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Mitropa, Schlafwagen

»In einem richtigen Schlafwagen haben nicht nur die Schaffner Dienst, sondern auch die Fahrgäste.«

Deutscher Verwaltungsgrundsatz

Morgens um acht

Neulich habe ich einen Hund gesehen – der ging ins Geschäft. Es war eine Art gestopfter Sofarolle, mit langen Felltroddeln als Behang, und er wackelte die Leipziger Straße zu Berlin herunter; ganz ernsthaft ging er da und sah nicht links noch rechts und beroch nichts, und etwas anderes tat er schon gar nicht. Er ging ganz zweifellos ins Geschäft.

Und wie hätte er das auch nicht tun sollen? Alle um ihn taten es.

Da rauschte der Strom der Insgeschäftgeher durch die Stadt. Morgen für Morgen taten sie so. Sie trotteten dahin, sie gingen zum Heiligsten, wo der Deutsche hat: zur Arbeit. Der Hund hatte da eigentlich nichts zu suchen – aber wenn auch er zur Arbeit ging, so sei er willkommen!

Es saßen zwei ernste Männer in der Bahn und sahen, rauchend, satt, rasiert und durchaus zufrieden, durch die Glasscheiben. Man wünscht sich in solchen Augenblicken ein Wunder herbei, etwa, daß dem Polizeisoldaten an der Ecke Luftballons aus dem Helm steigen, nur damit jene ein Mal Maul und Nase aufsperrten! Da fuhr die Bahn an einem Tennisplatz vorüber. Die güldene Sonne spielte auf den hellgelben Flächen – es war strahlendes Wetter, viel zu schön für Berlin. Und einer der ernsten Männer murrte: »Haben auch nichts zu tun, sehen Sie mal! Morgens um acht Uhr Tennis spielen! Sollten auch lieber ins Geschäft gehen –!«

Ja, das sollten sie. Denn für die Arbeit ist der Mensch auf der Welt, für die ernste Arbeit, die wo den ganzen Mann ausfüllt. Ob sie einen Sinn hat, ob sie schadet oder nützt, ob sie Vergnügen macht (»Arbeet soll Vajniejen machen? Ihnen piekt er woll?«) –: das ist alles ganz gleich. Es muß eine Arbeit sein. Und man muß morgens hingehen können. Sonst hat das Leben keinen Zweck.

Und stockt einmal der ganze Betrieb, streiken die Eisenbahner oder ist gar Feiertag: dann sitzen sie herum und wissen nicht recht, was sie mit sich anfangen sollen. Drin ist nichts in ihnen, und draußen ist auch nichts: also was soll es? Es soll wohl gar nichts …

Und dann laufen sie umher wie Schüler, denen versehentlich eine Stunde ausgefallen ist – nach Hause gehen kann man nicht, und zum Spaßen ist man nicht aufgelegt … Sie dösen und warten. Auf den nächsten Arbeitstag. Daran, unter anderm, ist die deutsche Revolution gescheitert: sie hatten keine Zeit, Revolution zu machen, denn sie gingen ins Geschäft.

Wobei betont sein mag, daß man auch im Sport dösen kann, der augenblicklich wie das Kartenspiel betrieben wird: fein nach Regeln und hervorragend stumpfsinnig. Aber schließlich ist es immer noch besser, zu trainieren, als im schwarzen Talar Unfug zu treiben …

Ja, sie gehen ins Geschäft. »Was für ein Geschäft treibt ihr?« – »Wir treiben keins, Herr. Es treibt uns.«

Der Hund sprang nicht. Man hüpft nicht auf den Straßen. Die Straße dient – wir wissen schon. Und das verlockende, niedrig hängende patriotische Plakat … der Hund ließ es außer acht.

Er ging ins Geschäft.

Abends nach sechs

»Selig, wer sich vor der Welt
Ohne Haß verschließt;
Einen Freund am Busen hält
Und mit dem genießt.

Was von Menschen nicht gewußt
Oder nicht bedacht,
Durch das Labyrinth der Brust
Wandelt in der Nacht.«

Unbekannter Dichter

Abends nach sechs Uhr gehen im Berliner Tiergarten lauter Leute spazieren, untergefaßt und mit den Händen nochmal vorn eingeklammert – die haben alle recht. Das ist so:

Er holt sie vom Geschäft ab oder sie ihn. Das Paar vertritt sich noch ein bißchen die Beine, nach dem langen Sitzen im Bureau tut die Abendluft gut. Die grauen Straßen entlang, durch das Brandenburger Tor zum Beispiel – und dann durch den Tiergarten. Was tut man unterwegs? Man erzählt sich, was es tagsüber gegeben hat. Und was hat es gegeben? Ärger.

Nun behauptet zwar die Sprache, man »schlucke den Ärger herunter« – aber das ist nicht wahr. Man schluckt nichts herunter. Im Augenblick darf man ja nicht antworten – dem Chef nicht, der Kollegin nicht, dem Portier nicht; es ist nicht ratsam, der andere bekommt mehr Gehalt, hat also recht. Aber alles kommt wieder – und zwar abends nach sechs.

Das Liebespaar durchwandelt die grünen Laubgänge des Tiergartens, und er erzählt ihr, wie es im Geschäft zugegangen ist. Zunächst der Bericht. Man hat vielleicht schon bemerkt, wie Schlachtberichte solcher Zusammenstöße erstattet werden: der Berichtende ist ein Muster an Ruhe und Güte, und nur der böse Feind ist ein tobsüchtig gewordener Indianer. Das klingt ungefähr folgendermaßen: »Ich sage, Herr Winkler, sage ich – das wird mit dem Ablegen so nicht gehn!« (Dies im ruhigsten Ton von der Welt, mild, abgeklärt und weise.) »Er sagt, erlauben Sie mal! sagt er – ich lege ab, wies mir paßt!« (Dies schnell, abgerissen und wild cholerisch.) Nun wieder die Oberste Heeresleitung: »Ich sage ganz ruhig, ich sage, Herr Winkler, sage ich – wir können aber nicht so ablegen, weil uns sonst die C-Post mit der D-Post durcheinanderkommt! Fängt er doch an zu brüllen! Ich hätte ihm gar nichts zu befehlen, und er täte überhaupt nicht, was ihm andere Leute sagten – finnste das –?« Dabei haben natürlich beide spektakelt wie die Marktschreier. Aber manchmal wars der Chef, und dem konnte man doch nicht antworten. Man hat also »heruntergeschluckt« – und jetzt entlädt es sich. »Finnste das?«

Lottchen findet es skandalös. »Hach! Na, weißt du!« Das tut wohl, es ist Balsam fürs leidende Herz – endlich darf man es alles heraussagen! – »Am liebsten hätte ich ihm gesagt: Machen Sie sich Ihren Kram allein, wenns Ihnen nicht paßt! Aber ich werde mich doch mit so einem ungebildeten Menschen nicht hinstellen! Der Kerl versteht überhaupt nichts, sage ich dir! Hat keine Ahnung! So, wie ers jetzt macht, kommt ihm natürlich die C-Post in die D-Post – das ist mal bombensicher! Na, mir kanns ja egal sein. Ich weiß jedenfalls, was ich zu tun habe: ich laß ihn ruhig machen – er wird ja sehen, wie weit er damit kommt …!« – Ein scheu bewundernder Blick streift den reisigen Helden. Er hat recht.

Aber auch sie hat zu berichten. »Was die Elli intrigiert, das kannst du dir überhaupt nicht vorstellen. Fräulein Friedland hat vorgestern eine neue Bluse angehabt, da hat sie am Telephon gesagt, wir habens abgehört –: Man weiß ja, wo manche Kolleginnen das Geld für neue Blusen her haben! Wie findest du das? Dabei hat die Elli gar keinen Bräutigam mehr! Ihrer ist doch längst weg – nach Bromberg!« Krach, Kampf mit dem zweiten Stock auf der ganzen Linie – Schlachtgetümmel. »Ich hab ja nichts gesagt … aber ich dachte so bei mir: Na – dacht ich, wo du deine seidenen Strümpfe her hast, das wissen wir ja auch! Weißt du, sie wird nämlich jeden zweiten Abend abgeholt, sie läßt immer das Auto eine Ecke weiter warten … aber wir haben das gleich rausgekriegt! Eine ganz unverschämte Person ist das!« Da drückt er ihren Arm und sagt: »Na sowas!« Und nun hat sie recht.

So wandeln sie. So gehen sie dahin, die vielen, vielen Liebespaare im Tiergarten, erzählen sich gegenseitig, klagen sich ihr kleines Leid, und haben alle recht. Sie stellen das Gleichgewicht des Lebens wieder her. Es wäre einfach unhygienisch, so nach Hause zu gehen: mit dem gesamten aufgespeicherten Oppositionsärger der letzten neun Stunden. Es muß heraus. Falsche Abrechnungen, dumme Telephongespräche, verpaßte Antworten, verkniffene Grobheiten – es findet alles seinen Weg ins Freie. Es ist der Treppenwitz der Geschäftsgeschichte, der da seine Orgien feiert. Die blauen Schleier der Dämmerung senken sich auf Bäume und Sträucher, und auf den Wegen gehen die eingeklammerten Liebespaare und töten die Chefs, vernichten den Konkurrenten, treffen die Feindin mitten ins falsche Herz. Das Auditorium ist dankbar, aufmerksam und grenzenlos gutgläubig. Es applaudiert unaufhörlich. Es ruft: »Nochmal!« an den schönen Stellen. Es tötet, vernichtet und trifft mit. Es ist Bundesgenosse, Freund, Bruder und Publikum zu gleicher Zeit. Es ist schön, vor ihm aufzutreten.

Abends nach sechs werden Geschäfte umorganisiert, Angestellte befördert, Chefs abgesetzt und, vor allem, die Gehälter fixiert. Wer würde die Tarife anders regeln? Wer die Gehaltszulagen gerecht bemessen? Wer Urlaub mit Gratifikation erteilen? Die Liebespaare, abends nach sechs.

Am nächsten Morgen geht alles von frischem an. Schön ausgeglichen geht man an die Arbeit, die Erregung von gestern ist verzittert und dahin, Hut und Mantel hängen im Schrank, die Bücher werden zurechtgerückt – wohlan! der Krach kann beginnen. Pünktlich um drei Uhr ist er da – dieselbe Geschichte wie gestern: Herr Winkler will die Post nicht ablegen, Fräulein Friedland zieht eine krause Nase, die Urlaubsliste hat ein Loch, und die Gehaltszulage will nicht kommen. Ärger, dicker Kopf, spitze Unterhaltung am Telephon, dumpfes Schweigen im Bureau. Es wetterleuchtet gelb. Der Donner grollt. Der erfrischende Regen aber setzt erst abends ein – mit ihr, mit ihm, untergefaßt im Tiergarten.

Da ist Friede auf Erden und den Paaren ein Wohlgefallen, der Angeklagte hat das letzte Wort – und da haben sie alle, alle recht.

»'n Augenblick mal –!«

Daß der Berliner, an welchem Ort auch immer allein gelassen, nachdenklich dasitzt, den Boden fixiert und plötzlich, wie von der Tarantella gestochen, aufspringt: »Wo kann man denn hier mal telephonieren?« – das ist bekannt. Wenn es keine Berliner gäbe: das Telephon hätte sie erfunden. Es ist ihnen über, und sie sind seine Geschöpfe.

Man stelle sich einen kühnen jungen Mann vor, der einen ernsten Geschäftsmann während einer wichtigen Verhandlung stören will. Es wird ihm nicht gelingen. Hellebarden versperren den Weg, Privatsekretärinnen werfen sich vor die Schwelle, nur über ihre Weichteile geht der Weg, und jeder Angriff des noch so kühnen jungen Mannes muß mißlingen. Wenn er nicht antelephoniert.

Wenn er nämlich antelephoniert, dann kann er den Präsidenten bei der Regierung, den Chefredakteur bei den Druckfehlern, die gnädige Frau bei der Anprobe stören. Denn das Berliner Telephon ist keine maschinelle Einrichtung: es ist eine Zwangsvorstellung.

Klopft das Volk drohend an die Türen, macht der Berliner noch lange nicht auf. Klingelt aber ein kleiner Apparat, so winkt er noch dem adligsten Besucher ab, murmelt mit jener Unterwürfigkeitsmiene, wie man sie sonst nur bei gläubigen Sektierern findet: »'n Augenblick mal –!« und wirft sich voll wilden Interesses in den schwarzen Trichter. Vergessen Geschäft, Hebamme, Börse und Vergleichsverhandlung, »Hallo? Ja, bitte? Hier da – wer dort –?«

Einen Berliner fünfzehn Minuten lang, ungestört von einem Telephon, zu sprechen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Wieviel Pointen verpuffen da! Wieviel angesammelte Energie raucht zum Fenster hinaus! Wie umsonst sind Verhandlungslist, Tücke und herrlich ausgeknobelte Hinterhältigkeit! Das Telephon ist keine Erfindung der Herren Bell und Reiß – der V-Vischer hat die ganze Tücke des Objekts in diesen Kasten gelegt. Es klingelt nur, wenn man das gar nicht haben will.

Wie oft habe ich nun schon erlebt, daß die kräftige Rede eines Besuchers den ganzen Raum überzeugt, gleich ist er auf der Höhe, der Sieg ist nahe, hurra, noch einen Schritt … da klingelt das Telephon, und alles ist aus. Der dicke Mann am Schreibtisch, der eben noch, dreiviertel hypnotisiert, schon das Doppelkinn auf die Krawatte hat sinken lassen und friedlich die Unterlippe vorgeschoben hat, läßt eine eisige Maske über das gleiten, was er als Gesicht ausgibt. Die nervigte Hand am Telephonhörer, vergißt er Partner, Geschäft und sich selbst. »Hier Dinkelsbühler – wer dort –?« Emsig strudelt er im fremden Gewässer, völlig gefangen vom andern, untreu dem Partner der letzten Minute, ganz hingegeben in Betrug und Verrat.

Der andre ist der Dumme. Hohl und leer sitzt er dabei, das eben noch ausgesprochene pathetische Wort ragt ihm sinnlos aus dem Mund wie eine alte Fahne im Zeughaus, Flagge einer Truppe, die längst gestorben ist. Beschämt sitzt er da, haltlos und nackt, und in ihm kocht dumpf der unerfüllte Wille. Was nun –?

Nun redet der dicke Mann am Schreibtisch so lange, wie man eben in Berlin am Telephon spricht, und es gibt nur noch einen, der mehr redet: das ist der am andern Ende. Der muß wohl rauschen wie ein mittelgroßer Wasserfall: die Augen des Schreibtischmannes schauen gedankenvoll auf ein Löschpapier, wandern über das Tintenfaß, blicken irr und leer dem betrogenen Partner auf die Glatze, nun beginnt er gar Männerchen aufs Papier zu malen und Quadrate, und der andre scheint, wie die Membrane quakend verkündet, ganze Wörterbücher ins Telephon brausen zu lassen.

Schon ruckelt der Gast ungeduldig auf seinem Stühlchen, da nahen sich im unendlichen Gespräch die ersten Anzeichen des Schlusses. »Na denn …!« – »Also dann verbleiben wir so …« Dem Gast wirds freudig zumute: so eilt die Seele des Konzertbesuchers in die Garderobe vorauf, wenn es im Orchester bedrohlich laut wird, wenn das Flügelschlagen des Dirigenten Blech und immer mehr Blech ins Getöse wirft … aber es ist noch nicht so weit. Sie verbleiben noch eine ganze Weile so, setzen immer wieder zu Schlußwendungen an, der Schluß kommt nicht. Langsam steigt in dem Wartenden der Wunsch auf, dem Telephonierenden das Handelsgesetzbuch auf den Kopf zu schlagen … »Na dann – auf Wiedersehn!« sagt der endlich. Und legt den Hörer hin.

Und das ist der schlimmste Augenblick von allen. In den Augen des Schreibtischmannes wechselt die Beleuchtung, man hört es förmlich knacken, wie er sich umstellt; mit etwas schwachsinnigem Ausdruck wendet er sich zwinkernd dem alten, verratenen Partner wieder zu. »Ja, also – wo waren wir stehengeblieben …?«

Nun fang du wieder von vorne an. Nun klaube die zerbrochenen Stücke deiner Rede wieder vom Boden zusammen, nun hole tief Atem, bemühe dich, wieder in Zug zu kommen … Gute Nacht. Der Schwung ist dahin, der Witz ist dahin, der Wille ist dahin. Lahm geht die Unterredung zu Ende. Nichts hast du erreicht. Das hat mit ihrem Singen die Lorelei getan.

*

Nun legt der Leser das Buch still und freundlich aus der Hand und denkt einen Augenblick nach. Dann springt er wie ein gejagter Hirsch auf, die »Mona Lisa« lächelt am Boden … Er eilt zum Telephon.

Was wäre, wenn …

Schlagzeile der B.Z. Kommt die Prügelstrafe –?

Wie wir erfahren, ist soeben im Reichsjustizministerium ein Referentenentwurf fertiggestellt worden, der sich mit der Einführung der Prügelstrafe befaßt.

 

Alle Morgenblätter. Die von einer hiesigen Mittagszeitung verbreitete Meldung von der Wiedereinführung der Prügelstrafe ist falsch. Im Reichsjustizministerium haben allerdings Erwägungen geschwebt über eine gewisse, natürlich partielle und nur für ganz bestimmte wenige Rückfallsdelikte zu verhängende körperliche Züchtigung; doch haben sich diese Erwägungen zu einem Referentenentwurf, wie das betreffende Mittagsblatt es behauptet, noch nicht verdichtet.

14 Tage Pause

Die Nachtausgaben. Die Prügelstrafe ist da! – Der hauende Minister! – Schlagen Sie Ihre Kinder, Herr Minister? – Endlich eine kräftige Maßnahme! – Immer feste druff! – Pfui! – Die Rohrstockregierung! – Rückkehr zur Ordnung!

 

Sozialdemokratischer Leitartikel … sich tatsächlich bewahrheitet. Wir finden keine parlamentarischen Ausdrücke, um unsrer flammenden Entrüstung über diese neue Schandtat der Reaktion Ausdruck zu geben. Nicht genug damit, daß dieses Ministerium das Volk mit Steuern überlastet – nein, der deutsche Arbeiter soll nun auch noch, wie es unter dem Regime des Zaren üblich war, mit der Knute abgestraft werden. Die Reichstagsfraktion hat bereits schon jetzt zu verstehen gegeben, daß sie gegen diesen neuen Plan schärfsten Protest …

 

Zentrums-Leitartikel … Jes. Sir. 12, 18. Diese bisher angeführten Bibelstellen scheinen allerdings dafür zu sprechen, und so wird man dem Plan des Ministeriums christliche Gesinnung nicht ganz absprechen können … um so mehr, als es den kirchlichen Interessen nicht in allen Punkten zuwiderlaufend ist.

 

Kreuz-Zeitung … immerhin nicht vergessen, daß auf dem Lande schon lange nach guter altpreußischer Art bei Ungehorsam und offener Widersetzlichkeit der Stock manches Gute getan hat. Wir vermögen nicht einzusehen, warum grade diese Strafe nun so besonders entehrend sein soll. Es ist selbstverständlich, daß ihre Anwendung auf solche Kreise beschränkt bleiben muß, die die Prügelstrafe gewissermaßen von Haus aus gewöhnt find. Für eine Reinigung unsrer politisch verhetzten Atmosphäre …

 

Münchner Neueste Nachrichten … wir sagen müssen: der erste vernünftige Gedanke, der aus Berlin kommt.

5 Monate Pause

Volksversammlung. »Eine Schmach und eine Schande! Ich könnte es keinem der Geschlagenen verdenken, wenn sie nachher hingingen und ihren Quälern ihrerseits in die Fresse …« (Ungeheure Aufregung im Saal. Die Leute stehen auf, schreien, werfen die Hüte in die Luft und winken mit Taschentüchern. Es werden 34 Portemonnaies geklaut. Redner steht in einer Pfütze von Schweiß.)

 

Demokratischer Leitartikel … natürlich absolute Gegner der Prügelstrafe sind und bleiben. Es ist allerdings bei der gegenwärtigen Konstellation zu erwägen, ob diese in der großen Politik doch immerhin nebensächliche Frage für die Deutsche Demokratische Partei ein Anlaß sein kann, die unbedingte Unterstützung, die sie der gegenwärtigen Regierungskoalition zugesagt hat, abzublasen – besonders wenn man bedenkt, daß ihr durch die Zusicherung der Straflosigkeit des Tragens von republikanischen Abzeichen doch ein ganz gewaltiges Vorstoßen des republikanischen Gedankens gelungen ist. Andrerseits …

 

Protestversammlung der Kommunisten. (Verboten.)

 

Tagung des Reichsverbandes der mittleren Unterrichtsbeamten für die obere Leerlaufbahn der Vollgymnasien »…οὒ παιδεύετει.. Schon die alten Griechen, meine Herren …«

 

Telephonzelle im Reichstag. »… Halloo! Hallo, Saarbrücken? Allô, Allô – Je cause, mais oui, Mademoiselle – aber bitte! Ne coupez-pas! Ja, deutsch! Sind Sie da? Also … Zusatzantrag der Frau Gertrud Bäumer beraten, haben Sie? dem zufolge das Gesäß der Geprügelten vorher mit einem Lederschurz verhüllt – – hallo! Saarbrücken …!«

 

Telegramme an den Reichspräsidenten … flammenden Protest! Nordwestdeutsche Arbeitsgemeinschaft höherer Volksschullehrer … in zwölfter Stunde inständigst bitten. Reichsverband freidenkerischer Rohköstler … Ansehen Deutschlands im Auslande. Verein der linksgerichteten ziemlich entschiedenen Republikaner … aber auch die nationalen Belange der deutschen Wirtschaft nicht zu vergessen! Verband der Rohrstock-Fabrikanten.

 

Überschrift eines demokratischen Leitartikels. »Jein –!«

 

Reichstagsbericht. Gestern wurde unter atemloser Spannung der Tribünen die 1. Lesung des neuen »Gesetzes zur Einführung der körperlichen Zwangserzüchtigung«, wie sein amtlicher Titel lautet, durchberaten. Das Haus war bei der vorhergehenden Beratung der Schleusen-Gebühr-Reform für den Bezirk Havelland-Ost sehr gut gefüllt, weil diese Vorlage von allen Parteien als ein Angelpunkt für die drohende Belastung der jetzigen Koalition angesehen wird; ihre Annahme wurde rechts mit Händeklatschen, links mit Zischen begrüßt. Bei der Lesung des Erzüchtigungsgesetzes leerte sich das Haus langsam, aber zusehends. Als erster sprach der Senior der deutschen Kriminalistik, Professor Dr. D. Dr. Dr. hon. Kahl. Er führte aus, daß die Wiedereinführung der Prügelstrafe ihn mit schwerer Besorgnis erfülle, er aber andrerseits eine gewisse Befriedigung nicht zu unterdrücken vermocht habe. Sein alter Kollege Cramer habe ihm schon im Jahre 1684 gesagt …

Der sozialdemokratische Abgeordnete Breitscheid verkündigte nach einer ausführlichen Ehrung des Abgeordneten Kahl in außerordentlich glänzender und ironischer Rede das klare Nein seiner Partei. (Siehe jedoch weiter unten: »Letzte Nachrichten«.) Unter dem Beifall der Linken bewies Abgeordneter Breitscheid …

Es sprach dann, nach entsprechenden Ausführungen des Kommunisten Rothahn, für die Demokraten der Abgeordnete Fischbeck. Seine Partei, so führte er aus, stehe dem Gesetz sympathisch gegenüber. Allerdings hätten wir ja alle schon einmal als Kinder die Hosen stramm gezogen bekommen. (Stürmische, minutenlang anhaltende Heiterkeit.)

 

Inserat.

… von weitern Meldungen abzusehen, da die in Aussicht genommenen Stellen für Zuchtbeamte bereits heute achtundneunzigmal überzeichnet sind.

I. A.
Heindl, Ober-Regierungsrat.

 

Sozialdemokratische Parteikorrespondenz … Wasser auf die Mühle der Kommunisten. Der klassenbewußte Arbeiter ist eben so diszipliniert, daß er weiß, wann es Opfer zu bringen gilt. Hier ist eine solche Gelegenheit! Schweren Herzens hat sich der Parteivorstand dem Gebot der Stunde gebeugt. Es ist eben leichter, vom Schreibtisch her gute Ratschläge zu erteilen, als selber, in hartem realpolitischen Kampf, die Verantwortung …

 

Interview mit dem Reichskanzler … Dem Vertreter der »World« fast feierlich zugesagt, daß natürlich die Ausführungsbestimmungen der Humanität voll Genüge tun werden. Es wird, wie regierungsseitlicherseits bestimmt zugesagt werden kann, dafür gesorgt werden …

8 Monate Pause

Kleine Nachrichten. Gestern ist im Reichstag das Gesetz für die Einführung der körperlichen Erzüchtigung mit den Stimmen der drei Rechtsparteien gegen die Stimmen der Kommunisten angenommen worden. Sozialdemokraten und Demokraten enthielten sich der Abstimmung.

 

Demokratischer Nachrichtendienst … Erwartungen, die sich an den Erlaß der Ausführungsbestimmungen knüpften, leider nicht erfüllt. Es ist zu hoffen, daß die den Ländern gegebene Ermächtigung doch noch zu humanitären Verbesserungen … unbeugsame Forderung, als Reichserzüchtigungs-Kommissar wenigstens einen Demokraten zu ernennen.

 

W.T.B. Gestern ist in Celle die erste Prügelstrafe vollstreckt worden. Es handelte sich um einen Arbeiter, Ernst A., der der versuchten Tierquälerei an jungen Maikäfern bezichtigt war. Dem Verurteilten wurden 35 Hiebe verabfolgt. Das Züchtigungspersonal arbeitete einwandfrei; Oberpräsident Noske wohnte der Prozedur persönlich bei. A. ist Mitglied der KPD.

 

Pressekonferenz … Zahl der Schläge war ursprünglich auf 80 angesetzt. Dem Verurteilten sind indessen auf Grund der Amnestie, die zum 90. Geburtstag des Reichspräsidenten ergangen ist, zwei Hiebe geschenkt worden. Der Verurteilte weinte nach der Exekution, vor Rührung.

 

Pommerscher Frauenbrief. »… Dir nicht denken, wie wir gelacht haben! Es war zu reizend! Das Wetter war herrlich, und wir fuhren im Wagen vier Stunden nach Mestenthien, wo wir alle kräftig zu Mittag aßen. Otto war auch da – er ist jetzt Oberzuchtmeister geworden und sieht in seiner neuen Uniform famos aus. Ich bin direkt stolz auf ihn, und der Dienst bekommt ihm auch sehr gut. Wir haben gleich eine Photographie von ihm gemacht, die ich Dir beiliegend …«

Ärztliche Mitteilungen … geradezu auffallende Steigerung der unter das Erzüchtigungsgesetz fallenden, meist politischen Delikte, wie Sinsheimer mitteilt, eine eigenartige Aufklärung gefunden. Ein Teil dieser Verurteilten wälzte sich nach Empfangnahme der Prügel verzückt am Boden, schrie: »Weiter! Mehr! Noch!« und konnte nur mit Mühe daran gehindert werden, Stock, Peitschen und Züchtigungsbeamte zu umarmen. Es handelt sich um notorische Masochisten, die auf diese Weise billig ihrer Libido gefrönt haben und denen nun wahrscheinlich der Prozeß wegen rechtswidriger Aneignung von Vermögensvorteilen gemacht werden wird.

*

8. März 1956. »… auf die arbeitsreiche Zeit von 25 Jahren zurückblicken. Wenn das Reichserzüchtigungsamt bis heute nur Erfolge gehabt hat, so dankt es das in erster Linie seinem treuen Stab der im Dienst erhauten Beamten, der vollen Unterstützung aller Reichsbehörden sowie dem Reichsverband der Reichserzüchtigungsbeamten. Die bewährte Strafe ist heute nicht mehr wegzudenken. Sie ist eine politische Realität; ihre Einführung beruhte auf dem freien Willen des ganzen deutschen Volkes, dessen Vollstrecker wir sind. Das Gegebene, meine Herren, ist immer vernünftig, und niederreißen ist leichter als aufbauen. In hoc signo vinces! So daß wir also heute voller Stolz ausrufen können:

Das deutsche Volk und seine Prügelstrafe – sie sind untrennbar und ohne einander nicht zu denken!

Das walte Gott!«

Briefe an einen Fuchsmajor

»Meiningen hat ganz recht. Wir kommen schon von selbst in unsre Positionen, die ein für allemal für uns da sind. Wir übernehmen dazu einfach die bewährten Grundsätze, die Verwaltungsmaximen unsrer Väter. Wir wollen von gar nichts anderm wissen. Wozu –?«

… Der junge Reisleben begann jetzt zu kotzen.

Leben und Treiben der Saxo-Borussen, aus Harry Domela »Der falsche Prinz«

Im fröhlichen Herbst, als ich mit unserm Carl von Ossietzky in Würzburg bei schwerem Steinwein saß, fiel mein Blick auf eine kleine Broschüre »Briefe an einen Fuchsmajor, von einem alten Herrn«. (Verlag Franz Scheiner, Graphische Kunstanstalt, Würzburg.) Ich habe das Heftchen erstanden und muß dem anonymen Verfasser danken: außer dem »Untertan« und den gar nicht genug zu empfehlenden Memoiren Domelas ist mir nichts bekannt, was so dicht, so klar herausgearbeitet, so sauber präpariert die studentische Erziehung der jungen Generation aufzeigt. Selbst für einen gelernten Weltbühnenleser muß ich hinzufügen, daß alle nun folgenden Zitate echt sind, und daß ich, leider, keines erfunden habe.

*

Unter den Milieuromanen der letzten Jahrzehnte gibt es zwei, die besonders großen Erfolg gehabt haben, wenn ich von dem seligen Stilgebauer absehe, der butterweichen Liberalismus mit angenehm erregender Pornographie zu vereinigen gewußt hat. Das sind Walter Bloems »Krasser Fuchs« und Poperts »Hellmuth Harringa«. Beide Bücher taugen nichts. Sie sind aber als sittengeschichtliche Dokumente nicht unbrauchbar. Bloem, ein überzeugungstreuer Mann, außer Walter Flex einer der ganz wenigen nationalen Literaten, die für ihre Idee im Kriege geradegestanden haben, gibt sanft Kritisches, das er für scharf hält. Popert, ein hamburgischer Richter, dessen sicherlich gute antialkoholische Absichten die Hamburger Arbeiter damit karikierten, daß sie in der Kneipe sagten: »Nu nehm wi noch 'n lütten Popert!« (statt Köhm) – ist im politischen Leben eine feine Nummer und als Schriftsteller ein dicker Dilettant. Der Erfolg seines Buches basierte auf dem angenehmen Lustgefühl, das es in dem nicht inkorporierten Wandervogel wachrief, der nach solchen Schilderungen studentischen Lebens getrost sagen durfte: »Seht, wir Wilden sind doch bessere Menschen!« Er hat mit seiner Sittenfibel so recht, daß man ihm nur wünschen möchte, er hätte es nicht: einer der nicht seltenen Fälle, in denen ein unsympathischer Anwalt eine sympathische Sache vertritt.

Die »Briefe an einen Fuchsmajor« sind nun kein Roman, sondern eine durchaus ernstgemeinte Anweisung, junge Füchse zu brauchbaren Burschen und damit zu Mitgliedern der herrschenden Kaste zu machen. Es ist wohl das Schlimmste, das jemals gegen die deutschen Korpsstudenten geschrieben worden ist.

Daß das Heft die Mensur verteidigt und damit das Duell, braucht nicht gesagt zu werden. Nun halte ich das zwar für wenig schön, jedoch kann ich mir kluge, gebildete und anständige Männer denken, die in der Billigung dieser Einrichtung aufgezogen sind. Der »Alte Herr« begründet seinen Standpunkt folgendermaßen:

Wo Hunderte, gar Tausende von jungen, lebensfrohen, heißblütigen Männern eng und dicht nebeneinander leben, wie auf Universitäten, da kann es nie und nimmer stets und jederzeit friedlich zugehen; wollte da jeder wegen jedes kleinen und großen Wehwehchens zum Richter laufen, so gäb's eine Atmosphäre der Angeberei, des Denunziantentums und aller ekelhaften Nebenerscheinungen, die nicht zum Aushalten wäre. Die üblichen Verbitterungen und Feindschaften brächten letzten Endes den Knüppelkomment, das Recht des rein körperlich Stärkeren, der zahlenmäßig Mächtigeren mit sich.

Wem wäre das noch nicht in Paris, in Oxford und in deutschen Fabriken aufgefallen!

Was es wirklich mit dem Waffenstudententum auf sich hat, das sagt uns der »Alte Herr« besser, boshafter, radikaler, als ich es jemals zu tun vermöchte. Das hier ist zum Beispiel ein Argument für, nicht gegen das Duell:

Mit verhimmelnder Begeisterung werden lange Feuilletonspalten, geduldige Broschüren und gar dickleibige Bücher gefüllt, wenn irgendein deutscher Intellektueller bei irgendeinem fernen Volksstamm, seien es Ostasiaten, Südseeinsulaner oder Buschmänner, irgendwelche Überreste alter Gebräuche, alter Traditionen entdeckt. Aber daß bei uns noch mitten im Alltagsleben eine derartige Tradition voll hoher und idealer Ziele lebendig ist –

das zeigt allerdings, aus welcher Zeit sie stammt: aus der Steinzeit. Nur sehen die Schmucknarben der Maori hübscher aus als die zerhackten Fressen der deutschen Juristen und Mediziner.

Es ist selten, daß man so tief in das Wesen dieser Kaste hineinblicken kann, wie hier. In den Korpszeitungen geben sie sich offiziell; manchmal rutscht zwar das Bekenntnis einer schönen Seele heraus, aber es ist doch sehr viel Vereinsmeierei dabei, sehr viel nationale und völkische Politik, Wut gegen die Republik, die die Krippen bedrohen könnte und es leider nicht tut – kurz: jener Unfug, mit dem sich die jungen Herren an Stelle ihres Studiums beschäftigen. Hier aber liegt der Nerv klar zutage.

Man bedenke, was diese Knaben einmal werden, und ermesse daran die Theorie von der Gruppenehre:

Wenn Herr Wilhelm Müller schlaksig mit den Händen in der Hosentasche, Zigarette im Mund, mit einer Dame spricht, interessiert das keinen, wenn aber ein Fuchs von Guestphaliae dasselbe tut, so ist für alle, die das sehen, Guestphalia eine Horde ungezogner Rüpel.

Wie da das Motiv zum anständigen Betragen in die Gruppe verlegt wird; wie das Einzelwesen verschwindet, überhaupt nicht mehr da ist; wie da eine Fahne hochgehalten wird – wie unsicher muß so ein Einzelorganismus sein! Das sind noch genau die Vorstellungen von »Ritterehre«, über die sich schon der alte, ewig junge Schopenhauer lustig gemacht hat. Noch heute liegt diese Ehre immer bei den andern.

Wenn ohne Widerspruch erzählt werden kann, daß ein Waffenstudent oder gar einige Vertreter des Korporationslebens beschimpft oder verprügelt worden sind, so bleibt damit ein Fleck auf der Ehre des einzelnen und des Bundes.

Nach diesem Aberglauben kann also die Gruppe ihre Ehre nicht nur verlieren, indem sie schimpfliche Handlungen begeht, sondern vor allem einmal durch das Handeln andrer Leute. Diese Ehre hats nicht leicht.

Die Ehre des Bundes steht bei jedem Gang der Mensur auf dem Spiel.

Dahin gehört sie auch. Der Kulturdichter Binding hat in seinen wenig lesenswerten Memoiren über die Korporationen mit jenem gutmütigen Spott des Liberalen geschmunzelt, der älteren Herren so wohl ansteht: billigend, mit einer leichten Rückversicherung der Ironie fürs Geistige, und überhaupt fein heraus. Gefochten muß sein.

Gesoffen aber auch. Dieser Satz ist nicht von Heinrich Mann:

Ich schrieb einmal früher: Das Kommando »Rest weg« muß über der Kneipe schweben wie das »Knie beugt« über dem Kasernenhof.

In der Praxis steht das dann so aus:

Unser gemeinsamer Freund R., der schon mehrere Semester herzkrank und schwer nervös studierte, wurde, eine unscheinbare, wenig repräsentative Erscheinung, nur auf Grund sehr dringlicher Empfehlungen aufgenommen, er fand Freunde und Kameraden im Bund, die ihn richtig leiteten, so daß er körperlich und geistig gesundend aufblühte, seine Mensuren focht, rezipiert und später sogar Chargierter werden konnte. Er hatte auf seiner Rezeptionskneipe, obwohl er sonst vom regulären Trinken wegen seiner schwächlichen Gesundheit dispensiert war, sehr kräftig seinen Mann gestanden. Bis in tiefster Nachtstunde hielt er sich in jeder Hinsicht so tadellos aufrecht, daß niemand ihm den schweren Grad seiner bereits herrschenden Trunkenheit anmerkte. Ich sehe noch den gespannten Blick, als gegen Morgen der letzte fremde Gast die Kneipe verließ. Im Augenblick, als die Tür zuging und mithin nur wir unter uns waren, brach er bewußtlos zusammen … In ihm müssen wir das Musterbeispiel eines Menschen verehren, der in jeder Hinsicht den Sinn der waffenstudentischen Erziehung verstanden hatte.

Stets habe ich mich gewundert, warum die Engländer keine Erfolge in ihrer Politik aufzuweisen haben; warum es mit Briand nichts ist; was an Goethe und Wilhelm Raabe und Tolstoi und Liebknecht eigentlich fehlt. Jetzt weiß ich es.

Die Luft, in der sich diese Erziehung abspielt, ist schwerer Gerüche voll. Man erfinde so etwas: Füchse haben, entgegen einem Verbot, nach der Kneipe noch ein Lokal aufgesucht. Da können sie von einem Angehörigen andrer Korporationen gesehen werden. Was wird der nun denken –?

Wie leicht wird er bei einer gelegentlichen Frage über den Bund einmal äußern: »Fuchserziehung scheint nicht sehr straff zu sein.«

Hört ihr den Tonfall dieser Stimme –?

Die Sexualfrage wird unauffällig gelöst:

Soweit er es mit seinen früher schon besprochenen Pflichten als Aktiver unauffällig vereinbaren kann, ist dies letzten Endes Privatangelegenheit jedes einzelnen. Wenn wir auch den Grundsatz festhalten, daß ein ausschweifend vergnügtes Leben in sexueller Hinsicht, eben was wir burschikos als »Weiberbetrieb« zu bezeichnen pflegen, mit der Aktivität unvereinbar ist, so haben wir andrerseits keinesfalls mit unsrer Rezeption ein Keuschheitsgelübde abgelegt.

Wie recht er hat, das lese man in dem ausgezeichneten Aufsatz Friedrich Kuntzes nach, den die »Deutsche Rundschau« jüngst veröffentlicht hat: »Über den Werdegang des jungen Mannes aus guter Familie einst und jetzt.« Sehr bezeichnend übrigens, wie auch an dieser Stelle, nach ungewollt vernichtenden Schilderungen der herrschenden Klasse der Vorkriegszeit, die Bilanz gezogen wird: »Seine äußerste Probe hat dieses System im Kriege bestanden. Er ist verloren gegangen, gewiß; aber wenn ein Chauffeur sein Automobil gegen einen Baum fährt – muß dann die Schuld am Konstrukteur liegen?«

Wofür, ihr Männer in den Kalkgruben Nordfrankreichs … wofür –?

Zurück zum Alten Herrn, der ein feingebildeter Mann ist, besonders wenn es sich um die Frauen handelt, deren diese Gattung nur zwei Sorten kennt: Heilige und Huren.

Denn Heinrich Heines »berühmtes« Verschen: »Blamier mich nicht, mein schönes Kind …« ist nicht nur zierliche Spötterei, es ist zynische Gemeinheit.

Und nun wollen wir uns in die Politik begeben. Oder ist das am Ende gar nicht möglich? Sind denn diese Bünde überhaupt politisch? Die Korpszeitungen, die Akademikerzeitungen, die Broschüren brüllen: Ja! Der »Alte Herr« weiß zunächst von nichts. »Die waffenstudentischen Korporationen sind fast ausnahmslos im Prinzip unpolitisch.« In welchem Prinzip?

Seid verträglich, sagt er, denn:

Du weißt ja auch nicht, wie bald ihr in Ausschüssen und Ehrengerichten, vielleicht auch bei der Technischen Nothilfe oder gar unter Waffen mit ihnen allen zusammen am gleichen Strang zieht.

O ahnungsvoller Engel du –!

Es ist der Strang des Galgens: der Strang von Mechterstädt, wo unpolitische Studenten Arbeiter ermordet haben und nicht dafür bestraft worden sind – wahrscheinlich studieren sie noch fröhlich oder sind schon Referendare und Medizinalpraktikanten und Studienassessoren und werden nächstens auf die deutsche Menschheit losgelassen.

Die Protektionswirtschaft der Korporationen wird verklausuliert zugegeben. Im übrigen ist der »Alte Herr« liberal und das, was man so in seinen Kreisen »aufgeklärt« und »modern« nennt. Man stelle sich so etwas unter gebildeten Menschen vor:

Geh auch ruhig einmal mit den Füchsen »offiziell« ins Theater, ein gutes Konzert oder gar in ein Museum. Erschrick nicht über diese Ketzerei, probiere es einmal.

Wenn das nur gut ausgeht – diese stürmischen und überstürzten Reformen sind doch immerhin nicht unbedenklich: wie leicht können sie im Museum so einen gleich dabehalten!

Auch sollte man nicht Leute beschimpfen, spricht jener, wenn sie einer bürgerlichen Partei angehören – ja, dieser Revolutionär geht noch weiter. Füchse, geht mal raus – das ist noch nichts für euch. Nur Domela darf drin bleiben.

Jeder einzelne von uns kann an der innern Gesundung der Sozialdemokratie mithelfen und mitwirken, wenn er auch nur einen einzigen ihrer Angehörigen von der fixen Idee internationaler Einstellung heilt. Mag er …

Parteivorstand, hör zu!

Mag er Sozialdemokrat sein und bleiben, wenn er nur in seiner Partei als ein Fünkchen mit daran wirkt und arbeitet, daß der Völkerverbrüderungsrummel, die Klassenkampfidee, die international gerichtete, zum großen Teil sogar landfremde Führerschaft an Boden verliert.

Dann mag er. »Alter Herr«, du bist viel, viel näher an der Wahrheit, als du es wissen kannst. Und du bist doch nicht etwa Pazifist? Du scheinst so weich …

Stelle beispielsweise einmal zur Überlegung anheim, daß noch vor wenigen Jahrhunderten die Möglichkeit für den einzelnen, unbewaffnet und ohne Schutz von Stadt zu Stadt, von Land zu Land zu ziehen, eine Unmöglichkeit war, und daß ein Prophet, der damals die persönliche Abrüstung vorausgesagt hätte, als Phantast und Narr verlacht, bei praktischer Ausübung seiner Ideale und Utopien verprügelt, ausgeraubt oder totgeschlagen worden wäre, sowie er die schützenden Mauern seiner Stadt, die Grenzpfähle seines Ländchens überschritt. Und doch reisen wir heute unbehelligt durch den größten Teil der Welt, gesichert und geschützt durch selbstverständlich gewordene Gesetze aller zivilisierten Völker. Wenn jemand also heute pazifistische Ideale vertritt, so ist er deswegen kein Schuft, Lump und ehrloser Vaterlandsverräter, sondern seine hohen Ideale allgemeiner Völkerversöhnung werden hoffentlich in ferner Zukunft auch einmal Wahrheit werden.

Ich denke: Nanu? Nanu? denk ich …

Aber er ist heute sicher ein Schädling, gegen den energisch-sachlich Front gemacht werden muß und dessen Anschauungen im Keime zu ersticken, Notwendigkeit der Selbsterhaltung für unser gesundes, noch nicht degeneriertes Volk ist. Als Schwärmer und Phantasten müssen wir ihn und die praktischen Folgen seiner Ideen bekämpfen und seine Anschauungen unschädlich machen, als Person können wir ihn trotzdem hochschätzen und ehren.

Alles in Ordnung. Früh übt sich, was ein Reichsgerichtsrat werden will.

Hält man dergleichen für möglich? Ein Blick in die Gerichtssäle, in die Kliniken, in die Ministerien – und man hält es für möglich.

Und das hat Zuzug, stärker als vor dem Kriege – das blüht und gedeiht, nie waren die Korps zahlenmäßig so stark wie heute. Und muß das nicht so sein?

Hier ist nun die klarste Formulierung dessen, was seit dem Versailler Friedensvertrag in Deutschland vor sich gegangen ist. Hier ist sie:

Denkt … auch etwas daran, daß jeder junge Deutsche nach Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht sein eigner Unteroffizier sein, daß die Folge der Verödung der Kasernenhöfe das Entstehen von Hunderttausenden neuer, kleiner und kleinster idealster Kasernenhöfe sein muß, wenn das deutsche Volk noch nicht verfault ist bis ins Mark hinein.

Und nun will ich euch einmal etwas sagen:

Wenn man bedenkt, daß Zehntausende junger Leute so, sagen wir immerhin: denken wie das hier (und man sehe sich die Photographie an, die dem Buch voranprangt) – wenn man bedenkt, daß das unsre Richter von 1940, unsre Lehrer von 1940, unsre Verwaltungsbeamten, Polizeiräte, Studienräte, Diplomaten von 1940 sind, dann darf man wohl diesen Haufen von verhetzten, irregeleiteten, mäßig gebildeten, versoffnen und farbentragenden jungen Deutschen als das bezeichnen, was er ist: als einen Schandfleck der Nation, dessen sie sich zu schämen hat bis ins dritte und vierte Glied.

Die Professoren sind nicht schuld. Sie sind nicht so dumm, wie sie sich größtenteils stellen – sie sind feige. Denn der wüsteste Terror schwebt über ihnen; wehe, wenn sie sich auch nur für diese Republik betätigen! Was ihnen geschehen kann? Aber die gefährliche Vorschrift, daß ihre Einkünfte von den Kolleggeldern abhängen, besteht noch heute – und wenn selbst ein freiheitlicher akademischer Lehrer Mitglied einer Prüfungskommission ist: die Studenten boykottieren sein Kolleg, sie kaufen seine Bücher nicht, gehen an eine andre Universität, und das riskiert ein verheirateter, mäßig besoldeter Mann nicht gern. Die Professoren sind nicht allein schuld.

Die Ministerien sinds schon mehr. Der preußische Kultusminister tut allerhand, mitunter sogar sehr viel. Aber in wie vielen Fällen läßt man diejenigen, die für ihre Republik eingetreten sind, glatt fallen – so daß sich also so ein armer Ausgelieferter mit Recht sagt: »Dann nicht!« und den Kampf aufgibt.

Der Formalsieg, den der Staat mit der Auflösung der Deutschen Studentenschaft errungen hat, ist noch gar nichts. Was es auszurotten gilt, ist nicht ein Verband oder dessen offizielle Rechte –: es ist eine Gesinnung und eine Geisteshaltung. Ich glaube, daß diese Studentenkämpfe das Wesen des Studierenden völlig verkennen; sie machen aus einem Lernenden einen Stand; tatsächlich ist etwa drei Viertel der Energie, mit her diese läppischen Vereinskämpfe geführt werden, vertan. Ihr sollt nicht verwalten – ihr sollt studieren.

Diese Melodie ist nicht aktuell. Sie war es im Jahre 1920, und sie wird es im Jahre 1940 wieder sein – wenns so lange dauert. Es ist ein hohler Raum entstanden, in dem die Klagerufe eines Teiresias überlaut widerhallen; billig zu sagen: »Es wird halb so schlimm sein!« Es ist achtfach so schlimm.

Denn das Schauerliche an dieser Geistesformung ist doch, daß sie den Deutschen bei seinen schlechtesten Eigenschaften packt, nicht bei seinen guten; daß sie das anständige, humane Deutschland niedertrampelt; daß sie sich an das Niedrige im Menschen wendet, also immer Erfolg haben wird; daß sie mit Schmalz arbeitet und einem Zwerchfell, das sich atembeklemmend hebt, wenn das Massengefühl geweckt ist. Und daß sie kopiert wird.

Diese Studenten sind Vorbild für alle jungen Leute, die keinen sehnlicheren Wunsch haben, als an möglichst universitätsähnlichen Gebilden zu studieren und es denen da gleichzutun, mit hochgeröteten Köpfen den Korpsier zu markieren und einer im tiefsten Grunde feigen Roheit durch das Gruppenventil Luft zu schaffen. Der Abort als Vorbild der Nation.

Und der da soll im Jahre 1940 Arbeiter richten dürfen? Ein solches Biergehirn, in dem auch nicht ein Gedanke über den sauren Muff seiner Kneipe reicht, entscheidet über Leben und Tod? Über Jahre von Gefängnis und Zuchthaus? Das will Provinzen verwalten? Ein solch minderwertiges Gewächs vertritt Deutschland im Ausland? verhandelt mit fremden Staaten? wird gefragt, wenns ernst wird? hat zu bestimmen, wenns ernst wird?

Das ist der Boden, auf dem die Blüten des deutschen Richterstandes gedeihen, welche Blumenlese! Man wundert sich bei Gerichtsverhandlungen und bei der Lektüre von Urteilsbegründungen oft, woher nur diese abgestandenen Vorurteile, die unhonorige Art der Verhandlungsführung, die überholten Anschauungen einer kleinbürgerlichen Beamtenschaft stammen mögen. Hier, auf den Universitäten, ist der Boden, in dem eine Wurzel dieser Produkte steckt. Niemand reißt sie aus.

Denn diese setzen sich durch. Die herrschen. Die kommen dran. Ich kann beim besten Willen nicht sehen, wo die aufhebende Wirkung der vielgerühmten Jugendbewegung ist, die Ignorieren für Kampf hält; wo das Gegengewicht steckt, wo die andre Hälfte der Nation bleibt, jenes andre Deutschland, das es ja immerhin auch noch gibt. Wenns zum Klappen kommt, ist es nicht vorhanden. Ungleichmäßig sind bei uns Gehirn und Wille verteilt: der eine hat den Kopf, und der andre den Stiernacken. Es gibt kaum eine intelligente Energie. Sie haben nicht nur das größere Maul, die dickern Magenwände, die bessern Muskeln, die niedrigere und frechere Stirn: sie haben mehr Lebenskraft.

Kein Gegenzug hält sie in Schach. Keine deutsche Jugend steht auf und schüttelt diese ab. Keine Arbeiterschaft hat zur Zeit die Möglichkeit, die Herren dahin zu befördern, wohin Rußland sie befördert hat. Sie herrschen, und sie werden unsre Kinder und Kindeskinder quälen, daß es nur so knackt. Diesem Land ist immer nur ein Heil widerfahren, und was nicht von innen kommt, mag getrost von außen kommen. Niederlage auf Niederlage, Klammer auf Klammer – Napoleon hat mehr für die deutsche Freiheit getan als alle deutschen Saalrevolutionen zusammen. Aber manchmal tuns auch die Niederschläge nicht, kein fremder Imperialismus hilft gegen den eignen. So tief ist das Laster eingefressen, daß der begreifliche Wunsch derer, die ihre Heimat lieben und ihren Staat hassen, umsonst getan ist.

Deutschland ist im Aufstieg begriffen. Welches Deutschland? Das alte, formal gewandelte; eins, das mit Recht nach seinen bösen Handlungen und nicht nach seinen guten Büchern beurteilt wird, und das bis ins republikanische Herz hinein frisch angestrichen ist, umgewandelt und ungewandelt: die wahrste Lüge unsrer Zeit. Das Deutschland jener jungen Leute, die schon so früh »Alte Herren« sind, und die für ihr Land einen Fluch darstellen, einen Alpdruck und die Spirochäten der deutschen Krankheit.

Wie benehme ich mich als Mörder?

Wenn einer einen Mord begeht, so halte er sich stets vor Augen, daß er später einmal nicht nur wegen Mordes abgeurteilt werden kann, sondern vor allem und hauptsächlich wegen seines Vorlebens sowie wegen der Begleitumstände, die seine Tat umgeben. Vor Gott wird er sich für das vergossene Blut rechtfertigen müssen – der Vorsitzende einer deutschen Strafkammer aber mißt mit strengerem Maß. Soweit man das einem Mörder zumuten kann, wird derselbe also guttun, sich in die Seele eines Landgerichtsdirektors zu versetzen, damit es nachher keine strafverschärfenden Momente gibt.

Der dicke Chesterton hat entdeckt, daß man einem Mörder alles verzeiht, nur nicht, daß er nach der Tat eine Zigarre raucht – Mörder haben keine Zigarren zu rauchen, weil dies ein Zeichen übelster Seelenroheit darstellt. Chesterton kennt die deutschen Gerichte nicht, sonst hätte er schon längst vor Schreck dreißig Pfund abgenommen – mit der Zigarre allein ist die Sache nicht getan.

Der Mord ist, wie jedem gebildeten Staatsanwalt bekannt, eine Tat, die in der äußersten Ekstase und mit der kältesten Roheit begangen wird. Dabei hat der Mond durch das Gewölk zu brechen; auch haben Mörder bereits vor der Tat finster entschlossen herumzulaufen, deutliche Zeichen von innerer Unruhe von sich zu geben und mit den Augen zu funkeln. Unehelicher Geschlechtsverkehr vor dem Mord ist tunlichst zu meiden, da dies ein schlechtes Licht auf den Charakter des Mörders wirft und jeder Akt eine rhetorische Pointe im Plädoyer des Staatsanwalts oder, was dasselbe ist, in der Urteilsbegründung des Vorsitzenden abgibt. Mit seinem Leben kann man überhaupt nicht vorsichtig genug umgehen, weil es eines Tages ein Vorleben werden kann, und dann erst wird man, vor den unerbittlichen Fischaugen des Gerichts, entdecken, was man da alles zusammengelebt hat.

Nach dem Mord meide der Mörder vor allem öffentliche Gaststätten, Sechs-Tage-Rennen, Dirnen, Spaziergänge auf der Straße sowie die eigene Wohnung, die er keinesfalls ruhig, als ob nichts geschehen sei, aufsuchen darf. Wie sich ein Mörder nach der Tat eigentlich benehmen soll, damit er vor Gericht keinen Anstoß erregt, ist schwer zu sagen: jedenfalls so nicht. Um bei einem Doppelmord eine der verwirkten Todesstrafen im Gnadenwege zu ersparen, stellt sich der Mörder dem nächsten Polizeirevier unter genauer Angabe der Einzelheiten seiner Tat, der Motive und der nötigen Indizien. Nach dem Geständnis bricht er am besten völlig zusammen, wie er sich überhaupt mit Vorteil nach der Literatur, die in den Kreisen der Juristen gelesen wird, richtet: sein Verhalten sei also psychologisch leicht anormal, wirr, aber dem Verständnis eines Zwei-Bänder-Mannes gerade noch angepaßt. Verstiegenheiten sind, wenn irgend angängig, zu meiden. Sehr günstig ist es, wenn den Mörder nach der Tat die vorgeschriebenen Gewissensbisse foltern; sollte sich eine mahnende Traumerscheinung des Opfers einlegen lassen, so ist dieselbe unbedingt zu empfehlen.

Auf diese Weise kann jeder, der in die traurige Lage versetzt ist, einen Zivilmord begehen zu müssen, damit also ein Monopol des Staates schwer verletzend, getrost vor einem deutschen Gericht erscheinen: er wird, wenn er sich nur vor, während und nach der Tat den Vorstellungen seiner Richter gemäß verhalten hat, auf die Milde und das Verständnis derselben rechnen können, und er wird dann, mit allen Tröstungen einer Reichsgerichtsentscheidung sowie seines seelsorgerischen Beistandes versehen, dem Nachrichter als ein guter Christ und Untertan übergeben werden.

Für die Herren Ordnungsstifter, Straßenkämpfer und Kinder vom Feldwebel aufwärts gelten diese Bestimmungen nicht. Der deutsche Mörder aber lasse sich gesagt sein, daß seine Tat ihn verpflichtet, durch und durch Mörder zu sein, und nichts als das. Er richte sich darin nach seinen Richtern, die Richter sind und nichts als das.

Die Heinrich und der Zivilist

Neulich hat ein Reichswehrsoldat, der in Altdamm bei Stettin Posten schob, einen Arbeiter erschossen, den er in der Dunkelheit für einen Einbrecher gehalten hat. Die Waffen gehen immer noch reichlich schnell los in Deutschland – die niederträchtigen Schießerlasse aus den Jahren schlimmster Verkommenheit der Sozialdemokratie sind noch nicht alle beseitigt, und ein Menschenleben ist noch genau so billig zu haben wie im Kriege. Während im Reichstag beschämend niveaulose Debatten über die Todesstrafe geführt werden, kann diese Todesstrafe leicht und gefahrlos von einem Kriminalbeamten, von einem Schutzpolizisten, von einem Reichswehrsoldaten verhängt werden, unter Umständen, die seine vorgesetzte Behörde prüft, was sehr objektiv vor sich geht. Also: jener Posten, der da Traindepots bewachte, mußte schießen. Auf wen –? Der Bericht sagts.

Auf einen »Zivilisten«.

Diese geistesschwache Terminologie stammt noch aus der Zeit Wilhelms von Abfundien; ein »Zivilist« ist einer, der merkwürdigerweise keine Uniform trägt – was es nicht alles gibt auf der Welt! Die Vokabel geht von der richtigen Vorstellung aus, daß der Mansch zunächst einmal eine Uniform zu tragen habe – und erst, wenn er diese primäre Voraussetzung nicht erfüllt, dann ist er ein »Zivilist«. Wobei zu bemerken ist, daß auf diesem Gebiet Übergänge vorkommen: so war zum Beispiel der Kriegsminister Geßler ein militärischer Zivilist. Der Fall ist äußerst selten.

In die gleiche Kategorie dieser Kasernenwelt gehört die ständige Beflegelung von Zeugen und Angeklagten durch die deutschen Richter. Bei diesen Juristen gibt es das Prädikat »Herr« und »Frau« nicht. Beispiel:

Ein Hypnotiseur wird verurteilt, weil er sich an einem Stubenmädchen vergangen haben soll. Der Prozeß wird von der Staatsanwaltschaft geführt, um das Rechtsgut einer Verletzten zu schützen – also für die Hauptzeugin. Was aber die gesamte Besatzung nicht hindert, diese zu schützende Zeugin dauernd »die Heinrich« zu nennen.

»Gegen einen vollendeten Beischlaf spricht die vorhandene Intaktheit der Heinrich.«

Nun sagt man wohl »die Justitia«, und das mit Recht – aber man muß sich doch fragen, ob denn keine Aufsichtsbehörde da ist, die diesen Richtern, diesen Staatsanwälten und Untersuchungsrichtern die einfachsten Formen des Anstands beibringt. Für den Herrn Landgerichtsdirektor ist die Zeugin allemal Fräulein Heinrich – und weiter nichts. Kein Talar berechtigt zu Umgangsformen, die einfach eine Ungezogenheit sind und eine Nichtachtung derer, die durch ihren Lohnabzug zum Gehalt der beamteten Juristen beitragen.

Unart der Richter

Eine der unangenehmsten Peinlichkeiten in deutschen Gerichtssälen ist die Überheblichkeit der Vorsitzenden im Ton den Angeklagten gegenüber. Diese Sechser-Ironie, verübt an Wehrlosen, diese banalen Belehrungen, diese Flut von provozierenden, beleidigenden und höhnischen Trivialitäten sind unerträglich.

Da haben sie neulich einige Fürsorgezöglinge am Kanthaken gehabt, weil die ihren Vorsteher verdroschen hatten, und es ist natürlich ohne genaue Kenntnis der Vorgänge nicht möglich, über das Materiell-Rechtliche etwas auszusagen; wir wissen nicht, ob die Erziehungsanstalt Berlinchen anständig und sauber geleitet worden ist oder nicht. Was wir aber wissen, ist, wie sich deutsche Richter und besonders die Vorsitzenden im Gerichtssaal betragen. Dieser – ein Herr Barsch aus Landsberg an der Warthe – zum Beispiel so:

»Das Essen«, so ungefähr sagt der Hauptangeklagte, »war unzureichend. Es gab zwar genug zu essen, aber es wurde sehr schlecht gekocht.« Mit diesem Satz will sich der junge Mensch verteidigen, und das ist sein Recht. Darauf der Vorsitzende:

»Es gab wohl nicht genügend Delikatessen?«

Dieser Satz ist eine Ungehörigkeit. Was soll das? Soll diese Bemerkung ein Witz sein? Für wen wird der gemacht? Für den beifällig lächelnden Beisitzer? Für die Presse? Für den Zuschauerraum? Nein, das charakterisiert nur die Dienstauffassung dieser Juristen, die einen unheilbaren Größenwahn in sich tragen. Sie sind das Maß aller Dinge, sie wissen alles, sie haben für alles Verständnis, und sie belehren und erziehen mit solch ungezogenen Bemerkungen, die ihnen nicht zustehen, ein ganzes Volk, das sich zu viel gefallen läßt.

Ein Zeuge, der unmittelbar beteiligte Anstaltsleiter Hoffmann, der das größte Interesse daran hat, mit einer guten Nummer aus diesem für ihn peinlichen Prozeß herauszukommen, zählt auf, was es alles zu essen gegeben habe. Wir kennen diese offiziellen Küchenberichte vom Militär her, wo kein Diebstahl, begangen durch die Offizierkasinos, jemals ans Tageslicht gekommen ist. Der Zeuge verliest die Liste der Gerichte, die er angeblich hat kochen lassen.

Der Vorsitzende: »Nun hören Sie aber auf, sonst erlebt die Fürsorge noch einen Ansturm!«

Was soll das? Wozu auf den Angeklagten, die die Richter ja sowieso in ihrer Macht haben, herumtrommeln? Um sie zu ducken? Zweifellos.

Keine Verteidigung kann dagegen remonstrieren – es ist als sicher anzunehmen, daß sich eine Zurechtweisung des Richters wegen solcher Ungehörigkeiten bestimmt in einem Strafzuschlag bemerkbar machte. Also hält der Angeklagte den Kopf gesenkt und schweigt. Nur der einzige Max Hölz und ein paar andre tapfre Proletarier haben den Juristen die Meinung gegeigt.

Wenn der deutsche Richterstand sich das verlorne Vertrauen wieder erringen will, dann soll er, ganz abgesehen von den Sprüchen der Justiz, zunächst einmal darauf halten, daß die Vorsitzenden das elementare Gebot einfachsten Anstands beachten und einen Unglücklichen nicht noch durch Beleidigungen demütigen, die in ihren Kreisen prompt mit einer Forderung bedacht werden.

Gesicht

Für George Groß, der uns diese sehen lehrte

Ein ziemlich gedrungener Kopf, keine allzu hohe Stirn, kühle kleine Augen, eine Nase, die gern in Gläser sich senkt, ein Mund, der kalt befiehlt, und eine unangenehme Zahnbürste, die den Schnurrbart macht: so sieht dieses Gesicht aus. Ein gut fundierter schwarzer Rock, eine mäßig geschlungene Krawatte mit einer Art Perle darin, ein immer sauberer Kragen – das ist auch noch zu sehen. Das Haar ist an den Ohren kurz geschnitten; der ganze Mann ist reinlich, putzt sich morgens die Fingernägel, rasiert sich oder läßt sich rasieren.

Schon als junger Mensch drängelte er sich, nicht allzu interessiert, durch die Türen der Kollegsäle; seine Mama sagte: »Hubert, wann kommst du heute nach Hause?« – und er gab nicht allzu freundlich Auskunft. Büffelte. Bestand Examina. Wurde aufgerufen: »Hubert Soundso …« Und dann erhob er sich, ein bißchen unterwürfig, ein bißchen angstvoll, nicht sehr aufgeregt, kalt eigentlich. Trat in den Staatsdienst, rückte rasch auf.

Lange Vormittage mit schwierigen Aktenarbeiten, mit leeren Pausen, wo das Frühstück aus der Aktentasche genommen wurde – darin lag auch ein Brief, der ärgerlich war, und einer, der für den Abend eine kleine außerdienstliche Freude verhieß. Im übrigen: kalt bis ans Herz hinan. Ab und zu mal ein Buch gelesen, das nicht zur Sache gehörte, einmal Spengler versucht, dolles Zeugs –, mit der Briefschreiberin zu Hardts »Tantris« gegangen. Sehr poetisch. In der Pause: »Möglicherweise werde ich in diesen Tagen in die andere Abteilung versetzt. Na, Gott sei Dank …«

Im Kriege Kompanieführer. Unerbittlich, kalt. Kalt zu den Kanzleidienern, die sich nicht wehren konnten, kalt zu den jungen Assessoren – »Habe das auch mal durchmachen müssen!« –, kalt zur Welt, kalt zu Gott. Verheiratet. Hat zwei Kinder. Liebt sie auf seine Weise. Lacht gern mal, abends, über einen dicken Witz, weiß noch drei Wirtinnenverse, die andern leider vergessen. Ist felsenfest von der Richtigkeit des Staatsgefüges, der Rechtsprechung, der Kirche und der allgemeinen sittlichen Grundlagen überzeugt. Hat auch weiter nicht darüber nachgedacht. Sieht gar nicht schlecht aus, wenn er am Schreibtisch sitzt und sich, beim Ordnen der vielen Aktenstücke, einmal kurz räuspert … Ist doch wer. Fühlt sich in völliger Harmonie mit Land, Majorität und Volksgemeinschaft. Liebt den preußischen Adel nicht übermäßig –: ist ihm unangenehm. Ist aber tadellos korrekt und höflich, nach oben durchaus kleiner Bürgerlicher. Nach unten: selber Adel.

Repräsentiert. Macht Karriere. Wird wohl nächstens irgend ein großes Tier werden, Gesandter, Ministerialdirektor, Staatssekretär, was weiß ich. Deutschland? Deutschland.

Die kleinen Parlamente

»Zur Geschäftsordnung!«

Achtzig intelligente Deutsche: das kann, wenn man sie einzeln vor sich hat, eine herrliche Sache sein. Sie sind nicht so sprunghaft gescheit, wie es wohl viele andere Rassen sind, in ihren Köpfen herrscht Ordnung, die Schubfächer sind aufgeräumt, und es ist eine helle Freude, sich mit ihnen zu unterhalten. Wenn aber dieselben intelligenten achtzig Leute zu einer Sitzung zusammenkommen, dann geschieht etwas ganz Furchtbares.

Hat man einmal beobachtet, daß achtzig Leute, wenn sie vom Teufel der Kollektivität besessen sind, nicht mehr achtzig Leute sind? Daß sie zu einem neuen, unfaßbar schrecklichen Ding werden, das viele Köpfe, aber kein Gehirn hat, das ungestalt, schwerfällig, träge, sich und den andern das Leben schwer macht? Da müssen Sie hineingetreten sein – das müssen Sie gesehen haben.

Die achtzig Mann setzen sich also in einem mittelgroßen Raum zusammen und werden nun, denkt der Unbefangene, ihre Sache durch gemeinschaftliche Aussprache fördern und weitertreiben. Wie? Aber gar nicht. Aber ganz im Gegenteil. Diese achtzig Leute bilden ein kleines Parlament, und das ist der Anfang vom Ende.

Sie sind behext. Sie sind gar nicht mehr sie selbst. Sie sind verwandelt. Was vorher, noch eben, in einer kleinen klugen Privatunterhaltung, klar und faßlich erschien, das wird nun auf unerklärliche Weise verwirrt, wolkig, kompliziert und von einer unauflöslichen Verkettung. Hier ist ein Wunder, glaubet nur!

Der Vorsitzende erhebt sich, ein braver und guter Mann, sein Bauch liegt an einer Uhrkette; aber kaum hat er drei Sätze gesprochen, so erhebt sich eine dünne Fistel: »Zur Geschäftsordnung, zur Geschäftsordnung!« – Nein, die Fistel bekommt jetzt das Wort nicht. Aber dann wird sie eine Abstimmung darüber herbeiführen, ob nach § 17 Absatz 5 der Satzungen der Vorsitzende in der Lage sein dürfte – he? Über diese zu veranstaltende Abstimmung erhebt sich eine Debatte. Schlußantrag zur Debatte. Dringlichkeitsantrag vor dem Schlußantrag. Gegenantrag. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann debattieren sie heute noch.

Und die Sache? Und die Sache, um derentwillen man doch immerhin, entschuldigen Sie, zusammengekommen ist? Aber pfeif doch auf die Sache! Aber wer denkt denn jetzt hier an die Sache! Hier gehts um wichtigere Dinge. Hier geht es darum, ob die Vorkommission, die damals von den Vertretern der Ausschußkommission gewählt worden war, auch wirklich legitimiert ist, der Vollversammlung diejenigen Vorschläge zu machen, die … »Mir auch ein Bier! Der Herr Vorredner …«

Meine Lieben, ihr lacht. Lacht nicht. Man muß das gesehen haben, wie Schornsteinfegermeister und Wäschefabrikanten und Schriftsteller und Kegelbrüder aller Arten – wie alle hierzulande in einen eigentümlichen, fast psychopathischen Zustand verfallen, wenn sie vom Parlamentsteufel besessen sind. Es muß da etwas ganz Eigenartiges in den Gehirnen vorgehen: der Stolz, nun einmal endlich nicht als Privatperson, sondern gewissermaßen als öffentliche Person zu sprechen, die kleine, rührende und unendlich gefährliche Freude, den schlichten Bürger auszuziehen und als Cicero, Mann des Staates und Bevollmächtigter dazustehen: das ist es wohl, was so viel positive Arbeit in einem lächerlichen Wust von Kleinkram untergehen läßt.

»Herr Kollege Karschunke hat das Wort!« – »Ich habe vorher zur Geschäftsordnung sprechen wollen!« – »Herr Kollege Karschunke …« – »Satzungsbruch! Unmöglich! Ja! Nein!« (Beifall rechts. Links Zischen. Zuruf aus der Mitte: »Falsche Fuffzijer!« Glocke des Präsidenten.)

Nun hat die Sache neben der komischen Seite eine verdammt ernste. Der gesamte Betrieb ist tief unehrlich und verlogen. Man sagt: »Zur Geschäftsordnung!« und meint: »Herr Pannemann ist ein Schweinehund!« Man sagt: »Der letzte Satz der Resolution enthält unseres Erachtens einen schweren Fehler« und meint: »Dem wollen wir mal eins auswischen!« Nirgends wird so viel persönliche Feindschaft unter so viel scheinbar sachlichen Argumenten versteckt, wie in den kleinen Parlamenten.

Diese scheinbar unbeirrbare Sachlichkeit, dieses ganze Drum und Dran, dieser eherne Apparat von Formeln und Formalitäten ist unwahr. Vor vielen Jahren erlebte ich einmal in einer solchen Versammlung, wie mitten in dem feierlichen Getriebe wegen der schlechten Luft im Lokal eine Resolution eingebracht wurde, die ein Rauchverbot enthielt. Die Resolution sollte gerade angenommen werden – da stand ein kleiner, hagerer Mann auf, bat um das Wort zur Geschäftsordnung und sagte mit Stimme Nummer drei: »Meine sehr verehrten Herren! Ich möchte doch dafür plädieren, daß denjenigen Herren, die eine Tabakspfeife rauchen, wenigstens erlaubt wird, dieselbe zu Ende zu rauchen!« – Er hatte nämlich eine in der Hand. »Zur Geschäftsordnung!« Und wenn dieser ominöse Ruf ertönt, dann muß ich immer an den kleinen Mann mit der Tabakspfeife denken. Ich sehe sie hinter vielen Anträgen brennen.

Aber da sind nicht nur die Fälle offener und versteckter Obstruktion oder persönlicher Interessenvertretung. Wie umständlich ist das alles! Wie humpelt so eine Verhandlung dahin! Wie zuckt jeder, der ein bißchen Blut in den Adern hat, auf seinem Stuhl, wenn er sieht, wie vierzig ernsthafte, ältere, mit Kindern gesegnete Familienväter und zwanzig nicht minder würdevolle Junggesellen in zwei Stunden um einen riesigen Tisch herum nichts als leeres Stroh dreschen! Muß das sein?

Aber sie platzen lieber, als daß sie ihrs nicht aufsagen. Sie müssen das alles sagen – auch wenn sie genau fühlen, daß es die Sache um keinen Zoll weiterbringt. Sie fühlens nicht. Der Drang, sich reden zu hören, die Sucht, unter allen Umständen nun auch noch einen Klacks Senf zu dem Gericht dazuzugeben, treibt sie, aufzustehen, den Männerarm in die Höhe zu recken und mit gewichtiger Stimme zu rufen: »Ich bitte ums Wort. Meine Herren – –«

Liebe Ehefrauen! Wenn ihr wüßtet, welchen Kohl eure Männer in den Versammlungen zu bauen pflegen, in die sie mit so sorgenschwerer Miene zu eilen pflegen, daß ihr denkt: »Ich will ihm lieber doch nicht abreden, es scheint etwas Wichtiges zu sein« – wenn ihr wüßtet, mit welchen Nichtigkeiten und Kleinlichkeiten da die Zeit vertrödelt wird: ihr würdet noch viel böser darüber sein, daß euer Anton abends nicht zu Hause bleibt.

Anton! Wo ist Anton? Generalvollversammlung, Abstimmung, Vorredner, Diskussion, Schluß der Debatte, namentliche Abstimmung, zur Geschäftsordnung, zur Geschäftsordnung!

Und das geht so siebenmal in der Woche in tausend deutschen Bierlokalen, damit wird die Zeit verbracht, damit beschäftigen sich erwachsene Männer und Frauen. Ist das Parlamentarismus? Oder seine Karikatur? Muß das so sein?

Ach, es sind nicht nur die kleinen Parlamente. Auch in den großen … Aber das ist ein weites Feld.

Persönlich

»Ich möchte Herrn Regierungsrat persönlich sprechen!« »Herr Professor Gustav Roethe war persönlich anwesend.« »Der Chef des Stabes der Reichswehr ist diesen Beschwerden persönlich nachgegangen.«

Was ist denn das? Haben alle diese zwei Persönlichkeiten: eine einfache und eine persönliche? Was bedeutet das?

Das bedeutet eine Wichtigmacherei, die auf derselben Etage wie das deutsche Vorzimmer wohnt (am Telephon: »Hier Vorzimmer von Herrn Portier Knetschke!«); wie der Apparat, ohne den es keiner mehr tut (»Ich werde das mit meinen Herren besprechen!« – hat aber nur einen); wie das ganze mißverstandene Brimborium des so gern kopierten überorganisierten Militärbetriebes, der es allen Deutschen zum ersten Mal vor die Augen geführt hat, wie man auf möglichst geräuschvolle und kostspielige Weise nichts tun kann. Der Divisionskommandeur arbeitete nicht allzuviel. Aber das Wenige, was er tat, tat er durch seinen Adjutanten, durch seine Unterorgane, und nur Orden und Rotwein nahm er persönlich in Empfang. Die privaten Gruppen aller Sorten ahmen ihm selig nach. Der Chef des Betriebes hat den soziologisch umstrittenen Gedanken der Delegierung auf die Spitze getrieben und seine Machtvollkommenheiten so aufgeteilt, daß man ihn schon manchmal, wenns unten gar zu dumm wird, »persönlich« in Anspruch nehmen muß. Die Männer der Öffentlichkeit kopieren es überglücklich. Sie kommen nicht selbst, sie telephonieren nicht selbst, sie unterschreiben nicht selbst. Daher denn keiner mehr sagt: Ich möchte den Herrn Reichstagsabgeordneten sprechen! – sondern: Ich möchte ihn persönlich sprechen! Immer voller Angst, daß sonst seine Waschfrau käme. Mit der sicherlich oft besser zu verhandeln wäre.

Diese aufgeblasene Eitelkeit, die immer und immer mehr bei uns einreißt, diese Sucht, dem gemeinen Haufen nur ja den Aspekt eines zu geben, der über den Wolken schwebt – wie dumm, wie hohl und vor allem: wie unpraktisch ist dies Theater! In Amerika hat jeder für jeden Zeit, solange sich der kurz faßt; in Frankreich ist es nicht gar so schwer, zu den maßgebenden Männern Zutritt zu bekommen; in England denken die Leute an ihre Sache und nicht immer an ihre Person und bestimmt nicht an eine Hahnenwürde; bei uns zu Lande ist es wunder was für eine Geschichte, mit einem besser bezahlten Mann »persönlich« zu sprechen. Ist die Audienz beendet, so bleibt ein Abglanz des Unerhörten auf dem Empfangenen haften, der strahlend nach Hause stelzt. »Ich habe heute früh mit dem Oberbürgermeister persönlich gesprochen …« (Du armer Hund hast natürlich nur seinen Sekretär sprechen dürfen oder seinen Portier – ich aber habe ihn persönlich zu fassen bekommen!) Tief wurzelt der Knecht im Deutschen – leise kitzelt es im Rücken und tiefer: Kommt der Fußtritt? kommt er nicht? Er kommt nicht! Heil! Er hat mit mir persönlich gesprochen und nicht durch einen alten Trichter aus dem Nebenzimmer! Ich bin erhöht.

Es gibt Menschen, mit denen möchte ich um keinen Preis sprechen, dienstlich nicht und privat nicht und persönlich schon gar nicht: mit Strafkammervorsitzenden, alten Bataillonskommandeuren, Kriegsgerichtsräten und ähnlichen persönlichen Persönlichkeiten.

Lieber Gott! Nimm doch den deutschen Kaufleuten und Beamten diese dumme Sucht, sich als gar so kostbar hinzustellen und sich mit etwas dicke zu tun, was meist gar nicht da ist: mit einer Persönlichkeit! Den Soldaten kannst du es lassen, sie haben ja selten etwas anderes! Tu es doch, lieber Gott, ja –?

Dieses Gebet werde ich mal dem lieben Gott persönlich unterbreiten.

Der Mann mit der Mappe

Der Nationalökonom Alfons Goldschmidt hat mir neulich die Augen geöffnet. »Das Kennzeichen Berlins«, sagte er, »ist der Mann mit der Mappe.« Ich sah um mich, und dies war es, was ich sah:

Alle Männer auf der Straße tragen eine Mappe. Es ist nicht auszudenken, was in Berlin täglich für Papier herumgetragen wird: die ganze Stadt schleppt emsig Ballen Schreib- und Druckpapiers von einem Fleck zum anderen. Was mag in den Mappen sein –?

Das Frühstück natürlich, dann Bindfaden, ein zerbrochener Füllfederhalter und etwas zum Lesen. Diese Lektüre wird kaum angefaßt, wie ja überhaupt alle Leute von dem Aberglauben besessen sind, gewisse Sachen »unterwegs erledigen zu können« – aber niemals wird etwas daraus. Abends zieht der Mappenmann seinen Kram genau so unberührt aus der Mappe, wie er ihn hineingelegt hat. Bei dem allgemein gültigen Bestreben, nicht unter acht Sachen zugleich zu tun, belastet diese Vorratsarbeit die Mappenträger, aber sie lassen nicht davon ab. Was ist aber noch in der Mappe?

In der Mappe ist das, was der Besucher nach den einleitenden Sätzen mit den Worten herauszieht: »Ich habe hier eine Sache …«, und dann gehts los. Meist findet er sie nicht auf Anhieb, er sucht sie erst aus den Verträgen, Heiratspapieren, Korrespondenzen, Korrekturfahnen heraus, fischt im Papierteich, angelt – schwupp! Wenns gut geht, hat er sie zu Hause liegen lassen.

Mappe muß sein.

Die Mappe ziert den gemeinen Mann und deutet auf jeistige Arbeit – daher sie denn wohl auch der Schnorrer mit steifer Grandezza in der Hand baumeln läßt. Kümmerlich zusammengeschrumpft hängt die Verhungerte armselig neben seinem abgeschabten Überzieher … Es gibt aber auch wohlhabende Mappen; bis zum Platzen gefüllt, leuchten sie herrlich gelackt oder gewachst im Sonnenschein, die Nickelbeschläge protzen: »P! Wir! Uns kann keiner, und uns können sie alle –!« So feine Mappen sind das.

Manche Menschen mit gestörtem Empfindungsleben tragen zwei Mappen mit sich herum, aber das ist selten: ein besserer Herr ist in dieser Sache monomapp.

Warum tragen aber alle diese die Mappe mit sich –?

Weil sie Dienst haben, den ganzen Tag. Weil die Arbeit sie auffrißt, täglich, stündlich, weil sie »ze tun« haben – etwa in dem Tempo, in dem der Komiker Otto Wallburg spricht. Ginge es logisch zu in der Welt, so müßte ja der Mann in der Mappe liegen und sich nur gelegentlich, zu dienstlichen Zwecken, ans Tageslicht ziehen. Ja, die Berliner Mappe hats in sich.

Sie regiert den Kerl, der sie trägt, sie bestimmt dessen Dasein, nicht umgekehrt. Er durchraschelt alle Papiere, die er schleppen muß – er durchstöbert ihren Wust, er rummelt darin umher, und wenn es hochgekommen ist, dann ist es Mühe und Arbeit gewesen, und es muß ja wohl Leute geben, die glauben, zu diesem Behufe auf der Welt zu sein. Mappe, du traurige Mappe, wie beschwerst du das Leben! Nie läßt du die Leute schlendern, mit den Händen in den Taschen, ohne dich, frei! Was einer nicht im Kopf hat, das muß er in der Mappe haben.

Nikolassee trägt seine Weisheit in die innere Stadt, Moabit transportiert das Jus nach dem Osten, der Alexanderplatz wedelt mit der Mappe nach dem Westen, kein Papier darf da bleiben, wo es geboren ist – trage, Liebchen, trage!

Dabei sind die meisten Mappen unvollständig: sie müßten eine kleine Kartothek eingebaut haben, etwas Wasserspülung und einen zusammenklappbaren Pokertisch … Mappen sind lebensnotwendig: wie könnte die deutsche Wirtschaft funktionieren ohne die Mappe! In England sollen die Leute auch mit Mappen herumtraben, hat man mir erzählt; aber daß sie es in Paris nicht tun, das weiß ich ganz gewiß. Denn der Franzose … also, was ist denn das überhaupt für ein Mensch! Der glaubt, daß man die Arbeit in seinem Geschäft tut, und wenn er über die Schwelle hinausgetreten ist, dann ist es aus damit, und selbst im Café de Commerce, wo die bessern Sachen abgeschlossen werden, geht das ohne Mappe zu. Aber er schreibt wohl nicht immer das Nötige …

Wir schreiben. Denn sonst hätten wir nichts, was wir durch unsere Brillen ansehen können, und wohin kämen wir wohl ohne das –! Wenn einer geboren wird, und wenn einer stirbt, wenn ein Stück Drama von Unruh aus dem Fenster fällt, und wenn ein Filmband zerreißt, wenn Frau Helen uns mit den großen blauen Augen Ja zuwinkt und Nein meint, wenn einer einen Verkehrsturm umfährt, und wenn in einem nationalen Blatt eine Sicherung durchbrennt: wir schreiben. Und was wir geschrieben haben, das tun wir dann in die Mappe.

Und es ist nur schade, daß wir auf den Presseball ohne Mappe kommen – es würde das wesentlich zur Verschönerung des Bildes beitragen.

Schilt die Mappe nicht, Peter! Sie hat eine heilige Mission zu erfüllen hienieden – sie läßt ihren Träger an die Wichtigkeit seiner Arbeit glauben, und das ist mitunter gar nicht so einfach. Gott segne sie, die gute, treue, rindslederne; schier dreißig Jahre ist sie alt, hat manchen Sturm erlebt … Sieh, ihr gefaltetes Gesicht! Die zerfurchten Züge, die morschen Nähte! Was barg sie nicht schon alles in ihrem Bauche …?

Wenn aber einmal alles untergegangen ist von unserer Epoche, die Holzbarrieren auf den Straßen, die die Autos anlocken sollen, die Fußgänger zu hindern, den Fahrdamm zu passieren; wenn der Funkturm dahin ist und das letzte Sechs-Tage-Schieben und die Professorentitel unserer Theaterdirektoren: eines sollte übrigbleiben von dieser Zeit, als Denkmal aere perennius.

Ein Mann, aus Marmor, ordentlich in Stein ausgehauen, mit ernster Miene und sorgenvollen Naslöchern, eilig dahinschreitend, unter dem Arm sein geistiges Wickelkind, ganz der Papa aus Rindsleder.

Der Mann mit der Mappe.

Berliner Geschäfte

Berliner Geschäfte gehen so vor sich:

Eines Tages klingelt dich eine Herrenstimme an. »Ja – Halloh? Ja, hier ist die Internationale Union-Zentrale – wir möchten Sie möglichst bald sprechen – aber möglichst bald! Wann dürfen wir Sie erwarten?« – Du sagst, sie können dich und möglichst bald erwarten. Gut. Und dann gehst du hin.

Es empfängt dich, mit allen Zeichen des Entzückens, ein außerordentlich freundlicher, dicker Mann. Er sagt, er habe schon viel von dir gehört, er sei begeistert, deine persönliche Bekanntschaft … ob du nicht Platz nehmen wollest, auch eine Zigarre … wie? … Ja, also zur Sache. Es handele sich da um etwas ganz Neues. Um etwas absolut und völlig Neues, bei dem man gleich an dich gedacht habe – weil es ohne dich erstens nicht gehe, und weil du überhaupt der geeignetste Mann … Man wolle nämlich – aber das sei noch ganz vertraulich – man wolle nämlich eine neue Zeitschrift aufmachen. Ach, um Gotteswillen! Aber du fällst nicht vom Stuhl, sondern stehst den kleinen, dicken Mann, gesellschaftlich wohl erzogen, wie man dich hat, freundlich an. Ja, sagt der, also eine neue Zeitschrift – und alle ersten Leute würden mitmachen, und du als Zeichner, du müßtest auch. Aber gleich! Aber sofort! Es seien nur noch ein paar kleine Modalitäten, ein paar Formalitätchen … Kleinigkeiten, nicht wahr …? Im übrigen pressierte es sehr. Ob du wohl schon morgen abliefern könntest –? Oder vielleicht vorgestern? Aber sofort müßtest du liefern. Sofort. Du verbeugst dich sehr fein und versprichst: Sofort. Gut. Stühlerücken. Händedruck. Mich sehr gefreut. Aus.

Aus.

Nun hörst du nämlich vier geschlagene Wochen nichts mehr von der Internationalen Union-Zentrale. Du hast dich gleich am nächsten Morgen hingesetzt und hast das schönste Mädchenbein unter deinen Modellen abgekonterfeit, den grünsten Wald und den blausten Baldachin überm Himmelbett hast du gemalen – und das Ganze hast du fein säuberlich verpackt und an die I. U. Z. (wie das klingt! so kapitalkräftig!) abgeschickt. Und dann ist es aus.

Vier Wochen hörst du nichts. Dann schreibst du einen zagen Brief.

Nichts. Alle. Zerplatzt. Dann schreibst du einen etwas weniger zagen. Aber gar nichts. Dann telephonierst du. Es meldet sich eine quäkige Kleinmädchenstimme und sagt, als du dein langes Anerbieten heruntergebetet hast, das, was alle Berliner nach einem unerklärlichen Naturgesetz am Telephon sagen: »Einen Augenblick mal!« – Und verschwindet. Und inzwischen trennt dich das Amt und verbindet dich mit der Hebammenanstalt in Neukölln. Und schließlich wird es dir zu dumm, und du machst hin. Zur I. U. Z.

Der kleine, dicke Herr empfängt dich und ist entzückt. Du bist es nicht, aber er ist es. Aber bitte! Und ob du eine Zigarre …? Nein, die Zigarre möchtest du nicht. Auskunft möchtest du. Auskunft, was aus deinen Bildern … und aus der Zeitschrift …? Ah – deine Bilder –? Und der kleine, dicke Mann zieht aus einem Wust verstaubter Akten deine hübschen Bilder mit dem entzückenden Baldachin hervor und mit dem schönen Modellmädchenbein und sagt: »Ja – ganz reizend! Genau das, was wir von Ihnen erwartet haben! Wissen Sie, ich muß noch mit meinem Sozius darüber sprechen – es sind da noch einige Schwierigkeiten – wir haben zur Zeit soviel zu tun – Nur noch mit meinem Sozius …!«

Soziusse kommen in Berlin wild vor. Socii sind ein gefährlicher Negerstamm. Man lernt immer nur einen kennen. Der andere ist stets der stärkere und die Seele vons Buttergeschäft. Immer beeinflußt der andere den einen. Deinen. Soziusse sind, was die Unruhe in der Uhr ist. Sie stoppen ab.

Derweil ist viel öliges Wasser den Landwehrkanal hinabgeflossen. Die Wochen schwinden. Du hast schon ganz vergessen, was mit deinen Bildern – Eines Tages gehst du wieder hin, zur I. U. Z. Eigentlich mehr aus Neugier. Weise lächelnd und unendlich abgeklärt. Fern von allem Feuer der Jugend, steigst du die teppichbelegten Treppen hinan. Und der kleine, dicke Mann empfängt dich strahlend.

Was mit der Zeitschrift …? Ach, diesen Gedanken habe man längst aufgegeben. »Wissen Sie, die Konjunktur für Zeitschriften ist ja momentan – wie?« Nein, man wolle etwas ganz anders machen. Eine ganz große Sache. Aber eine ganz ungeheuer große Sache. Nämlich: eine Zentralmilchversorgungsanstalt. Und da ergreifst du resigniert deinen Deckel, gehst hinaus und weinest bitterlich.

Und denkst nach. Was ist das nur für eine Stadt? Jedermann läuft herum und ist voll großer Projekte und plant ganz große Dinge. Kein Theatermann, der nicht in der allernächsten Zeit – aber die Sache ist noch vertraulich! – eine neue große Theaterkiste aufziehen wird; kein Filmonkel, der nicht ein Riesenkonsortium an der Hand hat; kein Verleger, der nicht nächstens mal den Leuten zeigen wird, was eine Harke …

Und derweil geschieht gar nichts.

Berliner Geschäfte kommen nicht durch ihre Unternehmer, sondern trotz ihrer Unternehmer zustande.

*

Wird nicht wirklich in dieser gesegneten Stadt ein bißchen viel projektiert? Wird nicht ein bißchen viel hergemacht? Vorschußlorbeer? Wechsel auf die Zukunft? Wie –?

Wird nicht, überall, beim Theater, in den Zeitschriften, in der Kinobranche, etwas reichlich verschwenderisch mit der Kraft der andern, mit der Kraft junger Künstler umgegangen? Die älteren lassen sich das ja nicht gefallen – aber wenn einer muß? Wenn einer Geld braucht? Und ihr pumpt ihn voll Hoffnungen, und er liefert Entwürfe … Was sind Hoffnungen, was sind Entwürfe –! Übermorgen haben sie alles vergessen: euer Projekt, den Künstler und die Skizzen. Und frohen Herzens stürzen sie sich auf das nächste Ding …

»Ihr Gedächtnis reicht nämlich nicht von einem Tage zum andern. Sie haben niemals die Absicht, wirklich ein Unternehmen zu Ende zu bringen. Sie prahlen und schwatzen und machen viel Geschrei, daß sie ein großes Volk sind, und daß der ganze Dschungel demnächst von ihren Taten sprechen soll, aber das Füllen einer Nuß schreckt sie – sie brechen in ein dummes Gelächter aus oder rennen davon, und alles andere ist wieder vergessen.« Das sagt Kipling. Von den Affen.

Aber horch! Klingelts da nicht am Telephon? »Hier die Allgemeine Genossenschaftsvereinigung. Könnten Sie uns nicht vielleicht –?«

Und der Weise legt lächelnd den Hörer hin, hat alles schweigend mitangehört und glaubt kein Wort. Und denkt an Don Quichote, einen Ritter aus Spanien, der viele Heldentaten verrichten wollte.

Die Laternenanzünder

Schon mancher wird sich gefragt haben, wie denn die Laternen, die abends und nachts die Großstadt erhellen, in Betrieb gesetzt werden. Nun Komma die Antwort auf diese Frage ist nicht eben schwer. Hat doch der Frager sicherlich schon abends in unsrer Stadt Männer mit langen Stangen in Trupps von zweien oder dreien die Straße entlang ziehen sehen – Laternenanzünder sinds, die dort ihr schweres Amt ausüben. Wer sind diese Leute, und was treiben sie zu so später Stunde auf den dunkeln Straßen, welches sind die Voraussetzungen ihres Berufes, und wie ist ihre Vorbildung? Darüber den Leser aufzuklären, soll der Zweck der nachfolgenden Zeilen sein.

*

Der Trupp der Laternenanzünder setzt sich gewöhnlich aus drei Männern zusammen: dem Chef-Laternenanzünder, seinem Adjutanten und dem Hilfs-Laternenanzünder.

Der Chef-Laternenanzünder hat die Leitung der Abteilung. Er trägt die Verantwortung sowie eine lange Stange und bestimmt, welche Laternen zu entzünden sind. Nachdem er mit dem Lichtmesser in der Hand die Lichtstärke der betreffenden Straße »ausgeleuchtet« hat, wie der Fachausdruck heißt, setzt er seine Mannschaft an. Das geschieht folgendermaßen: Hält der Chef die Zeit für angemessen, so nähert sich der Trupp der Laterne, der Chef gibt erst den sogenannten »Vorbefehl«: »Achtung!«, der Adjutant nimmt die lange Stange in die Hand und wartet. Der Chef befiehlt: »Anleuchten!«, und der Adjutant reißt oben an der Laterne den Hebel mit sachkundigem Griff herum. Während dieser Zeit hat der Hilfs-Laternenanzünder ständig seine Geräte in Bereitschaft zu halten, denn dem Hilfs-Laternenanzünder untersteht der technische Dienst; er ist es, der die Geräte beaufsichtigt: Hammer, Zange, Bohrer, Kabel, Ersatzkohlen – alles das hat er unter sich.

Der Laie wird sich nur schwer in der Fülle der Fachausdrücke der Laternenanzünder zurechtfinden. Ist eine Straße ganz erleuchtet, so spricht man von »Voll-Licht«; beileibe »zündet« der Laternenanzünder keine Laterne »an«, sondern er »gibt Licht« – gegen Morgen wird »abgelichtet«, der betreffende Befehl heißt: »Ableuchten!« Werden die Leuchthebel, gewöhnlich gegen Ende des Monats, durchgeölt, so geschieht das aus einem Öltopf. Auch diesen Topf hat der Hilfs-Laternenanzünder unter sich.

Die Ausbildung der Laternenanzünder, mit Ausnahme des nur fachtechnisch geschulten Hilfspersonals, ist eine rein wissenschaftliche. Die Anforderungen an den Beruf sind hohe: der Mann, der sich als Aspirant vorstellt, muß über tadellose Papiere verfügen, aus politisch unbelasteter Familie stammen, eine freiwillige Übung bei einer Reichswehrbrigade mitgemacht haben und die Primareife eines Oberrealgymnasiums besitzen. Die Ausbildung erfolgt auf den Technischen Hochschulen, die Teilnahme an den dortigen Leibesübungen ist für den künftigen Verwaltungsbeamten absolut unerläßlich. (Rumpfbeugen, Geschmeidigkeit des Körpers.) Die Vorlesungen umfassen: Wesen und Begriff der Lichtwissenschaft; Geschichte des Beleuchtungswesens, unter besonderer Berücksichtigung des betreffenden Bundesstaates; Theorie der Lichtgebung; Ablicht und Anlicht; Zur Soziologie der Beleuchtungswissenschaft. Dem Studium folgt ein Staatsexamen. Nach zehn bis zwölf Jahren Wartezeit erfolgt gewöhnlich die Ernennung zum Laternenanzünder, nach weiteren zwanzig bis dreißig Jahren die Beförderung (nicht: Ernennung) zum Chef-Laternenanzünder.

Man sieht: es sind alte, zünftige Beamte, die da in Wind und Wetter ihren schweren Dienst versehen. Es ist ihnen gelungen, sich in dem Halbjahrhundert ihrer Amtstätigkeit die allgemeine Achtung und Beachtung zu erwerben. Zusammengeschlossen sind sie in dem Reichsverband Deutscher Laternenanzünder (R.D.L. mit den selbständigen Sektionen: Bayern, Thüringen-Nord und Hamburg), sowie in Lokalgruppen; die bedeutendste davon ist der in Brandenburg zentralisierte Laternenverband Märkischer Anzünder (L. M. A.).

Die Beamten bilden sich dauernd fachwissenschaftlich, bevölkerungspolitisch, städtebautechnisch und verkehrshistorisch fort – in diesem Jahr ist es ihnen endlich gelungen, die Schaffung eines »Dr. lux« bei den Landesuniversitäten durchzusetzen. Die Fortbildung der Beamten geschieht auf den Laternenanzünder-Fortbildungsschulen und -Seminaren; die Lehrer sind zu einem »Reichsverband Deutscher Laternen-Anzünder-Fortbildungsschul-Fachlehrer« zusammengeschlossen. Ihr Dienst ist nicht ohne Gefahr; bei den praktischen Übungen kommt es wohl vor, daß eine zu heiße Laboratoriumslaterne platzt; sämtliche Lehrer sind versichert. (Das Nähere siehe in den »Mitteilungen Deutscher Laternen-Anzünder-Fortbildungsschul-Fachlehrer-Versicherungs-Gesellschaften«.)

Die jetzigen Angehörigen der Lucifaktoren, wie sie sich gern nennen, gehören fast durchweg den bessern Gesellschaftsschichten an: 65% der Chef-Lucifaktoren bzw. 45% der Adjutanten sind ehemalige Reserveoffiziere. Damit allein schon ist ihre politische Zuverlässigkeit gewährleistet. In manchen Familien ist die Liebe zum Licht sozusagen erblich: es gibt Beamte, die bereits in der dritten und sogar vierten Generation ihr Amt innehaben. Die Mehrzahl der Hilfs-Laternenanzünder rekrutiert sich naturgemäß gleichfalls aus gedienten Leuten, da diesen die für den Lucifaktorenberuf notwendige »Sturheit«, wie der Fachausdruck heißt, besonders eigen ist.

Die einzelnen Verwaltungszweige interessieren sich außerordentlich für die Dienstgepflogenheiten der Lucifaktoren: so hat erst jüngst Exzellenz Lewald vom Reichsausschuß für Leibesübungen dem Fünften Deutschen Reichs-Licht-Bund-Tag beigewohnt, obgleich ihn doch seine andern Verpflichtungen gegenüber allen in Deutschland stattfindenden Tagungen gewiß stark in Anspruch nehmen. Auch der Reichswehrminister hat in einem Erlaß auf den ganz ausgezeichneten Dienst der Laternenanzünder hingewiesen und ihnen den alten, guten Sedan-Geist gewünscht. Die Vertretung der Lucifaktoren im Parlament ist nunmehr auch gesichert; wie man sich erinnert, ist bei den letzten Wahlen der Abgeordnete Dr. Hohsen (Wahlkreis: Boden) von der Deutschen Volkspartei ins Parlament aufgerückt, ein Lucifaktor, der den Dienst von der Pike auf kennt und die Interessen seiner Kollegen im echten, rechten Laternenanzündergeist wahrnehmen wird. Er ist es auch, der zusammen mit einem Herrn vom Reichswehrministerium und dem Admiral Stenker von der Reichsmarineverwaltung die Einweihung des Laternenanzünder-Kriegerdenkmals vorgenommen hat; haben doch die Laternenanzünder ihren starken Anteil an den Opfern des Weltkrieges und somit an der Gesundung des Vaterlandes. Auch in die Literatur sind die Männer des Lichts bereits eingedrungen: wir erinnern hier nur au Rudolf Herzogs Roman »Mehr Licht!«

In der Dunkelmannstraße zu Berlin erhebt sich das schmucke Reichsverbandshaus des R. D. L. Nach der letzten großen Oppositionskrise im Verband ist Ordnung und Ruhe geschaffen; die damaligen Verbandsinteresten verwaltete ein Rechtsanwalt Löwenstein, jüdisch, aber dumm, also national – jetzt ist an seine Stelle als Syndikus Dr. v. Falkenhayn getreten, ein Großneffe des bekannten Siegers von Verdun. An dieser Stelle sei besonders der Presseabteilung und ihrem verdienten Pressechef, Herrn Karl Rosner, gedankt, der dem Schreiber dieses mit so liebenswürdigen Auskünften warm unter den Arm gegriffen hat.

Fürwahr, ein echtes Sinnbild deutscher Kraft und deutschen Fleißes, deutscher Tatkraft und deutscher Treue –: das kleine Trüpplein, das da, fast unbeachtet, abends durch die Straßen zieht, seinem harten Beruf entgegen. Hier und da kam es wohl einmal vor, daß die Beamten, besonders in den Arbeitergegenden, von halbwüchsigen, kommunistisch verhetzten Burschen mit dem Ruf »Nachtwächter! Nachtwächter!« belästigt wurden – doch ist da sofort scharf durchgegriffen worden. Polizei und Richter haben ihre Pflicht getan: die Übeltäter wurden stets mit hohen Strafen wegen Vergehens gegen das Gesetz zum Schutze der Republik bestraft; in alter Objektivität hat hier die deutsche Justiz wieder einmal gezeigt, wessen sie fähig ist.

Man siehts dem unscheinbaren Auftreten der schlichten Männer nicht an, wieviel deutsche Tätigkeit in ihnen und ihrem Werk steckt. Hoffen wir, daß sie, immer weiter aufstrebend, es zur Volkswohlfahrt und zum Nutzen des deutschen Staates ausüben, bis einmal bessere Zeiten kommen, da deutsches Licht auch in Straßburg, Danzig, Wien, Budapest und New York erstrahlen möge.

In diesem Sinne: »Gut Licht –!«

*

Man kann Laternen auch von der Zentrale aus einschalten.

Die Glaubenssätze der Bourgeoisie

Die Bourgeoisie ist in keinem Lande sehr erfreulich. Der Nationalcharakter kann ihre spezifischen Eigenschaften mildern oder noch mehr ans Licht treten lasten – es scheint, daß grade diese Vermögens- und Erwerbssphäre eine Geisteshaltung bedingt, die platt macht und hart, chauvinistisch aus Angst, herzlos aus Mangel an Horizont und roh aus Phantasielosigkeit. Darin unterscheidet sich der belgische Spießer nicht vom amerikanischen, der deutsche nicht vom französischen; Menschen, die mehr verdienen, als es die Notdurft erfordert, und nicht genug, um Standesansprüchen zu genügen, die sie übernommen haben, ohne sie zu verstehen, sind eben so.

Aus den verschiedenen Schichten des Bürgertums heben sich mannigfaltige Typen ab, die gesondert zu betrachten sind. Niemand kann sie alle kennen, niemand alle beschreiben – sie sind schon in einem einzelnen Lande so zahlreich, daß ein Menschenleben nicht ausreicht, auch nur die Hälfte zu schildern. Das wäre zwar nicht die »Aufgabe« des Dichters, der kein Schüler ist, – aber eine Aufgabe wäre es schon, und was mich angeht, so interessieren mich die kümmerlichen Visionen braver Schriftstellerknaben viel weniger als die Wirklichkeit, die einer so beschreibt, daß sie zum Greifen nahe gerückt ist.

Die verschiedenen Schichten des Bürgertums kristallisieren bestimmte Axiome, deren sich die Axiomträger nicht immer bewußt sind; vielfach leben sie dumpf dahin, ihrer selbst nicht bewußt, wie ja überhaupt die leeren Räume im Denken des Menschen viel, viel größer sind, als man gemeinhin annimmt. Bei dem Satz: »Es gibt einen Gott« oder »Der Walfisch wirft lebendige Junge« denken sich die meisten Menschen überhaupt nichts; sie haben das in der Schule gelernt, und so ist es ihnen verblieben. Die Axiome, von denen ich spreche, sind Glaubenssätze, hingenommen in absolutem Gehorsam, ehern errichtet, für das ganze Leben Geltung behaltend. Sie sind nicht zu allen Zeiten dieselben gewesen: der Panzer von Vorurteilen, mit denen sich ein Bremer Bürger aus dem Jahre 1874 umgeben hat, war aus andern Plättchen geschmiedet als der eines bayrischen Gymnasialdirektors aus dem Jahre 1928. Aber sie tragen diesen Kettenpanzer bis zum Tode und legen ihn nie ab. Sie haben ihre Vacua; sie teilen die Welt sehr streng in Groß- und Kleingedrucktes ein, was ferne ist, verschwimmt, und aus den Niederungen ihrer trüben Erkenntnis kommen sie nicht heraus. Das ist immer so gewesen. Weil sie aber heutzutage vom Hochmutteufel besessen sind, der ihnen ins Ohr flüstert, wer die Technik habe, brauche keine Seele und habe sie außerdem schon –: deshalb verlohnt es, aus dem reichhaltigen Herbarium zwei Pflanzen herauszugreifen, die ich mir gepreßt habe. Charakteristisch für einen Menschen ist das, was ihm selbstverständlich ist. Wollen mal sehen.

 

Frau Emmi Pagel aus Guben (Niederlausitz). Ehefrau des Buchhalters Paul Pagel, der sich in seinen Papieren »Werkbeamter« nennt. Frau Pagel ist mittelgroß, hat um eine Kleinigkeit zu dicke Beine, breite Hüften, eine frische Gesichtsfarbe, ist gut gewaschen, aber nicht sehr gepflegt; sie hat manikürte dicke Finger, mit einem Siegelring und einem verzierten Ehering. Kurz geschnittenes Haar. Durchaus keine Kleinstädterin, sondern eben eine Frau, die in einer kleinen Stadt wohnt.

Dies sind ihre zehn Glaubenssätze:

I.

Unter dem Kaiser war alles besser.

 

II.

Ein Oberbuchhalter ist mehr als ein Buchhalter.

 

III.

Ein Brief darf nicht mit »Ich« anfangen; das ist unhöflich.

 

IV.

Schuld an dem ganzen Elend sind die Juden. Die Juden sind schmutzig, geldgierig, materiell, geil und schwarz. Sie haben alle solche Nasen und wollen Minister werden, soweit sie es nicht schon sind.

 

V.

Es gibt natürlich keine Gespenster. Immerhin ist es unheimlich, nachts auf einen Friedhof zu gehen oder allein in einem großen dunkeln Haus zu sein. (Mäuse.)

 

VI.

Dienstboten sind eine von den Besitzenden verschiedene Rasse; aber sie empfinden das nicht so.

 

VII.

Wenn man Rhabarber nachzuckert, wird er sauer. (Dieser Satz ist völlig unsinnig; er ist durch ein Mißverständnis entstanden, also unausrottbar.)

 

VIII.

Kommunismus ist, wenn alles kurz und klein geschlagen wird. In Rußland werden die Frauen vergewaltigt, sie haben eine Million Menschen ermordet. Die Kommunisten wollen uns alles wegnehmen.

 

IX.

Was allen und mir gefällt, ist hübsch; was allen, mir aber nicht gefällt, ist schön.

 

X.

Alle Welt ist gegen Deutschland – aus Neid.

*

Soweit Frau Pagel. Frau Rechtsanwalt Margot Rosenthal hingegen ist ziemlich groß, eine Spur zu mager, um schlank zu sein, sehr gepflegt, sieht aber nicht immer so aus. Das Haar ist nicht fettig, man denkt aber, es sei fettig. Der Teint … »Sie glauben nicht, was ich für den Teint schon alles …«

I.

Christen sind dümmer als Juden und werden aus diesem Grunde »Gojim« genannt.

 

II.

Natürlich gibt es keine Gespenster. Immerhin muß man aber nicht grade nachts allein auf einen Kirchhof … ich muß nicht von allem haben.

 

III.

Ein Mensch, der französische Stiche sammeln und kaufen kann, ist ein gebildeter Mensch.

 

IV.

Kommunismus ist, wenn alles kurz und klein geschlagen wird. Die Kommunisten wollen uns alles wegnehmen, wo man sich Stück für Stück so mühsam zusammengekauft hat. Arbeiter muß es natürlich geben, und man soll sie auch anständig behandeln. Am besten ist es, wenn man sie nicht sieht.

 

V.

Alle Welt ist gegen die Juden – aus Neid.

 

VI.

Kunst darf nicht übertrieben sein.

 

VII.

Wenn man in einem eleganten Hotel sitzt, ist man selber elegant.

 

VIII.

Bei Gewitter muß man den Gashahn zudrehen. (Siehe Frau Pagel, Ziffer VII: Rhabarber.)

 

IX.

Nach Paris kann man keinen Mann allein schicken, meinen schon gar nicht. Die Axt im Haus …

 

X.

Mein Mann ist zu gutmütig.

*

Soweit Frau Rosenthal.

Und wer pflückt die andern –?

Das Menschliche

»Oberes Bild. Von links nach rechts: Generalintendant T., künstlerischer Beirat L., Betriebsdirektor F., Komparseriechef M., Oberspielleiter P., Dramaturg M., Oberspielleiter S., Spielleiter D., Intendanzsekretär B.«

Was ist das –?

Das ist das arbeitende Deutschland von heute. Anders können sies nicht – anders machts ihnen keinen Spaß. Diese Nummern des deutschen Alphabets mit den Metternich-Kanzleititeln vor ihren Namen halten in Wahrheit nur ein mittleres Stadttheater einer Provinzstadt in Ordnung, was immerhin nicht gar so welterschütternd ist. Aber weil es ja keine Angestellten mehr gibt, sondern ganz Deutschland einer Bodenkammer gleicht (vor lauter Leitern kommt man nicht vorwärts) – »leiten« sie alle, und wenn es auch nur ein kleines Mädchen an der Schreibmaschine ist, die zusammen mit ihrem Kaffeetopf gern »Abteilung« genannt wird; die leiten sie dann. Es gibt eine »Vereinigung leitender Angestellter«, offenbar eine Art Obersklaven, die gern bereit sind, unter der Bedingung, daß sie von oben her besser angesehen werden, kräftiger nach unten zu treten. Die Bezeichnung »Chefpilot« erspart einem Unternehmen etwa zweihundert Mark monatlich.

Im Gegensatz zu diesem Unfug, der jeden mittlern Angestellten zu einem Direktor aufbläst, steht, nach des Dienstes ewig falsch gestellter Uhr, eine süße Stunde. Abends, wenn sich die ersten Lautsprecher gurgelnd übergeben, flutet die Muße über das Land herein: der Betriebsdirektor glättet die Dienstfalte seiner Amtsstirn, der Oberspielleiter klopft dem Spielleiter huldvoll auf die Schultern, und nun pladdert das »Menschliche« aus ihnen heraus.

Das »Menschliche« ist das, was sich anderswo von selbst versteht. Bei uns wird es umtrommelt und zitiert, hervorgehoben und angemalt … Wenn der kleinste Statist unter den weißen Jupiterlampen fünfundzwanzig Jahre lang die gebrochenen Ehrenworte der Filmindustrie aufgesammelt hat, dann gratulieren die Kollegen »dem Künstler und dem Menschen«, was sie – Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps – sorgfältig zu trennen gelernt haben. Der Künstler ist eines, und der Mensch ist ein andres.

Aus dem »Menschlichen« aber, das man nie mehr ohne Anführungsstriche schreiben sollte, ein eignes Ressort gemacht zu haben, ist den Deutschen vorbehalten geblieben, die sich so ziemlich im Gegensatz zur gesamten andern Welt einbilden, es gäbe etwas »rein Dienstliches«, oder, noch schlimmer: »rein Sachliches«. Wenn die Herren Philologen mir das freundlichst in eine andere Sprache übersetzen wollen – ich vermags nicht.

Jede Anwendung dieses törichten Modewortes »menschlich« bedeutet das Eingeständnis an das »Dienstliche«, das in Deutschland das »Menschliche« bewußt ausschließt oder es allenfalls, wenn der Vorgesetzte gerade nicht Hinsicht, aus Gnade und Barmherzigkeit hier und da ins Amtszimmer hineinschlüpfen läßt. Zu suchen hat es da viel, aber es hat da nichts zu suchen.

Es ist ein deutscher Aberglaube, anzunehmen, jemand könne durch künstliche und äußerliche Ressorteinteilungen seine Verantwortung abwälzen; zu glauben, es genüge, eine Schweinerei als »dienstlich« zu bezeichnen, um auf einem neuen Blatt à conto »Menschlichkeit« eine neue Rechnung zu beginnen; zu glauben, es gebe überhaupt irgend etwas auf der Welt, in das sich das menschliche Gefühl, hundertmal verjagt, tausendmal wiederkommend, nicht einschleiche. »Es ist ein Irrtum,« hat neulich in Stettin ein Unabsetzbarer im Talar gepredigt, »zu glauben, die Geschworenengerichte hätten nach dem Gefühl zu urteilen – sie haben lediglich nach dem Gesetz zu urteilen.« So sehen diese Urteile auch aus, seit die Unabsetzbaren die Laien beeinflussen – denn ein Urteil »lediglich nach dem Gesetz« gibt es nicht und kann es nicht geben.

Aber das ist die deutsche Lebensauffassung, die die Verständigung mit andern Völkern so schwer macht. Das »Menschliche« steht hierzulande im leichten Ludergeruch der Unordnung, der Aufsässigkeit, des unkontrollierbaren Durcheinanders; der Herr Obergärtner liebt die scharfen Kanten und möchte am liebsten bis Dienstschluß alle Wolken auf Vorderwolke anfliegen lassen, bestrahlt von einer quadratischen Sonne … Sie haben sich das genau eingeteilt: das »Dienstliche« ist hart, unerbittlich, scharf, rücksichtslos, immer nur ein allgemeines Interesse berücksichtigend, das sich dahin auswirkt, die Einzelinteressen schwer zu beschädigen – das »Menschliche« ist das leise, in Ausnahmefällen anzuwendende Korrektiv sowie jene Stimmung um den Skattisch, wenn alles vorbei ist. Das »Menschliche« ist das, was keinen Schaden mehr anrichtet.

Sie spielen Dienst. Eine junge Frau besucht ihren Mann, der ist Kellner in einem kleinen Café. In Frankreich, in England, in romanischen Ländern spielt sich das so ab, daß sie ihn in der Arbeit nicht stören wird, ihm aber natürlich herzhaft und vor allen Leuten Guten Tag sagt. Bei uns –? Bei uns spielen sie Dienst. »Denn er ist im Dienst und darf nicht aus der Rolle fallen, sonst gibt es Krach mit dem Chef, der hinter dem Kuchentisch steht.« Er darf nicht aus der Rolle fallen … Sie spielen alle, alle eine Rolle.

Sie sind Betriebsdirektoren und Kanzleiobersekretäre und Komparseriechefs, und wenn sie es eine Weile gewesen sind, dann glauben sie es und sind es wirklich. Daß jedes ihrer Worte, jede ihrer Handlungen, ihr Betragen, ihre Ausflüchte und ihre Sauberkeit bei der Arbeit, ihre Trägheit des Herzens und ihr Fleiß des Gehirns vom »Menschlichen« herrühren, das sie, wie sollte es auch anders sein, nicht zu Hause gelassen haben, weil man ja seine moralischen Eingeweide nicht in der Garderobe abgeben kann –: davon ahnen sie nichts. Sie sind im »Dienst«; wenn ich im Dienst bin, bin ich ein Viech, und ich bin immer im Dienst.

Sie teilen, Schizophrene eines unsichtbaren Parademarsches, ihr Ich auf. »Ich als Oberpostschaffner« … schreibt einer; denn wenn er seine Schachspielerqualitäten hervorheben will, dann schreibt er: »Ich als Mitglied des Schachklubs Emanuel Lasker.« Der tiefe Denkfehler steckt darin, daß sie jedesmal mit der ganzen Person in einen künstlich konstruierten Teil kriechen; als ob der ganze Kerl Schachspieler wäre, durch und durch nichts als Schachspieler …! »In diesem Augenblick, wo ich zu Ihnen spreche, bin ich lediglich Vormundschaftsrichter« – das soll er uns mal vormachen! Und er macht es uns vor, denn es ist sehr bequem.

Daher alle die Ausreden: »Sehen Sie, ich bin ja menschlich durchaus Ihrer Ansicht« – daher die im tiefsten feige Verantwortungslosigkeit aller derer, die sich hinter ein Ressort verkriechen. Denn wer einem schlechten System dient, kann sich nicht in gewissen heiklen Situationen damit herausreden, daß er ja »eigentlich« und »menschlich« nicht mitspiele … Dient er? Dann trägt er einen Teil der Verantwortung.

Und so ist ihr deutscher Tag:

Morgens steht der Familienvater auf, drückt als Gatte einen Kuß auf die Stirn der lieben Gattin, küßt die Kinder als Vater und hat als Fahrgast Krach auf der Straßenbahn mit einem andern Fahrgast und mit dem Schaffner. Als Steuerzahler sieht er mißbilligend, wie die Straßen aufgerissen werden; als Intendanzsekretär betritt er das Bureau, wobei er sich in einen Vorgesetzten und in einen Untergebenen spaltet; als Gast nimmt er in der Mittagspause ein Bier und eine Wurst zu sich und betrachtet als Mann wohlgefällig die Beine einer Wurstesserin. Er kehrt ins Bureau zurück, diskutiert beim Kaffee, den er holen läßt, als Kollege und Flachwassersportler mit einem Kollegen einige Vereinsfragen, schält einen Dienstapfel, beschwert sich als Telephonabonnent bei der Aufsicht, hat als Onkel ein Telephongespräch mit seinem Neffen und kehrt abends heim – als Mensch? » Il est arrivé!« sagte jemand von einer Berühmtheit. » Oui«, antwortete Capus, » mais dans quel état!«

Der deutsche Mensch, der auch einmal »Mensch sein« will, eine Vorstellung, die mit aufgeknöpftem Kragen und Hemdsärmeln innig verknüpft ist – der deutsche Mensch ist ein geplagter Mensch. Nur im Grab ist Ruh … wobei aber zu befürchten steht, daß er als Kirchshofsbenutzer einen regen Spektakel mit einem nicht konzessionierten Spuk haben wird …

Statt guter Gefühle die Sentimentalität jaulender Dorfköter; statt des Herzens eine Registriermaschine: Herz; statt des roten Fadens »Menschlichkeit«, der sich in Wahrheit durch alle Taue dieses Lebensschiffes zieht, die Gründung einer eignen Abteilung: Menschlichkeit – nicht einmal Entseelte sind es. Verseelt haben sie sich; die Todsünde am Leben begangen; mit groben Fingern Nervenenden verheddert, verknotet, falsch angeschlossen … und noch der letzte Justizverbrecher im Talar ist nach der Untat, unter dem Tannenbaum und am Harmonium, in Filzpantoffeln, auf dem Sportplatz und im Paddelboot, rein menschlich ein menschlicher Mensch.

Was soll er denn einmal werden –?

Nämlich Ihr Sohn. Ja, wie ist er denn? Von leichter Trägheit? mehr schlau als klug? mehr Sitzfleisch als Charakter? etwas Intrigant?

Kaufmann … nein, Sie haben recht: dazu gehört, trotz der Bureaukratisierung der deutschen Industrie, Initiative, wenn er nicht ewig ein Pultknecht bleiben will, Entschlußkraft, Fixigkeit: sonst wird es nichts. Kaufmann – das ist wohl nichts für ihn.

Zum Ingenieurberuf hat er keine Neigung? Arzt? nein? Künstlerische Anlagen – nichts? Seien Sie froh. Aber was sagen Sie da? Es gibt nur eine Sache auf der Welt, die er scheut? Erzählen Sie bitte.

Ihr Junge ist der Mensch, der seit seiner frühesten Kindheit »nichts dafür kann«? Der ständig, immer und unter allen Umständen, ablehnt, die Folgerungen aus seinem Verhalten zu ziehen? der die Vase nicht zerbrochen hat, die ihm hingefallen ist? der die Tinte nicht umgegossen hat, die er umgegossen hat? der immer, immer Ausreden sucht, findet, erfindet … kurz, der eine gewaltige Scheu vor der Verantwortung hat? Ja. dann gibt es nur eines.

Lassen Sie ihn Beamten werden. Da trägt er die Verantwortung, aber da hat er keine.

Nehmen wir einmal an, der Junge werde Lokomotivführer, und da geschieht es ihm, daß er aus Übermüdung nach zehn Stunden Dienst, aus Unachtsamkeit, aus einem jener unerklärlichen Zufälle heraus ein Signal überfährt und seinen Zug auf einen andern setzt. Achtundzwanzig Tote, neununddreißig Schwerverletzte. Wie meinen Sie? Er kann sich auf den Nebel berufen, sich auszureden versuchen …? Ah, Sie kennen Ihr eigenes Land nicht! Es wird ihm alles nichts helfen. § 316 StGB – Gefängnis von einem Monat bis zu drei Jahren; und wenn er auf einen tüchtigen Staatsanwalt trifft, so wird der schon noch etwas andres für ihn herausfinden … haben Sie keine Sorge. Ja, es ist eben ein verantwortungsvoller Posten, und den Letzten beißen die Hunde.

Als Arzt ist die Sache schon einfacher – eine Verurteilung bei Kunstfehlern ist nur auf Grund von Gutachten möglich, und ehe da einer den andern hineinreitet … aber immerhin: möglich ists schon.

Als Kaufmann … bedenken Sie bitte, was geschieht, wenn er in einem großen Betriebe ernsthaft patzt. Ist er ein kleiner Angestellter, fliegt er sofort hinaus – ist er ein großer, so kann er sich zwar drehen und wenden, aber die Börse hat ein wirklich Gutes: sie ist im besten Sinne wundervoll verklatscht, und wer dort einmal als unzuverlässig ausgeschrien wird, der hats sehr schwer. Das Gesetz? Ach, das interessiert die Börsianer nicht so sehr. Sie machen sich ihr Gesetz allein, und es ist besser als das geschriebene, das kann ich Ihnen versichern. Es gibt da so eine Art stillen Boykotts, ganz leise, fast unmerklich – auf einmal ist es mit dem Verfemten vorbei. Die Frage dieser Verantwortung regelt sich ganz von selbst.

Überall also, liebe Frau, wird Ihr Junge, wenns hart auf hart geht, für das einstehen müssen, was er angerichtet hat. Das ist schon so im Leben.

Nur an einer Stelle nicht. Nur in einer Klasse Menschen nicht. Nur in einer einzigen Position nicht. Als Beamter.

Wie das gemacht wird? Und obs auch keiner merkt? In welchem Erdteil leben Sie? Auf dem Mond?

Zunächst kommt es zur Erlangung einer Beamtenstellung in zweiter Linie auf die Kenntnisse an. In erster darauf, daß jener dem Beamtenkörper, in den er eintritt, auch paßt, daß er sich mühelos in den Organismus einfügt, der nicht etwa, wie Sie, liebe Frau, zu glauben scheinen, der Zusammensetzung der Bevölkerung entspricht. Dieser Körper hat vielmehr seine eigenen Gesetze, seine von ihm und für ihn erfundenen Tugenden und Fehler, er nimmt nur an, was ihn lebenstüchtiger macht, und er stößt mit unfehlbarem Instinkt ab, was ihn schwächen könnte. Er führt ein Eigenleben. Er schwimmt oben wie Öl auf dem Wasser.

Ist es ihm nun gelungen, hier einzudringen, hat er die durchschnittlichen Kenntnisse, und ist er dem Organismus genehm, dann sitzt er so ziemlich wie in Abrahams Schoß. Verstößt er nur nicht gegen die ungeschriebenen Regeln eines stillen Codex, poltert er nur nicht gegen die ehernen Pfeiler dieses unsichtbaren Doms –: dann wird ihm nichts geschehen.

Erleben Sie es oft, daß dieser Beamtenorganismus seine Angehörigen an die Strafbehörden ausliefert? Das geschieht fast nie. Also, so denken Sie, liebe Frau, wird da wohl auch nichts vorkommen. Es kommt aber genau so viel vor wie in allen andern Berufen – nur kräht kein Richter danach, weil eine Krähe … nehmen Sie nur einen Stuhl, liebe Frau, und hören Sie gut zu.

Wenn zum Beispiel jemand, sehend oder blind, die Valuta seines Landes zugrunde richten läßt, so daß Millionen von Menschen ihr sauer erspartes Vermögen bis auf den letzten Pfennig verlieren; wenn einer die Arbeiter niederschießen läßt, wo sie nur stehen, und wenn er sich brutaldumpf in der Sonne der Gunst uniformierter Verbrecher spiegelt; wenn einer ableugnet, daß es in seinem Bereich jemals Verstöße gegen das Gesetz gegeben hat, wenn seinetwegen die Leute in den Gefängnissen und Zuchthäusern zu Hunderten sitzen; wenn sich einer bei Vergebung von staatlichen Krediten von einem gerissenen litauischen Pferdejuden übers Ohr hauen läßt, weil seine in der Beamtenlaufbahn ersessenen Kenntnisse es ihm nicht gestatten, wie ein moderner Kaufmann zu disponieren; wenn einer aus Carrieresucht, aus falsch verstandener Schneidigkeit, aus Autoritätssadismus ein Todesurteil fahrlässig durchdrückt, dessen zugrunde liegende Indizien zusammengeschludert sind … was meinen Sie, liebe Frau, geschieht mit solchen, wenn ihre Untaten bekannt und erkannt sind?

Dann machen sie Erholungsreisen, liebe Frau. Dann fahren sie um die Welt, liebe Frau. Von jenem Schreibersmann Michaelis an, der einer bereits geistesschwach gewordenen Umwelt als Reichskanzler präsentiert wurde, bis zum letzten Kriegsminister –: es ist immer dasselbe. Vorher, wenn sie am Werk sind, reißen sie das Maul auf und weisen auf die schwere Verantwortung hin, die sie tragen. Ja, worin besteht denn die –? Etwa, wie bei jedem Kaufmann und Chauffeur, in der Möglichkeit, bei fahrlässig herbeigeführtem Mißerfolg strafrechtlich zu büßen, was staatsrechtlich begangen wurde –? Daran kann sich kein Deutscher gewöhnen. Das Äußerste, was sich diese verkorksten Revolutionäre abringen, sind, erschrecken Sie nicht, liebe Frau, »Untersuchungskommissionen«; die kommissionieren und untersuchen und fragen und lassen sich von den Zeugen anschnauzen und kuschen und lassen Protokolle drucken und sitzen dann wieder auf geduldigen Gesäßen … Bestraft wird keiner. Mit seinem Vermögen zahlt keiner. Eingesperrt wird keiner. Ein Versuch, ein einziger, und der deutsche Beamte täte überhaupt nichts mehr. Was? Er soll wirklich und wahrhaftig die Verantwortung tragen, wenn er etwas falsch gemacht hat? Er soll büßen, wenn er etwas ausgefressen hat? Während er doch nur, liebe Frau, ausführte, was ihm seine vorgesetzte Behörde befahl, oder während der Fehler doch nur bei der untergeordneten Behörde lag, oder während es sich nur um einen Kompetenzkonflikt handelte? Liebe Frau –!

Wenn Ihr Junge in der Schule nicht versetzt wird, dann darf er mit Ihnen nicht ins Theater gehen. Wenn ein Minister seine Aufgabe bis zum blamablen Zusammenbruch verfehlt hat, Fehler auf Fehler gehäuft, gelogen, aber schlecht gelogen, so schlecht gelogen, daß nicht einmal das Gegenteil von dem wahr war, was er sagte, geschoben, aber dumm geschoben, getäuscht, aber unvollkommen getäuscht –: dann geschieht was? Dann fährt er, unwiderruflich, liebe Frau, ins Ausland. Zur Erholung, liebe Frau.

Und so sieht sein Tag aus –:

Er erwacht in einem schönen sprungfedrigen Bett, in einem weiten, gut gelüfteten Raum, im Hotel etwa … Er dehnt und streckt sich noch einmal, denn ins Amt braucht er heute nicht zu gehen, sacht erhebt er sich, wäscht sich mit wollüstiger Langsamkeit, so gründlich, wie es in der jeweiligen Familie üblich ist; er bindet sich den Stehkragen um, merkwürdig, welche Vorliebe deutsche Minister für Stehkragen am falschen Ort haben! – und dann wandelt er hinaus ins Freie. Etwa in die südamerikanische Landschaft oder in die asiatische; dort wird er festlich empfangen und hofiert, und Diener machen Verbeugungen, und er besichtigt irgend etwas: ein Nationaldenkmal oder eine Kinderwagenfabrik oder eine Universität für taubstumme Opernsänger … Seine Landsleute umstehen ihn. Und dann wird es plötzlich still um ihn, und er hält eine Rede, und während auf seinem Herzen der Brief der Deutschen Republik knistert, die ihm mitteilt, daß die fällige Quote seiner Pension, wie verabredet, an die Disconto-Gesellschaft überwiesen worden ist, hält er seine Rede und beschimpft sehr vorsichtig, sehr fein, mit jener verschlagenen Dummdreistigkeit, die das hervorragende Kennzeichen seines Standes ist, eben diese Republik. Er weiß: sie wehrt sich nicht. Er war ja die Republik; er kennt sie.

Und dann, liebe Frau, fährt er im Auto umher oder in einer Dampfbarkasse und sieht mit seinen runden Brillenaugen die schöne Welt an, die ihm eine Staffage ist, er steht sie an wie ein besichtigender General, mit jenem Blick, der vorgibt, alles zu sehen, und der doch blind ist bis in den letzten Nerv hinein – und dann setzt er sich mit Muttern, denn Mutter hat er mitgenommen, aufs Schiff und fährt zurück in die liebe Heimat. Und da wird er dann Aufsichtsrat, wegen seiner guten Beziehungen zu den Behörden, und weil er beamtisch sprechen kann; und intriguiert ein bißchen in den politischen Parteien, und wenn er besonders wild ist, dann aspiriert er auf den Präsidentenposten … liebe Frau, die Welt ist so reich.

Man nennt das: Studienfahrt.

Und währenddessen hocken seine Opfer in den Zellen; und währenddessen schuften die von ihm geschädigten alten Leute wieder in irgendeinem Papiergeschäft oder trappeln als Versicherungsagenten auf den Straßen; und währenddessen prozessieren Tausende seinetwegen, und laufen Zehntausende auf ein Amt, und klagen Hunderttausende, denen er durch seine Politik das Lebensglück abgeschnürt hat … immer mit der Verantwortung. Die der Blitz aber verschont hat, stehen mit pfiffigen Mienen herum, nennen ihre charakterlose Schwäche Demokratie, und wenn jener Geschichten macht, so sagen sie: »Die Geschichte wird richten.« Das tut nicht weh.

Eher, liebe Frau, bricht sich einer, der auf einen Stuhl steigt, ein Bein, als daß einem deutschen Minister etwas passiert, und wenn er noch so viel Böses angerichtet hat. Es ist das gefahrloseste und das verantwortungsloseste Metier von der Welt.

Liebe Frau, lassen Sie Ihren Sohn Beamten werden.


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