot in den Popo, avec son plus beau sourire. Wenn Hyspa das singt, funkeln seine kleinen, schwarzen Äuglein wie lackierte Knöpfe.
Bastia ist dick und sieht aus wie der Sohn eines Raubvogels und eines jüdischen Kammerdieners. Er kommt heraus und muschelt erst einen langen Salm durch die Nase, es ist eine Art Einführung, die er gleichgültig zu Boden fallen läßt. Da liegt sie. Über sie hinweg singt der Kammervogel.
Seine Texte gehören zum Allerbesten, was die politische Liedersatire von Paris zur Zeit herzugeben hat. Da ist ein Chanson: » Les prisons de France«, eine monotone Beklagung des hin und her geworfenen Caillaux, geradezu ein Musterbeispiel von witziger Frechheit. Bastia hat gar keine Stimme, aber so viel Witz! Von ihm stammt jene unverschämte Verquickung von Psalm und Politik: zu fingierten Harmoniumklängen des Klaviers spricht die modulierende, verquetschte Stimme einen biblischen Text. »Und Herriot ging aus, an den Golf von Lyon, und er verteilte hundert Painlevés unter das hungernde Volk – und er redete so lange, bis alle satt waren …« Bastias Technik, die Pointen fallen zu lassen, erinnert sehr an Berlin.
Was das betrifft, so dürfte Dorin geradezu an der Pauke geboren sein. Wenn er an der Spitze des Witzes angelangt ist, zieht er ganze Sätze zu einer Silbe zusammen, das Refrainwort » Pourquoi pas?«, das er allen Ereignissen anhängt, besteht überhaupt nur noch aus einem Schnaufer – und auch ihm verdankt man eine Kunstperle bester Güte: das Gedicht von der Ehe. Zwei sitzen zusammen, seit fünfundzwanzig Jahren, rein zum Ekel wird man sich, wie es bei Wilhelm Schäfer heißt – und auch Geschichten zu erzählen hat wenig Wert. Jeder weiß alles vom andern – und der andre weiß das …
»
Car je sais que tu sais,
et je sais que tu sais que je sais,
et je sens que tu sens,
et je vois que tu vois que je vois que tu vois –«
Heiliger Strindberg, ist das eine Geschichte! Und das alles in einer Silbe, und das Publikum bekommt Erstickungsanfälle und erholt sich erst, wenn jener von der Bühne abgetobt ist.
Jetzt aber wollen wir einen gebührenden Zwischenraum frei lassen, denn es naht Martini. Auguste Martini. Der ist allerdings das Ende von weg.
A. Martini, ein runder Mann mit Flatterschlips, mit freundlich runder Brille und ebensolchem Sitzgestell, ist ein ganz böses Luder. Er schreibt nicht nur hervorragend gehässige Antirepublikanismen im »Charivari«, er sagte sie auch auf, und wenn er seine dicksten Unverschämtheiten losläßt, die durchweg reaktionär sind, dann zeigt er die Zähne und lächelt wie seine eigne Tante und überhaupt wie eine Tante – und manchmal legt er auch ein kleines Tänzchen ein und gaukelt mit den dicken Händen, und alles erklärt er mit dem dicken Zeigefinger, so wie ein kleiner Junge, der eine Geschichte erzählt … Und so sind diese Geschichten auch. Man muß hören, wie er die Hochzeitsnacht der nicht mehr jungen Schauspielerin Cécile Sorel, einer berühmten tête de Turque, beschreibt: » Notre chère Sénile Sorel« – wie er treuherzig berichtet, jene habe zur Feier ihrer Vermählung 43.50 Francs für die Armen gestiftet. » On ne peut pas perdre tout à la fois …« Dann zeigt er die Zähne.
Und dazwischen erzählt er gute alte Witze und hervorragend gute neue, und dann sammelt er für den armen Loucheur, der so arm ist, daß er seit Jahren denselben Hut tragen muß: im ersten Jahr hat er das Hutleder erneuern lassen, im zweiten das Hutfutter, im dritten das Band, und im vierten hat er ihn im Café vertauscht … Und alles erklärt der kleine, dicke, kindliche Zeigefinger.
Martini, du Aas. Sei froh, daß du nicht in Deutschland lebst. Da nehmen sie alles ernst: den eignen Beruf, sich selbst und nun gar die Revuen und das Cabaret! Du wärst soziologisch-kapitalistisch-biochemisch eingestellt, rechts orientiert und überhaupt ein Problem. Sing weiter, Dicker. Gibs der Republik ordentlich. Und wenn du König geworden bist, dann will ich dir huldigen, denn ein Martin I. ist immer noch besser als ein Wilhelm II. oder ein Bureauvorsteher imaginärer Größe.
ist so:
Ein hübscher Kerl mit Scheitel und wegamüsiertem Haar sitzt nach sehr erklecklichen Leistungen vor der Dame des Hauses in beiderseitigen Pyjamas, er raucht eine Zigarette. Die Dame sieht ihn an und lächelt. Sie spricht eine Befürchtung aus – vielleicht ihres Mannes oder ihrer Freundin wegen, aber er macht ein Gesicht wie ein Schuljunge, der dem Lehrer faulen Backsteinkäse unter den Stuhl geklebt hat … es wird schon nichts herauskommen. Pö! Es ist noch nie nichts herausgekommen. Hierauf zerdrückte er sorgfältig die Zigarette im Aschbecher, wirft sie auf den Boden und löscht das Licht. Die Dame ists zufrieden.
Übrigens tritt er bei sich – also bei Fursy und Mauricet – auf und singt, wenn er sich nicht einen Bart geklebt hat und sich darüber sowie über die Sätze, die er sprechen muß, lustig macht, Chansons im Smoking. »Frech« ist nicht das Wort. Es ist der Extrakt der Frechheit. Sein Mitsänger ist der alte Fursy, der, wenn Gott genauer hinsieht, Dreyfuß heißt und auch mit jenem verwandt ist, und dessen politische Lieder meist auf dem Niveau einer Kaffeepause im Kriegerverein stehen; er, der an die dümmsten Kleinbürgerinstinkte mit Erfolg appelliert, sollte sich anhören, wie Mauricet ein politisches Couplet dichtet, hinnäselt, vormeckert … Er sagt die unglaublichsten Dinge, oder so glatt und schnell, daß er nicht hängenbleibt, schon reingetreten und weg. Vieles ist nicht übertragbar, das meiste nicht. Ehe ich erklärt habe, warum er Maurice Rostand sagen läßt:
»
Mon Cu –
ré chez les Riches –«
sind wir alle tot. Aber er pfeffert noch schnell das tiefsinnige Chanson hin, das sich auf die großen Anzeigen der Firma bezieht, die da die kleingehackten Makkaronis anpreist, damit man sie bequemer essen kann. Mauricet:
»
Les macaronis, pour être bons,
doivent-ils être courts
ou doivent-ils être longs?«
Schnell fertig sind die Damen mit dem Wort: gibt es da ein Zögern? Nein. Der Wind hat Herrn Mauricet schon hinter die Kulissen geweht, woher er bebartet herauskommt und mit Rip den entzückendsten » quetch« spielt, den man sich denken kann.
Rip – das ist einer der tausend Julius Freunds von Paris, er schmeckt nach Polgar. Er sitzt in einer roten Hausjacke auf der Bühne, telephoniert, singt Vulkslieder mit Flammriebibbern in der Stimme, streut neue Couplettechniken um sich herum, als fiele ihm dergleichen jede Nacht und jeden Mittag beim Aufstehen ein – uns das tuts auch, denn die Pariser Bühnen sind voll seiner lustigen Gesänge. Rip-pip-pip … Hier, in der kleinen Butike, sind seine Texte noch viel besser als in den großen Operetten, frecher, spitzer, schaumiger, und als ich nach einer halben Stunde wünsche, es solle immer so weitergehen, sitzt er wieder am Tisch, in derselben Haltung wie am Anfang, und telephoniert … Wenn ich mich nicht schämte, würde ich am Bühnentürl auf ihn warten.
Eine Dame kommt heraus und weimert ein altes französisches Lied, das ganze Biedermeier ist darin:
» On dit que tu te maries …«
Und Groffe ist noch da, wie alle andern in der eigentlichen Theaterkunst, »unnatürlich zu sprechen«, Nummer Sechs – aber welch ausverschämte Texte und welche Piknase! Wenn euer Charme der Frechheit Nahrung ist, gebt volles Maß … Ick amüsier mir wie Bolle uffn Milchwagen und wünsche, es möge nie, nie aufhören.
Ein schlecht rasierter Mann mit Stilaugen, der aussieht wie ein Droschkenkutscher, betritt in einem unmöglichen Frack und ausgelatschten Stiefeln das Podium. Er guckt dämlich ins Publikum und hebt ganz leise, so für sich hin, zu singen an.
Diese Leichtigkeit ist unbeschreiblich. Es ist gar nicht einmal alles so ungeheuer witzig, was er singt, das kann es wohl auch nicht, denn er singt da gerade das zweitausendvierhundertachtundzwanzigste Couplet seines Lebens, und so viele gute gibt es nicht: aber dieser Fettbauch hat eine Grazie, die immer wieder hinreißt.
Die Pointen fallen ganz leise, wie Schnee bei Windstille an einem stillen Winterabend. Von den politischen will ich gar nichts sagen. Der Mann hat im Kriege geradezu furchtbare Monstrositäten an Siegesgewißheit von sich gegeben – so die typische Bierbankseligkeit des Hurras, die zu gar nichts verpflichtete, bei der schon das Mitbrüllen genügte. Und wenn er heute politisch wird, dann sei Gott davor. Nicht, weil mir die Richtung nicht paßt – sondern weil die Texte verlogen sind.
Diese Pille vorweggenommen: Welch ein Künstler –! Alles geht aus dem leichtesten Handgelenk, er schwitzt nicht, er brüllt nicht, er haucht seine Pointen in die Luft, und alles liegt auf dem Bauch. Ein Refrain immer bester als der andre – wie muß dieses merkwürdige Gehirn arbeiten, daß es zu jeder lustigen Endzeile immer noch eine neue Situation erfindet. Und was für Situationen!
Ein Refrain hieß: »In fünfzig Jahren ist alles vorbei!« Heiliger Fontane, hättest du eine Freude gehabt –! Die Melodie blieb auf »vorbei« in der Terz hängen – erst das Klavier endete sie, und er stand da und machte ein dummes Gesicht. Und sah aus wie ein Kuhbauer und entzückte und charmierte durch seine Grazie. Wenn dich der Zahnarzt, sang er, an einem Zahn durchs Zimmer schleift, und es will gar nimmer enden – »dann mach dir nichts aus der Schweinerei, denn in fünfzig Jahren ist alles vorbei …!«
Und dann ein Lied, meisterhaft, in total besoffenem, von nichts ahnendem Tonfall gesungen: »Ick wunder mir über jahnischt mehr –!« Abends käme er nach Hause, sang er, und da –
Da steht vor meine Kommode 'n Mann –
Der sagt: »Sie! Fassen Se mal mit an!
Alleene is mir det Ding zu schwer …«
Ick wunder mir über jahnischt mehr –
Und dazu ein Mondgesicht, unbeteiligt, mild leuchtend durch die Wolken – was soll man dazu sagen?
Die Leute sagen auch gar nichts, sondern liegen unter dem Tisch, und wenn sie wieder hochkommen, dann verbeugt sich da oben ein dicker und bescheidener Mann, der gar nichts von sich hermacht, obgleich er ein so großer Künstler ist.
Oder hieß es: Abend in einem amerikanischen Tingeltangel?
Wenn das Programm soweit gediehen ist, dann zeigt sich auf der Bühne eine Bühne. Vier kleine Proszeniumslogen, zwei im Parterre, zwei im Ersten Rang und zwischen ihnen ein roter Vorhang. Links betritt mit einem Freunde ein süßer kleiner Mann die Loge. Das ist eine Nummer! Zuerst zieht er aus der Tasche seinen Eßvorrat, den man schließlich zu einem Theaterbesuch benötigt: viele, viele Schrippen. Er reiht sie zärtlich auf, er zählt das braune Gebäck, er beißt alle ein bißchen an und legt alle wieder hin. Von nun an hat er das Maul beständig voller Semmelkrumen, und wenn man spricht oder lacht, sprühen sie. Und muß man nicht lachen, wenn in der gegenüberliegenden Loge ein langer, aber besoffener Kerl im Smoking sitzt? Kaum hat der Kleine ihn gesehen, so gehts los, in einem kreischenden Sopran: »Siiih maaah – ein betrunkener Mann! O Gottogottogott! Ein Betrunkener!« Und gackert und schreit und kreischt, daß das Brot nur so fliegt, bis er merkt, daß der Lange ihn ernst und gemessen anstarrt. Dann bricht sein Gebrüll wie gehackt ab. Wupp – still. Schweigend stopft er Schrippen …
Die Vorstellung nimmt ihren Anfang. Die Logen wirken wacker mit. Der Kleine kann überhaupt nicht stillsitzen, weil sie wohl seinen Sitz geheizt haben, und der Lange hat sich für diesen Abend einen Spaß ausgedacht, jeder Betrunkene hat doch immer nur einen, seinen Spaß: die Nummern, die die Auftretenden ankündigen, aus dem Holzrahmen zu schieben, zu stoßen, zu schlagen. Vielleicht ist das ein Mißtrauensvotum, sicher aber eine liebe Gewohnheit. Und nun fällt das und purzelt und tobt und rast auf der kleinen Bühne umher, bis sich zwei Augenpaare kreuzen, ein Blick hinüber und herüber – und jeder nimmt wieder steif und dumm die gesellschaftliche Attitüde an, die ihm Gott verliehen hat.
Der Lange stößt hie und da sanft auf, fällt auch wohl mit Geprassel in den Logenuntergrund und kommt wieder hoch: ruhig, als ob gar nichts geschehen sei. Der Kleine hingegen ahmt alle Auftretenden nach, imitiert gehässig den sonoren Baß der Manager und hat den Mund voller Krumen. Übrigens treibt er mit der lieben Gottesgabe einen schändlichen Mißbrauch: er dreht sich Operngucker aus den Schrippen, er schießt damit und vergeudet sie überhaupt. Die Vorstellung rollt sich ab wie ein Rad, der Betrunkene ärgert sich über eine Vorhangstroddel, der Kleine kämpft mit dem Ringkämpfer ring, wobei er nicht versäumt, sich auch so ein schönes Leopardenfell über die Hosen zu ziehen – und dabei kreischt er wie ein Vogel, lacht, daß man nicht stillesitzen kann, und spuckt Brot.
Zum Schluß torkelt alles durcheinander: Logen, Bühne, Publikum und Akteurs, und wenn wir uns die Tränen abgewischt haben, müssen wir uns immer wieder verwundern, wie der liebe Gott dem einen Volk spendiert hat, sich seine Komik aus dem Nichts zu schaffen, voraussetzungslos, absolut – und dem andern leider nicht; wie er dem einen solche Kerle gab – und dem andern traute Lustspielhäuser.
Nicht der, der die Proben ansagt, auf Fragen falsche Antworten gibt, sich über nichts mehr wundert und überhaupt den Philosophen macht – den nennt man Theaterdiener, und das ist wieder ein andres Kapitel. Er ist der unbestechlichste Kritiker, den das Theater hat: er weiß wirklich Bescheid. Ich meine die Diener auf der Bühne.
Früher fingen ja alle Possen und Schwänke so an, daß das Stubenmädchen Lisette mit dem Staubpuschel in der Hand die Möbel abpuschelte, mit seidenen Strümpfen, kokettem Häubchen und vielen Blicken ins Parkett. Jean, der Diener, kam hinzu, und sie hatten einen Schwatz. »Nein, wie spät die Herrschaft gestern abend wieder nach Hause gekommen ist. Nicht doch –!« Denn Jean, der Genießer, hat sie in die Schürze gekniffen, und sie schämt sich, bekommt aber doch ihren Bühnenkuß. Da klingelt es, und herein tritt eine der Hauptpersonen des Stückes, die augenrollend und gewichtigen Schrittes das theatralische Vorgeplänkel von der Bühne fegt. Los gehts.
Seit Jahren sammle ich Bühnendiener. Und bin immer wieder erstaunt, was es da alles gibt.
Solange die Welt steht, hat sich noch keine Dienerschaft in irgendeinem Hause so benommen, wie es allabendlich auf den deutschen Bühnen der Bühnendiener tut. Es gäbe auch gar keine Herrschaft, die sich das gefallen ließe.
Die Stubenmädchen kneifen sie ja nun nicht mehr, denn nach einem merkwürdigen Brauch werden solche Rollen oft mit jungen Leuten besetzt, die ihrem Habitus nach eher mit dem Herrn des Hauses ein Verhältnis anzuknüpfen nicht abgeneigt wären. Spitz und geziert rauscht der Edelkomparse herein. Und dann beginnt jenes seltsame Spiel, das sich auf fast allen Bühnen so eingebürgert hat, daß schon kein Mensch mehr etwas dabei findet. Der Diener macht sich nämlich dauernd über seine Herrschaft lustig.
Sei es nun, daß er seinen kleinen schauspielerischen Effet haben möchte, sei es, daß er sich langweilt, oder daß er böse ist, eine solche Rolle spielen zu müssen – genug, er macht dauernd hörbar und unhörbar Tz! tz! tz! auf seine Herrschaft. Diener ziehen immer die Augenbrauen hoch, das ist richtig beobachtet –: aber sie tun das im Leben nur dem mäßig gekleideten Besucher gegenüber – seiner eignen Herrschaft kriecht der Diener in die Knopflöcher.
Diese Bühnendiener zucken die Achseln, werfen den Kopf hintenüber, sind über jeden Befehl schwer entrüstet und chokiert, und über alles, was die Herrschaft tut, spricht, handelt und anordnet, mokieren sie sich deutlichst, bis zum zweiten Rang inklusive. Wir Diener sind doch bessere Menschen …
Und wenn schon abgegangen sein muß, wenn schon ein Glas Wasser, ein Wagen, Herr X. herbeigeholt werden muß: dann gibt es einen Abgang, an dem ich immer viel größere Freude habe als an allen Auftritten der großen Herren. Der Diener hört, sagt beflissen: »Sehr wohl!«, aber doch mit jener Nuance im Ton, die einen gescheiten Diener von einer leider irrsinnigen Herrschaft trennt, geht, geht und hört gar nicht auf zu gehen. An der Tür tut er dann das, was merkwürdigerweise fast alle Schauspieler, und besonders die kleinen, immer tun: er sieht noch einmal unendlich sehnsüchtig, klebend und hangend über die Bühne ins Publikum. Er kann den Blick nicht von dir wenden …
Nur der selige Paulig hat das nicht, weil er zuviel mit seinen Zungen zu schnalzen hatte. Und auch die treuen Diener ihres Herrn, Gottowt, Graetz, Haskel und Guido Herzfeld und andre gute Charakterspieler haben die gestreifte Dienerjacke mit anderm ausgefüllt.
Wenn Sie das nächste Mal ins Theater gehen: achten Sie auf den Bühnendiener. Ich, wann ich so einen hätt, ich tät ihm sofort heraußerschmeißen.
Manchmal findet man alte Schauspielerphotographien. Illustrierte Zeitschriften von gestern gehören bekanntlich zum Rührendsten und Vergnüglichsten, wo man hat – und unter ihnen sind es wieder die Bilder von den Bühnen, die das Herz schmelzen. So:
Der gute Schauspieler weiß eine Maske zu machen, die sich von den Masken auf der Straße gar sehr unterscheidet. Sein König Lear blickt wild; dergleichen kommt auf der Untergrundbahn nicht vor. Sein Kaiser Napoleon leuchtet ein wenig fett und geschichtsbedeutend; das erhabene Gefühl, später auswendig gelernt zu werden, gibt ihm eine Aura kalt-dünner Unterschiedlichkeit; so ein Kerl ist auf keinem Postamt zu finden. Gygesse und Holofernesse, Ophelias und Falstaffs, sie alle blicken uns heute so oder so an, aber immer unalltäglich, besonderlich, anders als … »Rechts oben: der Künstler in Zivil.«
Wenn aber zwanzig Jahre ins Land gegangen sind, hat sich auch der Mensch des Alltags verändert, und nun geht eine seltsame Veränderung mit diesen Bildern vor. Schlag auf, und du siehst:
Der Komiker ist ein albern geschminkter Hanswurst, der recht gewöhnlich aussieht; der Shakespeare-König Heinrich ein höchst braver Bürger jener Tage, mit geklebtem Bart und mühselig funkelnden Augen, er sieht recht gewöhnlich aus; Boris Godunow scheint zu sagen: »Da hinten ist noch ein Tisch frei, Amalie!« – und Napoleon ist ein Statist mit zu engen Hosen. Allen hängt die Verkleidung um die Beine wie ein leerer Sack, sie ist ihnen nicht konform, man glaubt sie ihnen nicht.
Und man begreift nicht, wie sich die damalige Menschheit von solchen Schießbudenfiguren hat täuschen lassen, obgleich sie hat getäuscht werden wollen. Denn uns ist der Klang der Stimmen verhallt, die Namen sagen uns wenig oder gar nichts mehr, das Mysterium um den Künstler ist verflogen, und selbst, wenn es ein anerkannt Großer war, mit Gedenktafel, Rede des Regierungsvertreters im Gehrock und Benutzung des Namens im Silbenrätsel: Maske hat er nicht machen können, sagen die neuen Beschauer.
Denn weil sich auch die Gesichter der Generationen wandeln und weil man vor alten Photographien stets sagen darf: »So sieht man nicht mehr aus!« – so ist jener für uns nur noch ein alter Tepp und jene eine dumme Zuckernaive, denn der Unterschied zu den Alltagsbürgern fällt weg: der Schauspieler ist selber einer geworden. Moden wachsen nach innen, verwandeln den Geist und kehren als Ausdruckssymptom wieder; in schwarzgefärbten Augenwinkeln schluchzt ein Zigeunerwalzer, den die Jazzleute verlachen, und ich möchte nicht dabei sein, wenn sie uns in zwanzig fahren beim Zahnarzt durchblättern, alle miteinander.
Die Mode von gestern ist lächerlich. Selig, wer das Übermorgen erlebt. Seiner ist das Klassische, ein ewiger Wert ist er geworden, und so geht er ein in die Unsterblichkeit: Fritz v. Unruh, die bekannte Schöpfung des Berliner Tageblatts; Paul v. Hindenburg, der Vater der Republik; und Kukirol, der Erfinder der schwarzen Füße. Ihrer ist das Himmelreich.
Als ich noch die Weisheit der Welt in aufgeplatzten Mappen aus der Berliner Staatsbibliothek nach Hause trug, war auch einmal ein kleines Büchlein darunter: »Schopenhauer als Verbilder« von einem Grafen Keyserling, dessen Name keinerlei andre Assoziationen erweckte, als daß er nicht der feine und große Dichter Eduard von Keyserling war. Ich stak damals bis an den Hals in Schopenhauer, las jede Zeile, die ich auftreiben konnte, jeden Brief, jedes aufgezeichnete Gespräch, und befand mich in jenem glückseligen Stadium, um das gläubige Katholiken so zu beneiden sind: es konnte mir nichts geschehen, denn ich war im Besitz des Schlüssels für sämtliche Rätsel des Lebens. Es war alles so schön einfach …
Da las ich jenen. Ich weiß noch genau, daß ich das kleine Buch am liebsten zerrissen hätte: ein solch fataler Dunst von Überheblichkeit, schludriger Philosophie, Unverständnis und Ignoranz schlug mir entgegen. Ich aß es, spuckte aus und vergaß. Sein Verfasser aber ist inzwischen bei denen, die nicht alle werden, ein berühmter Mann geworden, und der Verlag Niels Kampmann in Heidelberg beehrt sich, vorzuführen: »Graf Hermann Keyserling, Das Spektrum Europas, Ein hochkomischer Weltschlager mit dem Verfasser in der Titelrolle.« Wie sagten die Soldaten im Quartier? »Mensch, du bist doch Schriftsteller – steig mal uffn Tisch und mach mal eenen –!« Lasset uns lauschen, lieben Freunde.
*
Bei einem Mann, der sich als Philosoph ausgibt, ist der Stil die Visitenkarte. Er braucht nicht zu glitzern, er kann dunkel schreiben, schwerflüssig … alles sei ihm zugegeben; spricht er aber die Modesprache seiner Zeit, laufen ihm jene fatalen Wendungen glatt aus dem Maul, wie sie von schlechten Journalisten, Klugschnackern und schreibenden Damen gebraucht werden, dann ist ein Verdacht wohl am Platze. Wie schreibt das Spektrum Europas?
»Alle Völker sind natürlich scheußlich.« – Dieses Buch »ist, wie mir scheint, wesensverschieden von allen, die ich bisher schuf«. (Er meint: geschaffen habe.) – »Doch da sich das Leben niemals wiederholt, so hat die wiederhergestellte Einstellung der Tagebuchzeit …« Das hat er von mir; wie es überhaupt von »irgendwie« und »zwangsläufig« und solchen Bonbons wimmelt: »Paris steht und fällt mit seiner rein qualitativen Einstellung«; »Alle Unterschiede erwiesen sich als letztlich auf Einstellungsunterschieden beruhend«; auch sagt der Mann niemals »ich«, sondern immer »ich persönlich«, wie ja denn niemand seine Persönlichkeit so betont, wie der, der keine hat. Diese Sorte Philosophen glaubt wirklich, sie sage etwas Neues, wenn sie statt »Grund«: »Seinsgrund« sagt – schade, daß der Verbilder der deutschen Sprache Schopenhauer das nicht noch erlebt hat … sein Kommentar zu so einem Satz: »Von solcher freien Sinngebung hängt ja alles Schicksal ab«, wäre von Frankfurt bis Darmstadt deutlich zu hören gewesen. »Denn der Mensch als Mensch ist ja der Herr der Schöpfung«, das steht jeder Mensch schon rein menschlich wegen der damit zusammenhängenden Menschlichkeit ohne weiteres ein. Auch neue Wörter bildet der Weltreisende: »Aus Rußland stamme ich als emotionelles und temperamentelles Wesen her«, eine Sprachmusik, die man mit den Klängen der Temperamentella begleiten sollte. Die übertönte dann wenigstens die falschen Noten Keyserlingscher Grammatik. »Man prophezeit den Niedergang Frankreichs von wegen seiner Rentnerpsychologie«, nehm Sie doch einen Schürm, von wejen den Rejen, Herr! Mit dieser Grammatik und solchem Stil ausgerüstet begibt sich der Weise auf die philosophische Wanderschaft.
Die Völker Europas werden durchgesehen, ob sie den Keyserlingschen Forderungen genügen, und es muß gesagt werden, daß zahlreiche Schüler das Ziel der Klasse nicht erreichen werden. Wird auch hier und da ein Lob ausgeteilt: »Aber wie geht es im Innern voran!«, so wird doch andrerseits streng gefragt: »Was soll aus den Griechen nun in Zukunft werden?« – die Griechen das hören, raus aus Athen und sich scheu in den Peloponnes verkriechen: das ist das Werk einer Sekunde.
Der Mann hat viele Reisen gemacht und viele Länder gesehen. Er ist nicht blind, er hat nur eine facettierte Brille auf der Nase, auch steht er sich selbst heftig im Wege, und das ist in diesem Fall kein schönes Hindernis. Sein Start ist nicht schlecht: Russe und nicht ganz Russe … er wäre schon prädisponiert, Europa zu erkennen und es uns zu erklären. Aber mit welcher Leichtfertigkeit macht er das, wie oberflächlich, mit welch peinlicher Fixigkeit!
»Man erinnere sich der Szene, als beim Untergang der Titanic alle Frauen und Kinder in die Rettungsboote gesetzt wurden und die Männer gelassen beim Gesange des Chorals Nearer, my God, to Thee, in die Tiefe sanken.« Ist er dabei gewesen? Er sollte wenigstens fleißig Literatur lesen; es gibt andre Schilderungen dieses Vorganges, wo seltsam viele Reisende der Ersten Klasse gerettet wurden, die offenbar ihrem Gott noch näher gewesen sind. Fehler machen mißtrauisch, und er rechtfertigt dies Mißtrauen. Von Frankreich: »Der wunderbare französische Sinn für Maß und Einklang wird ihm früh oder spät auch seine heutige reaktionäre Phase überwinden helfen.« Nun ist das objektiv falsch: Frankreich befindet sich, an französischen Verhältnissen gemessen, in keiner reaktionären Phase; das Land ist eine plutokratische Republik, und der Sinn für Maß und Einklang bewährt sich hier alle Tage. Wie soll davon freilich einer etwas wissen, der folgenden Satz über die Schreibmaschine bekommt: »Nur Deutsche konnten vom Wunder der Rentenmark begnadet werden; es waren eben alle aus Grund der Idee des Goldwerts bereit, alles Vermögen auf einmal zu opfern.« Ich weiß nicht, auf welcher ausländischen Bank Hermann Keyserling im Jahre 1923 sein Geld deponiert hatte; seine Unwissenheit und seine Gemeinheit halten sich hier jedenfalls die Wage. Wer war denn damals bereit, sein Vermögen zu opfern? Es war ja gar keins da! die Leute in den Städten hatten ja nichts mehr, als die Deflation kam! und der verbrecherische Staatsbetrug, auf dem Rücken der getäuschten Steuerzahler die auswärtigen Gläubiger im Konkursverfahren zu schädigen, hat die tobsüchtigste und roheste Zeit der Selbsterhaltung heraufgeführt, an die wir voller Schrecken nur deshalb nicht zurückdenken, weil wir nicht mehr an sie denken wollen. Fehler, Seite für Seite: »Das klassische Weimar … bedeutet heute schon für Deutschland Ähnliches, was das klassische Athen der Menschheit bedeuten würde, wenn es erhalten wäre, und wird der ganzen Menschheit sehr bald Ähnliches bedeuten.« In welchen Ländern hat der Philosoph Spuren für diese Entwicklung sehen können? Tatsächlich schwindet der Kern Weimar immer mehr aus dem deutschen Volkskörper, und an einer der wenigen vernünftigen Stellen dieses Geschwätzes findet sich die gescheite Bemerkung: »Der Urtypus des Deutschen ist schon lange nicht mehr Siegfried, sondern, in modernem Bilde, Stresemann«, ein Satz, den man durchaus ohne Ironie lesen sollte. Wo hat jener seine Augen?
Wahrscheinlich hinter einem unsichtbaren Monokel. Wir sind keine Adelfresser, aber über den Adel stehen geradezu alberne Dinge in diesem Buch. Weiß dieser Europäer nicht, was der Adel im Kriege getrieben hat? Er weiß über den Adel so wenig wie über den Bolschewismus, dem er, zur Abwechslung, vorwirft, seine Welt entbehre jeder Gefühlskomponente – ganz im Gegensatz zu den »tüchtigen Kaufleuten«, die uns erzählen, mit Sentimentalität und Pathos könne man keinen Staat aufbauen … es ist nicht leicht im menschlichen Leben. »Während der Weltrevolution hat der Adel überall seinen Ruin weit bester überstanden als der Bürger.« Vor allem in Deutschland, das seinen Adel füttert, statt ihn vom Trog zu stoßen, und ich kann mir denken, wie die fein empfindenden Philosophen der Schule der Weisheit zusammenzucken, wenn ihnen jemand etwas derartiges einwendet. Ihr Mangel an sozialem Verstand ist vollkommen.
Dieser lebensferne Plauderer, der eine Handbreit über dem ordinären Boden schwebt, auf dem Menschen ackern, schwitzen, jammern, stöhnen und einander quälen, fällt schiefe Urteile und halbrichtige, die ja gefährlicher sind als falsche – der Mann hat unendlich viel gelesen, weiß sehr vieles und weiß nichts, weil er nichts ist. Welch ein Philosoph!
Nach dreißig Jahren Freud: »Das Primitive bestimmt, doch im Bewußtsein herrschen andere Motive vor. Dies ist die wirkliche Ordnung, und die meisten Mißbegriffe der Freudschen Psychoanalyse beruhen darauf, daß sie diese natürliche Ordnung umzukehren versucht.« Kann der Mann nicht lesen? Er kann nur schwätzen: sie müssen ihn mit einer Grammophonnadel geimpft haben. Dieser Plauderer, der sicherlich in seinem Leben noch nicht geschwiegen hat, macht den Eindruck eines unermüdlichen Redners, der auf jeden Einwand ein neues endloses Geschwafel losläßt, was, von ihm an dem »unaufhörlichen und uferlosen Strom von Geschwätz in den amerikanischen Zeitungen« exemplifiziert, ein Zeichen lebhaften Temperamentes darstellt.
Das lebhafte Temperament versteht alles, aber fast alles falsch. Er erzählt von der modernen Frau und wirft ihr »Zerstörung allen Liebreizes durch Wind, Wetter und Sonnenbrand« vor, und er hat vor allem die seit Spengler vielgetragene Unart angenommen, Dinge, die nichts miteinander zu tun haben, um einer Theorie willen gleichzuordnen. »Alles große Deutschtum war denn tatsächlich Bekennertum in irgendeinem Sinn … Luthers ›Hier stehe ich, ich kann nicht anders‹ war Bekennertum; so ist es aber auch der Exhibitionismus deutscher Hochzeitsreisender.« Abgesehen davon, daß die heute in dieser Witzblattform nicht mehr bestehenden schlechten Manieren deutscher Reisepärchen gar kein Bekennertum gewesen sind: Philosophie ist demnach die Lösung der Frage: »Wie kommt das zu dem –?«, und er sagt es uns, und er weiß es immer. Vermanscht werden seine Irrtümer stets mit jener verblasenen Terminologie, die jede Ausrede gestattet. »Die eigentliche Geschichte des Ostens Westeuropas hat ungefähr um tausend Jahre später begonnen als die seines Westens.« Wollte jemand mit dem Finger aufzeigen, so würde der Klassenlehrer ein nimmer endendes Gerede über den Sinn des Wortes »Geschichte« loslassen; behalten wir also den Finger lieber unten. Nichts stimmt; alles ist halb; alles ist angelesen, schlecht angelesen, unsorgfältig angelesen. »Ist die Psychologie der Massen so viel primitiver als die jedes einzelnen, so ist das sehr einfach daraus zu erklären, daß in der Masse nur die empirisch-psychologischen Elemente, also die bloßen Ausdrucksmittel des Metaphysischen, das eigentlich Menschliche, zum Ausdruck kommen.« Sehr einfach. Nun sagt »das eigentlich Menschliche« überhaupt nichts, das Wort ist ebenso leer und nichtssagend wie »das Sein«, und Keyserling braucht nichts von der Reflexologie Bechterews zu wissen, der ich für meinen Teil nicht folgen kann … »die Psychologie der Massen« gibt es in dieser Form überhaupt nicht, und der Klassenlehrer ist schlecht präpariert, weil er sich nicht die Mühe genommen hat, zu lernen, daß Massenpsychologie aus jenen noch ungeklärten und unerforschten Spannungen zwischen den Individuen besteht.
Statt dessen verknüpft der Inhaber der philosophischen Plato-Bar lose Einzelheiten, mixt ein paar vage Behauptungen in einem nicht sehr reinlichen Becher und serviert sie mit dem Wort »Also habe ich erklärt« … Prost.
Der Bursche arbeitet vor allem mit einem Trick. Er will imponieren. Der Leser soll sich hinter einer bestimmten Art Sätze, die etwa alle zehn Seiten wiederkehren, sagen: »Donnerwetter, ist das ein Kerl!« (Herr Grünlich in den Buddenbrooks: »Ja, ich bewohne im Hotel meine zwei Zimmer …« – »Zwei Zimmer!« dachte die Konsulin, und das war es auch, was sie sich nach der Absicht des Herrn Grünlich denken sollte.) Da kriegt es zunächst der Untertan im deutschen Leser. »Manche werden vielleicht zu schwerfällig sein …« Denn jener ist es nicht; er ist leicht, gefällig, und immer up to date. »Während der wilhelminischen Ära war ich für Deutschland extremer Demokrat. (Man beachte den Schluderstil!) Wie ich aber bei Ausbruch der deutschen Revolution in Berlin weilte, wie (er meint: als) ein bisher traditionalistischer Bekannter nach dem andern über Nacht Sozialist wurde, und ich gefragt ward, wie ichs jetzt zu halten gedächte, da erwiderte ich: Von jetzt ab setze ich auf Aristokratie.« Ein fauler Tip; sagen wir: 880: 1. Man hat von Harden fälschlicherweise gesagt, er habe immer das Gegenteil von dem geschrieben, was alle gesagt hätten: dieser scheint sich nur durch solche Wippchen von der Masse abheben zu können. Eine Warenhauseleganz.
Der sorgfältig angeseilte Alpinist in der Tiefebene schwitzt vor Eifer, um nur ja dem Leser zu imponieren. »Doch nicht das Russische melancholischer Artung, das der grenzenlosen braunen Ebene oder der blauen Ferne entspricht mir, sondern eben das Dionysische, dessen berufene Kinder die Zigeuner sind. Es ist ein sehr Merkwürdiges um dieses Wandervolk. Seine Harmonik und Melodik sind indisch; so mancher heilige Gesang, den ich in Indien vernahm …« Also das macht Ewers nun viel besser, aber schließlich müssen ja die Reisespesen herauskommen. Da ist auch jenes uralte Kartenkunststück, sich in eine historische Reihe zu stellen, denn Größe färbt unmerklich ab, tritt über die Ränder … »Handele es sich um Harnack oder Patkul, Alexander von Dettingen (der müßte dich gekannt haben, Hermann!) oder Karl Ernst von Baer, den Chirurgen Werner Zoege von Manteuffel, den letzten Estländer des traditionellen großen Formats, Alexander Keyserling, meinen Großvater, den Mongolenhäuptling Ungern-Sternberg oder mich …« Alles in Ordnung. Immer drängt er sich vor; immer deutet er an, was er für ein Stern erster Ordnung sei, stets erklärt er an sich herum, aber wir wollen das gar nicht hören, denn so interessant ist er nicht. Ich glaube aber, herausgefunden zu haben, wie er das macht – er macht es mit der unsichtbaren, vorher berechneten Klammer. Ich will das einmal zeigen.
»Wie ich kaum vom Vortragspult im festlich geschmückten Saal des Stockholmer Grand-Hotels, den die erste Gesellschaft Schwedens, Hof, Regierung, Geburts- und Geistesadel füllte, abgetreten war – (Donnerlittchen! Richtig im Hotel? Vor einem hohen Adel? Und vor der schwedischen Regierung? Vor dem … vor dem König auch? Das macht Spaß, so einen vornehmen und berühmten Autor zu lesen. Weiter!) – vernahm ich Lautenklänge.« (Interessant, so eine Reise.) »Als ich mich umwandte, sang schon ein Bänkelsänger ein lustig Lied. Ein deutscher Freund brauste auf: wir sollten fortgehen – (um Gottes willen, Herr Keyserling, Sie werden sich doch nicht hinreißen lassen!) – das sei doch unerhört nach einem so tiefernsten Vortrag. Ich erwiderte, wir kennten die Landessitten nicht; mißfielen sie uns, so hätten wir nicht kommen dürfen. (Sehr vernünftig.) … Beim Souper fügte ich mich dann selbst in den mir neuen Rahmen ein. Ganz furchtbar ernste Reden waren auf mich gehalten (Direkt auf Ihnen? Ach, muß Ruhm schön sein!) – vielmehr bedächtig von Maschinenschriftvorlagen abgelesen worden. Da schlug ich eine andere Tonart an, indem ich zunächst die Schlußszene von Platons Gastmahl evozierte – (Ohne Maschinenschriftvorlage? Unmittelbar aus dem Kopf? Toll!) – wo Sokrates und Aristophanes als letzte unter den Zechern den Morgen wach erwarteten … Damit war aller Bann gebrochen. (Weiter, weiter! Und der König? Und die Königin? Waren die auch da? Nein, wie hinteressant –!) … Ich entsinne mich phantastischer Szenen in einem alten Kellerlokal, wo, als wir bei Wachskerzenbeleuchtung (Famos. Wie bei Reinhardt) – zur Begleitung Bellmanscher Balladen zechten (das Wasser läuft mir in der Luftröhre zusammen), ein Gast einmal, zerschlagenem Geschirre folgend, vom Obergeschoß köpflings über die Stiege vor unsere Füße stürzte – (In solchen Gefahren haben Sie geschwoben? Das ist ein feines Buch! weiter!) – ich weiß nicht mehr, ob lebend oder tot, Notiz nahm keiner von ihm.« Ein alter Wikinger, der sich oft mit Persern stach. Kasimir Keyserling ist der vollendete Handhaber der Imponierklammer.
In diesem Menü, wo es Zuckerrübenmarmelade und viele Bouletten auf Gänseleberart gibt, stehen, wie es denn nicht anders sein kann, auch kluge und richtige Sätze. Es sind nicht so viele, daß der Verleger sie in Leinen hätte binden können – aber ein paar sinds schon. So dieser: »Und ist es jüngst weniger der Unteroffizier als der Sparkassenbeamte, der zum Reichskanzlerposten für prädestiniert gilt, so ist das kaum ein Vorzug zu heißen.« Sowie: »Keine Sache ist wirklich ernst zu nehmen, nur der lebende Mensch ist es«, und dann gibt es da eine wirklich echte, saubere und kluge Schilderung seiner Rückkehr nach Estland: »Ich war als Gespenst heimgekehrt«, sagt er, es gehört für einen Balten sehr viel Mut dazu, dergleichen hinzuschreiben. An einer einzigen Stelle bringt er sogar so etwas wie Selbstironie für die Schule der Weisheit auf. Im ganzen aber schwimmt er wie Kork auf den Wogen des Geschmuses.
Was ist das nun –?
Es ist die weitverbreitete, es ist die typische Literatur des Singular: jene Weltbeschreibung, die sich der Lächerlichkeit solcher Urteile wie: »Die Einwohner dieser Stadt haben rote Haare und stottern« wohl bewußt ist, und die deshalb denselben Unfug im Singular sagt, Typen erfindend und Paradigmata bauend, Puppen leimend und mit bunten Bleisoldaten hantierend, und alles schief und krumm und falsch. »Der Reiche« und »der Amerikaner« und »der faustische Mensch« und »der katholische Jüngling« und so in infinitum. Es stimmt alles nur halb; nichts ist ganz richtig, nichts sitzt, nichts ist wirklich gearbeitet. Oben auf dem Kuchen erglänzen die Superlative, die Nietzsche in die Literatur eingeführt hat … der Papagei schnarrt und sagt schreiend seins auf. Lasset uns diesen Vogel zudecken.
Es wirkt aber. Die Deutschen und solche, die es werden wollen, lassen sich imponieren, der Mann hat Zulauf, die Konditenbäckerei ist schön voll, und alle schmatzen beim Essen. Welche kaum vorstellbaren Blasen eines mäßig fundierten Größenwahns der Erfolg bei Keyserling im tiefsten Seinsgrund zwangsläufig irgendwie ausgelöst hat, das wollen wir nunmehr rein menschlich betrachten.
»Und daraus ergibt sich völlig unzweideutig zweierlei, was künftige Kritiker wohl berücksichtigen mögen: Erstens daß Graf Keyserling bis heute trotz aller Wirkungskraft und sogar Popularität seiner Persönlichkeit nahezu ebenso unverstanden ist, wie es Nietzsche bei Lebzeiten war. Und zweitens, daß er nicht darunter leidet. Er ist wirklich ein Einsamer, wesentlich; sein Verhältnis zu den anderen ist ein rein schenkerisches, er bedarf ihrer nicht. Es wäre gut, wenn in Deutschland endlich begriffen würde, daß es auch solche gibt.«
Mitteilungen der Schule der Weisheit, Darmstadt
Deutschsprachige Ausgabe
Auf den Tagungen der Schule der Weisheit sprechen neben dem Philosophen, dessen Verlag einen Armleuchter rechtens im Wappen führt, ebensolche Schwätzer wie er, sowie ernste und vernünftige Leute. Aus den gedruckten Berichten ist eine geistige Einheit dieser Vorträge nicht zu ermitteln. Sie muten den Außenstehenden wie ein überflüssiges Gesellschaftsspiel an; die Möglichkeit, daß die Lokalatmosphäre einen andern Eindruck hervorruft, soll offen gelassen werden. Nun ist das aber in Deutschland so, daß auch nur etwas hervorragende Geister entweder allein bleiben oder ihre Anhänger zur Sektenbildung verführen. Das insulare Nebeneinander der zehntausend »Meister«, die Deutschland aufweist, ist grotesk; jeder in seinem Zeltlagerchen unfehlbar und ein kleiner Papst; jeder angebetet und sinnlos, weil beziehungslos verehrt, und jeder von dieser faden und fatalen Ausschließlichkeit erfüllt, die den falschen Fanatiker vom echten unterscheidet. Die Qualität der Gefolgschaft ist die beste Kritik des Führers.
Wenn über Keyserling nichts vorläge als die Hefte »Der Weg zur Vollendung«, so genügte das zur Information reichlich. Ihr Eindruck ist vernichtend.
Die Aufsätze des Schriftgelehrten verdienen keinerlei Kritik. Aber was er da über sich und sein Werk zusammenschreiben läßt – im Sinne von: faire und laisser –, bewirkt in unsereinem das Gefühl, das entsteht, wenn einer auf dem Konzertpodium steckenbleibt. Man schämt sich für ihn.
Am lustigsten ist seine Mischung von belehrender Weisheit und ungezogener Dreistigkeit, die dem Mann nach allem, was wir über ihn zu hören bekommen haben, eigen sein muß. »Der Gegensatz ist für ihn nicht das letzte, ebensowenig wie der Kontrapunkt für einen Beethoven das letzte war.« Das ist bar jeden Sinnes – aber möge er. Daneben: »Und selbstverständlich ist es, daß Graf Keyserling sich hier jedes Dreinreden verbittet.« Der Philosoph Husserl! Nehmen Sie Ihren phänomenalen Bauch zurück! Cassirer! Hat der Kerl wieder seinen Logos nicht geputzt! Verfluchte metapherdammte Himmelhunde! Vizefeldwebel der Weisheit, Untroffzier oder Schersant – das ist hier die Frage.
Über die Ausdrucksweise des Mannes, die wie jeder Stil Gedanken und Gedankenlosigkeit verrät, ist kaum noch zu reden. »… Keyserling habe ihm gesagt, er fände die Stimmung auf dieser Tagung um 1000 Prozent gehobener …« das gibts nur noch bei Roda Roda, wo ein Wendriner, von seiner Gattin auf die Schönheit des Sonnenunterganges am Meere aufmerksam gemacht, antwortet: »Na, und der Posten Möwen ist gar nichts –?«
Nichts komischer, als wenn ein Mittelmäßiger Genie posiert. »Es ist nicht zu glauben, was mir monataus, monatein zu lesen zugemutet wird.« Und uns erst –! Dabei hat er es noch gut: er braucht wenigstens nicht seine eignen Schriften zu lesen … Immer protzt er, und immer will er imponieren. Da hat er ein Buch aufgetrieben, das ihm die philosophischen Grundlagen des Faschismus zu enthalten scheint. Folgerung: »So war es denn wieder ein Philosoph, zu dem die spätere politische Wirklichkeit als zu ihrem geistigen Vater aufzublicken hat.« Dahinter die unsichtbare Imponierklammer: »Achtung! Ich bin auch ein Philosoph. Also …«
Für die Anhängerschaft ist offenbar nichts zu billig. Sie wird zensiert, angeschnauzt, geschurigelt und kommandiert – wahrscheinlich tut das den Leuten wohl. Der alte Trick, die eigne Kleinheit durch die Größe des Vorzimmers zu verdecken, wird auch hier angewandt. Er schreibt nicht alles »persönlich« – manches läßt er auch durch seine Leute machen. Von einem Buch des seligen Oskar A. H. Schmitz: »… enthält u. a. den folgenden Passus, welcher dem Grafen Keyserling besondere Freude bereitet hat, weil er seine von ihm persönlich gemeinte Stellung in der Schule der Weisheit sehr glücklich formuliert.« Schmitz, einen rauf! Kann er aber nicht – es sind lauter Primusse.
Von den dienenden Schreibern wird Keyserling behandelt wie der liebe Gott, Luxusausgabe. »Wir sehen uns gezwungen, jetzt auch schriftlich kundzugeben, was bisher in dieser Form nur mündlich verbreitet wurde: daß Graf Keyserling außerordentlich dadurch gestört wird, wenn er ohne Voranmeldung eine Woche vorher Besuch erhält.« Abgesehen davon, daß diese Schüler der Weisheit keinen Satz schreiben können, ohne einen schweren Fehler der Dummheit zu machen: das ist der typische Sektensatz. Genau so hat es um Rudolf Steiner geklungen; diese respektvolle Behutsamkeit auf Filzparisern – tritt nur einmal kräftig mit dem Stiefel auf, und Größe und Isoliertheit zerstäuben wie Mottenpulver.
Aber sage mir, wen du zu Gegnern hast, und ich will dir sagen, was du für ein Kerl bist. Dieser zum Beispiel hat Blühern.
Das ist der Philosoph der Berliner westlichen Vororte, in denen die Kleinbürger wohnen, ein ewiger Steglitzer. Er hat sich bis ins Mannesalter etwas durchaus Infantiles bewahrt – nicht etwa Jungenhaftes, sondern eine stehengebliebene Pennälerphantasie: alles, was er schreibt, trägt heute noch die Pickel einer mühevollen Zeit … Der also hat einen »offenen Brief« an Hermann Keyserling gerichtet: »in deutscher und christlicher Sache«: ein Buchhalter, der auf einen Maskenball als Martin Luther geht. »Die Elemente der deutschen Position« heißt das Ding.
Was die beiden voneinander wollen, weiß ich nicht. Keyserling hat den andern für einen großen Magier erklärt, und Blüher buckelt vor jenem herum, ein ziemlich scheußlicher Anblick. Seite 41: »Deutschland weist von allen Ländern am markantesten und unfehlbarsten zwei solcher verpflichtenden Gestalten auf, die durch ihr Alter schon in die mythische Sphäre gerückt sind, und denen deshalb, ja nur deshalb, eine wahre historische Macht innewohnt.« Wer? – »Hindenburg und Stefan George.« Dies ist das schönste »und«, das je in deutscher Sprache geschrieben worden ist.
In Blüher tobt durchaus und durchum der Kampf der Tertia. »Von George noch zu reden erübrigt sich; aber es ist Ihnen vielleicht neu, zu erfahren, daß Hindenburg der angesehenste Mann der Welt ist.« Fragen Sie den Vorsteher des Weltpostamts in Steglitz, und er wird Ihnen das bestätigen.
Rührend die den Faschisten abgeborgten Versuche, die Exzesse eines wild gewordenen Volkstums als »modern« und die Demokratie (lies: Sozialismus, lies: Bolschewismus, lies: Judentum, lies: und überhaupt) als abgestandene Reaktion aufzuzeigen. Wenn Mussolini das in Italien donnert, so mag daran ein Gran Wahrheit sein; wenn diese wolkigen, schwammigen und des saubern und hellen Denkens unfähigen Gehirne, etwa um Stadler, das besorgen, so wirkt es rührend. Stellenweise ist das Heftchen sanft übergeschnappt – ist Blüher nie aus Deutschland herausgekommen? Deutschland, »das Land, gegen das alle Welt mit Recht Krieg führt (weltlich gesprochen), weil alle Welt das Zustandekommen der germanisch-christlichen Sakralunion verhindern will.« Kann diesen Leuten denn niemand eine Schiffskarte nach London kaufen, damit sie sich einmal mit gebildeten Engländern unterhalten?
Dies ist unter anderm die Sorte Literatur, die Keyserling hervorruft, und wir wollen gewiß nicht stören; dergleichen geht ja wohl nur die Beteiligten an. Und Jungnickeln. Der schreibt über Blühers Buch: »Wir hatten im Felde einen Major, einen eisernen, spartanischen Kerl, der keine Etappe kannte, kein Hintensitzen, wenn alles vorging. Seine Losung war: Sieg oder Tod! Da las ich das obige Buch, und sofort war er wieder da, der große graue Schatten dieses Soldaten. Ein verwegener Kämpfer.« So, und nun geh wieder in dein Körbchen.
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Das alles aber läßt den Darmstädter Armleuchter nicht ruhn. Er reist.
Man hat uns erzählt, wie sich Keyserling in Amerika betragen hat. Wie ers anderswo treibt, läßt er in seinen »Wegen zur Vollendung« verkünden. »Von Budapest ging es nach Rumänien, wo Graf Keyserling eine Woche lang geradezu großartig aufgenommen wurde. Die Seele der Interessierten war die Fürstin Alexandrine Cantacuzène … Alles, was in Rumänien führt, wetteiferte darin, der Person und dem Werk des Grafen Keyserling sein Interesse zu bekunden, von der Königin über die Spitzen der Regierung … (Imponierklammer: »Wat sachste nu –?«) … Besonderer Dank gebührt hier dem deutschen Botschafter Nadolny …« Das ist ein weites Feld.
Der Typus des mittlern deutschen Diplomaten ist nach dem Kriege zweifellos um eine Winzigkeit besser geworden; es geht auf den Botschaften und Gesandtschaften allerdings noch etwas unsicher zu … Macht diese Sorte meist reaktionärer Beamter das, was in jenen Kreisen »Kulturpropaganda« genannt wird, so hat man immer den Eindruck, daß ihnen der Kragen reichlich eng wird; sie fühlen sich nicht sehr wohl dabei. Erstens interessieren sie sich einen Schmarren für die deutsche Kultur, wenn es sich nicht um die zu nichts verpflichtende Musik handelt; zweitens kann man nie wissen, und drittens besteht durchweg und überall noch die Anschauung, daß der Eingeladene allemal der Geehrte sei. Darin werden diese Beamten des Auswärtigen Amts durch die Kriecherei der meisten Künstler und Journalisten stark unterstützt, aber jeder wird schließlich so behandelt, wie er es verdient. Die »Prominenz« ist von ihrer eignen Wichtigkeit begeistert, und was darunter ist, katzbuckelt. Denn die tiefe Unsicherheit dieses Bürgertums ist heute noch so groß, daß es hochgeehrt die Luft dieser Kreise einatmet, deren Qualifikationsvokabeln von: »höchst übel« bis: »ein sehr ordentlicher Mann« reichen, und niemand ist so hoffärtig und hoffertig wie der diplomatisch »akkreditierte« Journalist, vor dessen Verlag der Diplomat lange nicht so viel Angst hat wie der vor ihm.
Die Botschafter und Gesandten selbst können ihre wahre Natur nicht lange verleugnen. Es mag sein, daß an kleineren Plätzen wahrhaft demokratische und innerlich freie Männer sitzen; das Gros besteht aus den Korpsbrüdern des Herrn Domela, und weil jeder Deutsche zunächst gegen jeden Deutschen ist, so ist die Atmosphäre auf einer Durchschnittsbotschaft nicht gerade als sehr amüsant zu bezeichnen. Immer wieder erschreckend ist die tiefe Beziehungslosigkeit dieser reichlich überschätzten Funktionäre zu allem, was Deutschland wertvoll macht; wirklich wohl fühlen sie sich nur unter ihresgleichen, unter Beamten, Militärs, Adel, Gutsbesitzern und sehr reichen Industriellen. (Am besten wäre demnach ein ehemaliger Generalstabsoffizier von Adel, mit Petroleumaktien.) Es ist nicht sehr erheiternd, zu sehen, wer noch immer Deutschland im Ausland repräsentiert.
Was diese Kulturzentren mit Keyserling anfangen könnten, ist leicht zu verstehen. Ein Philosoph, gemildert durch den Grafentitel, ein Graf mit einem leichten philosophischen Fleck auf dem Wappenschild – damit ließe sich auskommen. Aber selbst denen hat er Kummer und Elend gemacht; selbst denen ist er auf die reichlich dicken Nerven gefallen; selbst in diesem Milieu hat er keinen Erfolg gehabt: eine Schießbudenfigur, drei Schuß zu fünfundzwanzig.
Was er sonst im Auslande anrichtet, ist, ganz im Gegensatz zu seinen rosigen und donnernden Schilderungen, als Unfug anzusprechen. Ein schwedischer Diplomat sprach mir jüngst mit Ironie und Entrüstung von der Schilderung, die jener von den schwedischen Frauen entworfen hatte, und er tat es ohne Scheu, weil es ja weit über den lächerlichen Paß hinaus eine Internationale der vernünftigen Menschen gibt. »Niemand nimmt ihn bei uns ernst,« erzählte der Schwede, »man hat über ihn gelacht.« Die Leute müssen auf schwedisch gelacht haben, denn Keyserling, der kein Schwedisch versteht, hat es für Beifall gehalten. Skal –!
Der Weg zur Vollendung? Bitte zweiten Gang, die erste Tür rechts.
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Die Pariser Chansonniers haben eine Reihe bekannter Größen, über die sie sich ständig und traditionell lustig machen: Citroën und Cecile Sorel und Mistinguett und Doumergue – » têtes de Turque« nennt man das. Dazu scheint mir jener gut genug. Im Ernst soll von ihm nicht mehr die Rede sein.
Im Ernst repräsentiert Hermann Keyserling nichts als eine gewisse schlechte und gleichgültige, wertlose und ephemere Schicht Deutschlands. Er ist ein gefährlicher Exportartikel, ein Kerl, der auf den verbogenen Stelzen seines Stils durch die Welt stakt, ganze Porzellanläden umwirft und bestimmt überall da aneckt, wo es den Inhabern der fremden Wohnung weh tut. Immerhin gibt es in Deutschland rechts und links wertvolle, vernünftige Menschen … Unsere Aushängeschilder aber heißen: Graf Luckner, Reichskanzler a. D. (außer das) Michaelis; Altreichskanzler Fürst Luther; Reichswehroffiziere aller Schattierungen, von so grün bis zum tiefsten Schwarz, Schnellschwimmer, Schnelläufer, Schnellboxer und ein Schnellredner: der Darmstädter Armleuchter.
Literatur:
F. M. Huebner »Das andere Ich«
F. M. Huebner »Das Spiel mit der Flamme«
Wolfgang Wieland »Der Flirt«.
Dürfen darf man alles – man muß es nur können.
Es gibt einen großen Bereich der deutschen Literatur, in dem nichts getan wird als: Banalitäten feierlich gesagt, einfache Vorgänge barock dargestellt, das Leben ins »Literarische« transponiert. Das geht bis hoch hinauf … Unten siehts aber auch ganz munter aus, und so will ich denn aus dem Rinnstein ein paar Blätter auffischen und, sie mit dem Spazierstock betrachtend, an ihnen lernen, wie man es nicht machen soll.
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Ist es ein Zufall, daß im Werk jedes Klassikers die sexuelle Detailschilderung nur nebenher vertreten ist? Im Zeitalter der Bäumer und Konsorten muß man sich erst aus einer falschen Gesellschaft herauswinden, um zu sagen, daß es gute und zu billigende Gründe gibt, die Koitusschilderungen verbieten. Da ist erst einmal, zu allererst und zu alleroberst, die Empfindsamkeit des Dichters: hat er die nicht, soll er die Hände von dergleichen lassen. Da ist auch, von den paar Fällen genialer Psychopathen abgesehen, der leise Verdacht der Spekulation, eben jenes Motiv, das unsereinen die Halbnacktkunst aller Art ablehnen läßt: man will nicht, frische Luft vorziehend, unter grinsenden Verhinderten sitzen. Jeder echte Kraftüberschuß gehört nicht hierher, nicht die Visionen der vom Geschlecht Besessenen, nicht das Spiel mit der Erotik.
Es besteht aber eine Sorte Literatur, deren Verfertiger verdienen, auf die Finger gehauen zu werden – und diese Beispiele da oben sind geradezu abschreckend schön.
Um Huebnern tuts mir leid. Der Mann ist noch unter S. J. ein anständiger und kluger Mitarbeiter der »Weltbühne« gewesen, und was in ihn gefahren ist, mag der Kuelz wissen. Bei ihm gibt es zunächst, als Vorspeisen, hochfeine Gespräche mit der Dame seines, sagen wir, Herzens.
»Sie sprechen in Rätseln.« – »Die Sie hinlänglich durchschauen.« – »Sie scheinen sich auszukennen.« – »Worin?« – »In diesen Rätseln.« – »Nur … theoretisch.« – »Belehren Sie mich.« – Und so.
Des weiteren sind da Gesellschaftsschilderungen, Darstellungen von Pariser Bars, Restaurants – es gibt heute in allen Ländern eine solche Literatur, und immer ist sie nach demselben Rezept gearbeitet. »Der salonartige Raum wies vor der Hand mehr Hausangestellte denn Gäste auf.« Es ist ein Salon da. »Er schritt zum Kleiderständer, wo im Halter die Auslese javanischer Reitgerten hing …« Es sind javanische Reitgerten da. »Auf der Kommode, zwischen den hohen altchinesischen Vasen lagen Bücher größern Formats, die Histoire des Peuples de l'Orient von Maspero, eine englische Ausgabe des Rubajat und die Reise ins Land der vierten Dimension …« es ist überhaupt alles da. Denn dies ist das hervorragende Stigma einer ganzen Literatur: es imponiert ihnen.
Josephine Baker tanzt: es imponiert ihnen. Ein Botschafter sitzt in der Loge: es imponiert ihnen. Jemand spielt Polo: sie liegen auf dem Bauch. Und statt erst einmal das, was geschieht, unfeierlich zu sehen, um dann seinen Zauber ganz zu empfinden, umbrodelt die Geschehnisse ein süßer Schmus. Erst imponiert es ihnen: dann aber geben sie sich einen Ruck, machen das hochmütige Gesicht, das der Deutsche vor dem Kellner aufsetzt, wenn ihm nicht ganz wohl zumute ist, und ein lauernder, blitzschneller Blick zum Leser fragt: »Hast du auch bemerkt, wie es mir gar nicht imponiert?« Und: »Was sagst du nun? Was bin ich für ein Kerl? In welchem Milieu bewege ich mich? Woher habe ich diese feinen Beobachtungen? Imponiert es dir?« Denn das soll es.
Aber es ist ein Irrtum zu glauben, eine Darstellung werde dadurch beschwingter, daß man einen amerikanischen Mann »Mister« nennt oder mit fuchtelndem Handgelenk Getränke aufzählt, die in fremden Ländern getrunken werden. Was dem einen seine Weiße, ist dem andern sein Apéritif, und damit muß man nicht protzen. Nichts komischer als diese Berliner Superfranzosen, die mit verzücktem Schmatzen einen, man denke, Dubonnet auf der Zunge zergehen lassen. Dubonnet heißt auf deutsch: Kahlbaum, wir wollen uns da nichts vormachen.
Das zweite Mittel, sich interessant zu geben, besteht darin, kein Ding so zu nennen, wie es wirklich heißt. Da hat nun leider, leider von oben her Thomas Mann ein schlechtes Beispiel gegeben; wenn bei dem einmal eine Tasse ein Tasse heißt, dann wird dieses gewöhnliche Möbel gewissermaßen in Anführungsstrichen ausgesprochen, so, wie der Polizeibericht gern von einer »Elektrischen« spricht. Was ist das? Das ist Impotenz. Denn nichts ist schwerer, nichts erfordert mehr Arbeit, mehr Kultur, mehr Zucht, als einfache Sätze unvergeßlich zu machen. »Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet.« Die Worte mit der Wurzel ausgraben: das ist Literatur. Aber es ist gewiß bequemer, einfacher und imposanter, die Worte abzuschneiden und sie auf Draht zu ziehen. »Ihre Münder bissen sich an den Rändern der schlanken Sektkelche fest …« So siehst du aus. Aber so sehen auch die Sektgläser nicht aus, und ahnt denn so ein dürftiges, verquollenes Gewächs, wie schwer es ist, von den Zeitungsassoziationen abzusehen, sich ihrer eben nicht zu bedienen und die Wahrheit zu sagen?
So ist in dieser Literatur, deren Ab- und Unarten sich bis weit in die Höhen der bessern Autoren verfolgen lassen, das Leben herrlich veredelt. Die Leute gehen nicht, sondern schreiten stelzend hohe Schule, und was auch immer im Lichtkegel der Betrachtung liegen mag: hohe Politik, Sport oder das Geschäft – alles ist anders als im Leben, alles schwebt zwei Hand breit über dem Boden, und ferne davon, romantisch zu sein, ist dieser Klimbim nur verlogen. Ich sehe keinen an.
Das ginge ja noch. Aber wenn diese vollendete Ungrazie, die fetten Dunst für feinen Hauch, überladene Seelenornamentik für Kunst, Barock aus Gänsegrieben für den Inbegriff des Stils hält, wenn diese überstopften Literaten sich mit der Liebe befassen, dann muß das bei dem völligen Humormangel, der ihnen eigen ist, zu einem Unglück führen. Dieses Unglück hats gegeben.
Ihre gebügelte Pornographie hat wenigstens einen Vorteil: sie ist unmäßig langweilig, kann also keinerlei Schaden anrichten. In Frankreich wäre dies Zeug ein Lacherfolg, wenn man es überhaupt beachtete – Georges Courteline hat kaum nötig, die Worte zu sprechen: » J'ai l'horreur des grands mots. Ils ne démontrent rien, passent neuf fois sur dix la limite et n'etonnent que les ignorants.« Für die sind diese traurigen Lustbücher offenbar geschrieben; in diesen, die ich da oben notgedrungen zitiert habe, und in noch einigen, die ich gar nicht zitieren mag, gehts so hoch her, daß man kaum hinaufspucken kann, was so not täte. Pornographie? Ja, aber auf fein.
»Und damit hat sie sich wie von ungefähr niedergebeugt und hat sie den Kleidersaum hochgerafft und nestelt sie in der Hüftengegend und schlägt sie jetzt, von den Schenkeln bis hinauf zu den Schlüsselbeinen, mit einem Ruck den Stoff auseinander. Mir knickt vor Wollust der Kopf nach vorn. Ehe ich mich fassen kann, schließt sie die Hülle und ist die Lichterscheinung ausgelöscht.« Wie man dabei ernst bleiben kann! Wie man das wirklich und wahrhaftig aufs Papier setzen kann, ohne sofort mit einem dicken Blaustift einen beschämten Strich zu machen! Wie man nicht fühlen kann, daß das komisch ist und nichts weiter! Der tanzende Bär kann es – zum Gedudel eines literarisch verstimmten Leierkastens.
»Es ist keineswegs der altbekannte Schüttel der Wollust.« Dieses Wort, das ich in meinen privaten Sprachschatz aufgenommen habe, ist, mit Verlaub zu sagen, ein Griff – und solcher Untergriffe weisen diese Bücher nicht wenige auf. Am heitersten ist der Sechser-Casanova, wenn er Papierdeutsch schreibt und Orgien meint: »Indessen scheint es, daß sie keinerlei Neigung besitzt, unserer Schäferstunde den Verlauf bloßer Kurzweil zu geben.« Wenn er gegenständlich wird, ist er unappetitlich, sicherstes Zeichen künstlerischer Mannesschwäche. »Vom Umfassen ihrer Büste hat der Ärmel meines Jacketts ihren Duft mitgenommen. Ich hebe den Ärmel an die Nase.« Ich auch – aber um sie mir zuzuhalten. Und dann muß ich loslassen, weil man mit zugehaltener Nase nicht gut lachen kann. »Sie rollen wie Ringer umeinander. Einmal ist der eine, dann der andre oben, zitterte es aus ihrem Munde.« So geht es im deutschen Familienleben zu.
Was an dieser Sorte Schriftstellerei so außerordentlich erheiternd wirkt, ist ihre den Fabrikanten unbewußte Komik. Es ist unmöglich, solche körperlichen Vorgänge ohne das Bewußtsein von ihrer humorhaften Unzulänglichkeit, von ihrer Tierhaftigkeit, von ihrer Lächerlichkeit zu schildern – es braucht das nicht gesagt zu werden; wenn der Schilderer es nur fühlt, wenn ers nur weiß, wenn er sich nur ein Mal darüber klar geworden ist, daß er in keinem dieser Augenblicke vor seinen Nebenmenschen etwas voraus hat, daß er gerade in diesem Moment nicht herrscht, sondern unterworfen ist. Der feierliche Ernst, mit dem Liebesvorgänge als imponierendes Plus des Autors dargestellt werden; der männchenhafte Dummstolz; der Pomp, dem man nur einen Nachttopf an die Seite zu stellen braucht, auf daß alles aus ist – warum kann man Romeo und Julia nicht damit beschämen, daß man das Wort »Bauch« ausspricht? Weil ihr Pathos ebenso irdisch wie überirdisch ist; weil ihre Leidenschaft nicht klebrig haftet, sondern bei aller Gegenständlichkeit wie Musik zittert und entschwebt, und weil jeder Schimpf auf den Zwischenrufer zurückfiele. »Den Schauspieler möchte ich sehen,« hat der alte Fontane einmal gesagt, »der den Hamlet mit einem weißen Bändchen spielen kann, das ihm aus der Hose heraushängt!« Diesen Figurinen aber hängt es dauernd heraus, der Autor merkts nicht, und wenn er pathetisch wird, dann muß man lachen.
Im Augenblick aber, wo nicht von »Thema« geredet wird, verläßt den Literasten die Feinheit, ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben, und das sieht dann so aus: »Die grauhaarige englische Lady, drüben zunächst dem Christbaum, ließ das Spielzeugäffchen, ein Weihnachtsgeschenk von seiten der Geschäftsleitung, aus dem tiefen Ausschnitt ihres Kleides heraus …« Das kann der redaktionelle Hinweis auf das Inserat in unserer achten Beilage auch nicht besser.
Unterbrochen wird dieser Unfug durch Entgleisungen, die fast wehe tun. »Mit den Armen biege ich sie in der Taille ab, drücke sie vollends zu Boden, schlage von den Beinen, die sich schon spreizen, die Rockfalten zurück und tue mich gütlich wie der Soldat an seinem Sonntagsschatz.« Das ist nur mit einer Seekrankheit zu beantworten. Wenn die vorbei ist, muß – leider, leider – gesagt werden, daß in dem »Steppenwolf« Hesses ähnliche Stellen stehen, deren Peinlichkeit nur durch die Tragik gemildert wird, die das Geschick des Autors darstellt. »Während wir schweigend in die geschäftigen Spiele unsrer Liebe vertieft waren …« Welche Ungrazie! Es riecht wie in einem überfüllten Dampfbad, man mag das nicht, hinaus! hinaus!
Von schlimmeren Auswüchsen zu schweigen. Der Hanswurst, der das Buch über den Flirt geschrieben hat … Es erinnert an die Geschichte von jenem englischen Sergeanten, der an einer dunkeln Hafenmauer ein Mädchen anspricht und ihr gleich zu Beginn der Unterhaltung, sein, sagen wir, kurzes Seitengewehr in die Hand drückt. Und sie: »Ach, du Flirt –!« Auch muß der Verfasser unbedingt Willi Schaeffers gehört haben, von dem das kurze Wort stammt: »Ich glaube, die läßt sich flirten.« So ein Buch ist das. Und wie altmodisch diese königlich preußischen Erotiker alle sind! Da wimmelt es von »Taillen« und »Spitzengeriesel« – wo rieselt denn das heute noch? »Und so erschöpft sich der aktive Flirt der Frau in Berührungen dieses Gliedes, das auf unauffällige Weise meist schon durch die Hosentaschen erreichbar ist …« Es sind tobsüchtig gewordene Studienräte der Liebe.
Ganz besonders schlimm, wenn sie ihre medizinische Literatur gelesen, halb verstanden, kaum verdaut und unvollkommen vomiert haben. »Danach scheidet sich uns das ganze weite Reich sexueller Beziehungen der heutigen Kulturmenschheit in drei große voneinander scharf getrennte Gebiete.« Nun? »Beischlaf, Perversität und Flirt.« Was etwa der Skala: Sozialismus, Beethoven und Stachelbeerkompott entspricht. Aber solche Bücher werden von einem immerhin nicht ganz und gar windigen Verlag verlegt, sie werden wohlwollend besprochen, ausgestellt … nur eines werden sie nicht: sie werden nicht gebührend ausgelacht.
Zugegeben: das sind Paradepferde des Geschmackmangels, der Taktlosigkeit, der erhitzten Impotenz. Aber es ist da ein Element, das sich durch Hunderte von Büchern zieht – es ist die offenbare Unfähigkeit des Deutschen, Erotik bildhaft und doch nicht klebrig wiederzugeben. (Bestes Gegenbeispiel gegen diese Schmierer: Heinrich Mann.) Das schwankt zwischen Brutalität und butterweicher Sentimentalität hin und her, ist unsicher, bekommt einen roten Kopf und schreibt nun, je nachdem, moralische Bücher oder dumme Schweinereien. Mit Erotik hat das nichts zu tun.
Ich habe einmal in Paris einen alten Freund Toulouse-Lautrecs besucht; in seinem Salon hingen einige Originale, Pastell, Öl, Skizzen … Da war auch ein Paar im Bett, achtlos glitten meine Augen darüber hinweg – nichts ging von dem Bild aus oder doch wenig. Aber da war ein Halbakt, eine Frau, die vor der Waschschüssel steht – und eine Wolke von Parfüm, von Frauenduft, von der sinnlichen Nähe des Fleisches kam herüber, und es war doch nichts zu sehen und alles.
Man hat es, oder man hat es nicht. Diese sanft aufgeilende Wirkung solcher Bücher aber sind nicht etwa ein »Schandmal unserer Zeit« – das mag die Deutsche Zeitung und die Generalanzeigerpresse der Provinz ihren Lesern erzählen, deren praktische Erosgymnastik einen verstehen läßt, woher nur solche Schädel und solche staatserhaltenden Gesichter kommen – sie sind einfach schlechte Literatur und verdienen, restlos verlacht zu werden. Beschwingte Heiterkeit, Frechheit, Witz, Ironie, echtes Pathos: alles, alles ist möglich. Nur diese Quadratklacheln nicht, die sich zum Tönen einer Mozartschen Musik auf die Hinterbeine stellen, einen Ring durch die Nase, und brummend, mit offner Schnauze, aus der der Speichel tropft, tanzen, wie ein Bär tanzt.