Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Ozean der Schmerzen

Der Preußenhimmel

Petrus (vor einer Engelsfront): Brust raus, der rechte Flügelmann! Was ist das wieder für eine himmelschreiende Richtung! Wollt ihr die Heiligenscheine zusammennehmen! Der zweite Engel mehr nach hinten! So – so … Halt! Bei allen Heiligen! – Nicht mit den Flügeln wackeln! Ganze Abteilung – kitt! Ganze Abteilung – kitt!

Der liebe Gott (von rechts)

Petrus: Achtung! Augännnnnn – rechts! (Ruck) Ein Petrus – zwei Oberengel – siebenundachtzig Engel zum Exerzieren angetreten.

Der liebe Gott: Danke! Mojn, Leute!

Die Engel (in einer Silbe): Guten Morgen, lieber Gott (sprich: Bau!)

Der liebe Gott: Na, gibts was Neues, lieber Petrus?

Petrus: Nein, Exzellenz!

Der liebe Gott: Sehn gut aus, die Leute! Kriegt ihr eure Löhnung auch pünktlich?

Die Abteilung: Zu Befehl, lieber Gott!

Der liebe Gott: Lassen Sie die Leute wegtreten!

Petrus: Weggetreten! (Abteilung ab)

Der liebe Gott: Komm Sie mal mit in die Kanzlei, mein lieber Petrus! Wolln uns mal den Zugang ansehn!

Petrus: Zu Befehl, Exzellenz!

(In der Aufnahmekanzlei)

Ein Arbeiter (beschmutzter und aufgerissener Rock. Zerschlagenes Gesicht. Zerschlagene Hände. Hinkt. Richtet sich mühsam auf, als er des lieben Gottes ansichtig wird): Guten Morgen!

Petrus: Warten Sie gefälligst, bis Sie gefragt wern! Und nehm Sie mal hier 'ne stramme Haltung an, vastanden! Sie sind hier nicht in ihrem sozialdemokratischen Parteibureau! Heißen?

Der Arbeiter: Pettenkofer!

Petrus: Ich bin Wachtmeister. Heißen?

Der Arbeiter: Pettenkofer.

Petrus: Pettenkofer, Herr Wachtmeister, heißt das, du dußlige Sau! Wie heißt das?

Der Arbeiter: Pettenkofer, Herr Wachtm… ach, entschuldigen Sie, bin ich hier richtig, im Himmel?

Petrus: Halten Sies Maul, wenn Sie mit mir reden! Was willst du hier?

Der Arbeiter: Ich wurde bei Marburg ermordet. Mein Leib lag auf der Chaussee. Studenten erschossen mich. Mein Tod ist ungesühnt.

Der liebe Gott (erhebt sich in seiner ganzen Größe. Gardemaß): Scheren Sie sich raus! Was glauben Sie denn eigentlich! Meinen Sie, wir sind hier in einem Kommunistennest? Wenn die braven Marburger kommen, werden wir sie aufnehmen! Sie nicht! Raus! Scher dich zum Teufel!

Der Arbeiter (stumm ab)

Der liebe Gott (drin): Was sich diese Leute alles einbilden! Noch liegt Deutschland unter meinem Himmel und liegt mein Himmel über Deutschland!

Petrus: Zu Befehl, Exzellenz!

Der Arbeiter (draußen): Wahrlich, so wie es drunten ist, so wird es auch droben sein! Die Hölle? Ich bin vier Jahr Soldat gewesen.

Der liebe Gott (drin): Wissen Se – is doch 'n janz anderer Zug im Himmel, seitdem mich Willem zum preußischen lieben Gott ernannt hat. Der hohe Alliierte droben, hat er immer jesagt … Schade, daß er den Krieg verloren hat! War doch alles so nett organisiert …! Hatn auch eijentlich gar nicht verloren … Die andern haben bloß jesiegt –! Petrus!

Petrus: Exzellenz?

Der liebe Gott: Noch jemand?

Petrus: Werde gleich mal nachsehn, Exzellenz! (öffnet eine Tür) Zugang?

Eine Stimme: Jawohl.

Petrus: Nein!

Der Zugang (preußische Leutnantsuniform. Knallt an der Tür die Hacken zusammen, daß der Kalk von den Wänden rieselt)

Der liebe Gott: Bitte, Petrus.

Petrus: Name?

Der Zugang: Arco-Valley.

Petrus: Beruf?

Der Zugang: Bayerischer Nationalheld.

Petrus: Zuletzt wohnhaft?

Der Zugang: Polizeilich gemeldet: Zuchthaus Straubing. Daselbst lebenslänglich verbüßt: einen Monat. Aufenthaltsort: München. Bin mit eijenem Fluchzeug hier raufjeflogen.

Petrus: Himmlische Qualifikationen?

Der Zugang (hebt die rechte Hand. Es klebt Blut daran)

Der liebe Gott (interessiert): Ah –?

Der Zugang (sehr stramm): Eisner, Exzellenz.

Der liebe Gott ( befriedigt): Soso – soso. Weiter, Petrus.

Petrus: Na, Herr Baron, wissen doch aber … Du sollst nicht … Herr Baron sollen nicht töten?

Der Zugang (herunterrasselnd): Ich habe von meinem nationalen Recht der Notwehr Gebrauch gemacht, indem ich einen landfremden Schädling beseitigte, wie es mir mein Gewissen befahl. Der Dank aller Guten ist mir gewiß, von einer Prokuristenstellung gar nicht zu reden.

Petrus: Bon. Schwere Arbeit jewesen, Herr Baron?

Der Zugang: Von hinten erschossen, Wachtmeister.

Petrus (fragender Blick zum lieben Gott. Der nickt): Passiert!

Der Zugang: Danke gehorsamst. (ab)

Der liebe Gott: Kolossal ordentlicher Mann. Und wir rüsten nicht ab, und unsere himmlische Wehr behalten wir auch – und unsere Fahne ist schwarz-weiß-rot – und wenn ich alle guten Preußen und deutschen Soldaten erst bei mir hier oben habe –: dann wird mir ganz wohl sein!

Petrus: Mir auch, Exzellenz!

Das deutsche Arbeitervolk (von unten): Uns auch, Exzellenz! Uns auch –!

Am Grabe von Hans Paasche

Wir stehen am Grabe des Kommunisten und Pazifisten Hans Paasche, der uns nach Gottes und der Reichswehr unerforschlichem Ratschluß vorgestern ziemlich sanft entrissen worden ist, Korn, halblinks oben. Lobsinget, lobsinget Gott! Lobsinget, lobsinget unserm Könige! (Psalm 47, 7).

Wie man einen Knaben gewöhnet, so läßt er nicht davon, wenn er alt wird (Sprüche 22,6). So hat auch unser lieber Verstorbener schon als junger Mensch Idealen nachgehangen, die nicht wohlgefällig waren der Obrigkeit, und als der glorreiche Krieg beendet war, maßte er sich an, über seine Kameraden eine gar böse Zunge zu führen. Und was deines Amts nicht ist, davon laß deinen Vorwitz (Sirach 3, 24). Unser lieber Verstorbener tat aber nicht also, und die Kriegsleute sprachen untereinander: »Wer mich ehret, den will ich auch ehren; wer mich aber verachtet, der soll wieder verachtet werden« (I. Samuel 2, 30).

Denn diese Beerdigung ist das Werk unsrer Kriegesmacht, und sie tat wohl daran, und sie reicht von einem Ende zum andern gewaltiglich und regiert alles wohl (Weisheit 8, 1). Jammer und Elend ist im Jahre 1918 nach Christi Geburt über die Kriegsleute hereingebrochen. Die große Zeit und das Kasino waren dahingefahren wie ein Strom; der Most verschwindet, der Weinstock verschmachtet, und alle, die von Herzen fröhlich waren, seufzen (Jesaja 24, 7). Denn die Kriegsleute hatten geraubt, ein jeglicher für sich (4. Mose 31, 53); sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheuern, und ihr himmlischer Vater nähret sie doch (Matthäus 6, 26). Und die Kriegsmacht hing noch immer dem rechtmäßigen Kaiser an, nach dem Spruche, der da lautet: Gib einen alten Freund nicht auf, denn du weißt nicht, ob du soviel am neuen kriegst. Und es hing die Kriegsmacht zum zweiten an dem Knecht im Herrn, Ludendorff; es war aber in ganz Israel kein Mann so schön als Absalom und hatte dieses Lob vor allen; von seiner Fußsohle an bis auf seinen Scheitel war nicht ein Fehl an ihm (2. Samuel 14, 25). Und der Herr sprach zu ihm: Tue deinen Mund weit auf (Psalm 81, 11). Und er tat den Mund weit auf und kehrte die Städte um und die ganze Gegend und alle Einwohner der Städte und was aus dem Lande gewachsen war (1. Mose 19, 25).

Und viel Volkes kam im Kriege um, nicht aber die Führer der Kriegsknechte; sie gingen trocken mitten durchs Meer, und das Wasser war ihnen für Mauern zur Rechten und zur Linken (2. Mose 14, 29).

Und Gott sprach zu Noske: Meine Knechte sollen neu wiederhergestellt werden; und gib jedem einen neuen bunten Rock, und unten an seinem Saum sollst du Granatäpfel machen von blauem und rotem Purpur und Scharlach um und um, und zwischen dieselben güldne Schellen auch um und um (2. Mose 28, 33).

Da aber fuhr der Blitz des Herrn hernieder und traf den Aussätzigen, und er traf gut, und alles, was Odem hat, lobe den Herrn! (Psalm 150, 6).

Und wieder erhob sich der böse Feind, dem auch leider unser lieber Verstorbener angehört hat, und fing an zu locken und sprach von Bestrafung und dem irdischen Gericht. Aber mein ist die Rache, spricht der Herr. Und wahrlich, ich sage euch, Kriegsknechte, seid ruhig. Denn ihr habt gehandelt nach dem Wort, das da gilt für die Pazifisten: Gib ihnen nach ihrer Tat und nach ihrem bösen Wesen, gib ihnen nach den Werken ihrer Hände, vergilt ihnen, was sie verdienet haben (Psalm 28, 4).

Und seid ohne Sorge vor dem gradezu himmlischen Reichsgericht; es handelt nicht immer mit uns nach unsern Sünden und vergilt uns nicht immer nach unserer Missetat (Psalm 103, 10). Und seid ohne Sorgen vor dem Knecht Gottes Geßler: denn der Herr verstößt nicht ewiglich; sondern er betrübt uns wohl und erbarmet sich wieder nach seiner großen Güte (Klagelieder 3, 32, 33). Und wahrlich, ich sage euch: Zur Seite stehet euch der Kriegsgerichtsrat; es ist mancher scharfsinnig, aber ein Schalk und kann die Sache drehen, wie ers haben will (Sirach 19, 22).

Der da aber ruhet im Grabe, daß man ihm in christlicher Vergebung seiner Sünden noch geschaufelt hat – ihm sei verziehen! Unendlich ist unsere Sanftmut und Milde; wenn wir erst einen hinübergebracht haben, dann verzeihen wir ihm! Ruhm und Preis aber denen, die den Willen Gottes und seinen Rachestrahl also gelenket und ausgeführt haben!

Ich entlasse euch, meine liebe Gemeinde, nach dem Wort des Evangelisten Lukas (10, 37): Gehet hin und tuet desgleichen! Und blicket auf zum Knecht Gottes, Bobby Weismann (Lützow 38.59), der euch den Weg vorgezeichnet hat und den Gott erhalten möge. Amen –!

Justitia schwooft!

für Berthold Jacob

Nachts im Treppenhaus des Berliner Kriminalgerichts

Die Justitia, die tagsüber in Stein gehauen dasteht, löst sich von der Wand und tappt, mit verbundenen Augen, einige Schritte vorwärts. Im Halbdunkel leuchtet auf dem Boden ein weißer Strich. Sie geht darauf.

Die Justitia: Diese verdammte Binde –! Fort mit dem Zeug – jetzt siehts ja keiner! Ratsch – da liegt die Wage – ich weiß doch, wie gewogen wird – und – Bautsch! da das Schwert! Hol doch der Teufel diesen ganzen Betrieb! Ein netter Aufenthalt so weit – wo ist der Spiegel? (Sie spiegelt sich in einer Glastür. Ordnet ihr Haar. Legt Rot auf, Puder, Lippenstift.) Sie trällert leise vor sich hin:

Von vorne – von vorne – da ist er ganz von Horne – von hinten – von hinten …

Die Uhr: Bim – Bam – Bum!

Die Justitia: Hab ich mich erschrocken! Das … das war nur die Uhr …! Na, Uhr – wie gehts denn?

Die Uhr: Bum –

Die Justitia: Wir beide werden auch nicht jünger, wie? Na, wieviel schlägts denn jetzt bei dir, in der Republike?

Die Uhr: Bum – bim – bam – bum – bim – bam – bum – bam – baum – bim – baum – bum – bum!

Die Justitia: Dreizehn! Allerleihand! Und ich halte mich hier mit politischen Gesprächen auf! – Wo bleibt er denn? Ei, dort kommt er ja just –!

Der Staatsanwalt: ( pfeift auf zwei Fingern)

Die Justitia: Ludwig! Wo bleibst du so lange!

Der Staatsanwalt: Meechen …! ( Kuß) Wo ick solange bleibe? Akten ha'ck jeschmiert … Bolschewistensachen!

Die Justitia ( an seiner Schulter): Du sorgst so nett für Kundschaft, Luichen!

Der Staatsanwalt: Allemal. Det du mir die Brieder bloß richtig behandelst! Die Feinen fein – und die Kerls, na: Reichsgericht.

Die Justitia: Luichen – mach ichs vielleicht nicht richtig? Marburg? Marloh? Frag mal in Leipzig, warum daß die Talare von meine Reichsgerichtsräte so rot sind –

Der Staatsanwalt: Dette mir den Ledebour freijesprochen hast – det kann ick da heute no nich vasseihn!

Die Justitia: Nich haun!

Der Staatsanwalt: Seh dir vor, Meechen! Treib ick dir dassu die Kundschaft zu? Watt ziehste dir aus? Zieh doch die Jungens aus! Wozu hab ick dir denn det Geschäft lern lassn?

Die Justitia: Luichen! Wo machen wir denn heute ahmt hin?

Der Staatsanwalt: Heute nacht? Jehn wa schwoofn! Ins Auditorium Maximum von de Universität! Die janzen Rektoren sind da – lauter orntliche Leute – Reserveoffiziere und so. Kannste was erben! Benimm dir!

Die Justitia: Ick wer dir schonst keine Schande machn! Ich will auch immer dein braves Mädchen sein … Mich sieht keiner nackt, aber ich seh sie alle. Du süßer Paragraphenlehrling!

Der Staatsanwalt: Streiker und Revoluzzer und Demokraten und Spartakisten und Unabhängige und Pennbrüder und Pazifisten und Schriftsteller und Kommunisten und all das Pack – wohin?

Die Justitia: Ins Kittchen, Luis!

Der Staatsanwalt: Und die Offiziere? Und die feinen Leute? Wohin?

Die Justitia: Raus aus die Anklagebank, Luis!

Der Staatsanwalt: Und wenn sie Republik spielen – was tun wir?

Die Justitia: Wir bleiben unserm Kaiser treu!

Der Staatsanwalt: Denn was haben wir?

Die Justitia: Wir haben die Unabhängigkeit der Justiz!

(Achtunddreißig Hühner treten auf, lachen und trippeln wieder ab.)

Der Staatsanwalt: Und die Wage?

Die Justitia: Hängt schief.

Der Staatsanwalt: Und die Binde?

Die Justitia: Hat Gucklöcher.

Der Staatsanwalt: Und das Schwert?

Die Justitia: Ist zweischneidig. Komm, Luis, gehn wir tanzen!

Der Staatsanwalt (mit Überzeugung): Du süße Sau –! (er pfeift auf zwei Fingern)

Beide: Justitia geht schwoofen! – Haste so was schon gesehn! – Sie biegt sich und schmiegt sich – man läßt es geschehn! – So tief duckt kein Knecht sich – wie diese Nation – Justitia, die rächt sich – für die Revolution! – Die Deutschen, die dofen – die geben schon Ruh – Justitia geht schwoofen – sie hats ja dazu –!

(Beide keß tanzend ab)

Der Sadist der Landwehr

Erschienen im »Vorwärts« am 6. Juli 1914

Wenn die alten Herren kriegswütig werden, ist das von je eine possierliche Sache gewesen. Der Bart sträubt sich, die Äuglein blitzen, und da soll doch auf den Erbfeind gleich ein Hämorrhoidonnerwetter herunterfahren! »Weil wir nicht kriegsbereit sind!«

So heißt eine kleine Broschüre, die ein Medizinalrat und Stabsarzt der Landwehr außer Diensten geschrieben hat. Ich denke, daß Name und Verlag nichts zur Sache tun, denn ich möchte nicht, daß jemand für das Heftchen Geld ausgibt. Wenn der kleine Aufsatz wirklich, wie der Verfasser es nennt, ein Beitrag »zur Psychologie des Imperialismus« ist, dann kann einem diese Geistesrichtung nur leid tun.

Dieser Stabsarzt hat wohl nie in seinem Leben den mordenden Säbel, sondern immer nur das Hörrohr gezückt, und er hat wohl nie geschossen, es sei denn daneben. Und nun greift er auf das Jahr 1813 zurück und beschreibt die Grausamkeiten und Schlächtereien dieser Jahre mit so intensivem Vergnügen, daß man ihm den Titel Medizinalsadist nicht mehr verweigern darf. Er spricht von der »Halalischlacht« von Waterloo und wälzt sich noch einmal freudig stöhnend im Blute der Gefallenen. Nach diesem Akt, in dem Blücher ein »titanischer Prolet« genannt wird, hat er genug. »Verschonen wir uns mit ferneren Details! Ich – es muß endlich heraus – ich kann diesen Leuten nicht böse sein! Im Gegenteil! Im allerschärfsten Gegenteil!« Und dann teilt er jedes Volk in zwei Klassen, in die geborenen Krieger und in die anderen (und die seien in der Mehrzahl): »Menschen, denen es mehr oder weniger Mühe macht, Courage aufzubringen.« Früher, in der guten alten Zeit, hätten bei den Söldnertruppen wohl nur die geborenen Krieger gekämpft. »Heutzutage aber haben wir es mit der Majorität der Friedlichen, der Temperamentarmen zu tun. Leider kann man auf sie nicht verzichten der Übermacht wegen, die man braucht. Was soll man also im Ernstfall mit all diesen Phlegmatikern, verwöhnten Schlemmern, Muttersöhnchen, Interesselosen, Dickbäuchen, Gewohnheitsspießern, Bangbüxen und sanften Antönchen anfangend Wir haben es nicht nötig, uns lange den Kopf zu zerbrechen, denn wir wissen sowieso, daß diesen Leuten sofort geholfen ist, wenn ihnen eine Leidenschaft eingeflößt wird. Diese Leidenschaft kann in unserem Falle nur der Haß sein.«

Und dann folgt auf den nächsten Seiten eine Verherrlichung der Nationalbesoffenheit, der niedrigsten Stufe aller Leidenschaften: des patriotischen Hasses, die man denn doch bei einem Christen nicht für möglich gehalten hätte. Der Mann, der bestimmt ein friedlicher Bürger ist, läßt hier, wie aus einem Ventil, seine gefährlichen Emotionen auspuffen, die er sonst nicht ungestraft entladen dürfte. Dieses Material sind wir sonst nur als Erzieher in den Mädchenstiften zu sehen gewohnt; von Dippold bis zu den peitschenden Fürsorgeerziehern ist uns die Sorte wohl bekannt. Der Medizinalsadist der Landwehr außer Diensten bringt als Beleg Kriegslieder, die natürlich von Haß triefen, und er ist der festen Überzeugung, der habe den Erfolg für sich, der am meisten Haß aufzuweisen habe. »Jener herrliche, niederrasende Haß ist der Beginn, die Hauptsache, der echte und erste Götterfunke. Wir heutigen Deutschen müßten wahrhaftig ganz von Gott verlassen sein, wenn wir aus alledem nicht die Nutzanwendung zögen!« Die ganze Innenpolitik paßt dem Landwehrsadisten nicht, das ist ihm alles zu weich und zu läppisch: »Erziehung zum Haß! Erziehung zur Liebe zum Haß! Organisation des Hasses! Fort mit der unreifen Scheu, mit der falschen Scham vor Brutalität und Fanatismus! Auch politisch gilt das Wort: ›Mehr Backpfeifen, weniger Küsse!‹«

In einem Verzeichnis der in der Zeit von 1903-1913 in Preußen verbotenen Bücher finde ich zwei, deren sorgfältige Lektüre dem Medizinalrat bestens empfohlen sei: »Rombach, Kurt. Meine grausame, süße Reitpeitsche. Preßburg, Hermann Hartleb« – und: »Das Tagebuch einer Masseuse. Deutsch von Klara M., Budapest, bei Grimm.« Sagte ich Lektüre? Aber er soll selbst solche Bücher schreiben und nicht Patriotismus nennen, was eine krankhafte Gemütsart ist!

Wir alle wissen, daß ein gesunder Haß keine Schande ist, aber wir alle wissen auch, daß es das Streben jeder Zivilisation ist, tierische Instinkte im Interesse der Allgemeinheit möglichst einzudämmen. Ob das ganz und gar möglich sein wird, steht in Frage, aber versuchen soll man es doch. Auch daß einmal ein ganzes Volk in berechtigtem Haß gegen ein anderes aufflammt und zu den Waffen greift, ist psychologisch richtig und erklärlich, aber man muß nicht vergessen, daß moderne Kriege wesentlich auf kapitalistischer Grundlage beruhen, und daß alles andere ein wohl angelegter Schwindel ist: die Volksbegeisterung und die flatternden Fahnen und die Orden und alles das.

In der altgermanischen Volkssage wird der edle Hödur von dem hinterhältigen Loki tückisch ermordet. Der Medizinalrat ist auf seiten Lokis, weil der zwar weniger Geist, aber doch mehr Körperkräfte hatte, und fragt höhnisch: »Ist Hödur inoperabel?« Ich weiß das nicht. Daß aber der Medizinalrat operabel ist, steht fest. Er soll sich kastrieren lasten.

*

Die Kartoffeln

Erschienen am 9. Juli 1913

Ich las eines dieser patriotischen Bücher, die das deutsche Heer einer genauern Betrachtung unterziehen. Da stand auch eine historische Erinnerung, die es wert ist, daß wir sie uns aus der Nähe ansehn.

Bei der Belagerung von Paris im Jahre 1870, erzählt der Autor, haben sich die feindlichen Vorposten ganz gut gestanden. Man schoß durchaus nicht immer aufeinander, o nein! Es kam zum Beispiel vor, daß man sich mit Kartoffeln aushalf. Meistens werden es ja die Deutschen gewesen sein, die den Retter in der Not gemacht haben. Aber einmal näherte sich ein französischer Trupp von ein paar Mann, die Deutschen nahmen die Gewehre hoch, da sagte jemand auf Deutsch: »Nicht schießen! Wir schießen auch nicht!« und man begann sich wegen auszutauschender Getränke zu verständigen.

Man könnte da von »Landesverrat« sprechen, und tatsächlich untersagte nachher ein Armeebefehl diese Annäherungen aufs schärfste. Aber was ging hier Wichtigeres vor sich?

Doch offenbar eine Diskreditierung des Krieges. Denn es ist nicht anzunehmen, daß Pflichtvergessene beider Parteien hier böse Dinge inszenierten. Es waren sicher Familienväter, Arbeiter, Landleute, die man in einen farbigen Rock gesteckt hatte, mit der Weisung, auf andersfarbige zu schießen.

Warum schossen sie nicht? Offenbar waren doch der Nationalhaß, der Zorn, der angeblich das ganze deutsche Volk auf die Beine rief, nicht mehr so groß, wie damals Unter den Linden, als es noch nicht galt, auf seine Mitmenschen zu schießen. Damals hatte mancher mitgebrüllt, weil alle brüllten, und das verpflichtete zu nichts. Aber hier waren Leute, die einen Sommer und einen Winter lang an den eigenen Leibern erfahren hatten, was das heißt: Töten, und was das heißt: Hungern. Und da verschwand der »tief eingewurzelte Haß«, und man aß gemeinsam Kartoffeln … Dieselben Kartoffeln; dieselben Kapitalisten. Aber andere Röcke. Das ist der Krieg.

Der Telegrammblock

Vor mir liegt ein Pack Blätter, durch zwei Kartonstücke zusammengehalten und auf sonderbare Weise geheftet: statt des dünnen Heftdrahtes hat man dicken Eisendraht genommen, etwa von der Art, wie er an den Kochgeschirren der Soldaten befestigt war.

Es sind blau gedruckte Formulare: »Station … angenommen am … aufgenommen am … befördert am …« Telegrammformulare. Telegramme der Station Neuflise, Fernsprüche vom 30. IX. 1918, 11.56 vormittags, bis 30. IX. 1918, 11.50 nachmittags.

*

Am 1. Oktober des Jahres 1918, nachmittags um fünf Uhr, erhielt ein französischer Offizier in der Gegend des Chemin des Dames den Befehl, zu erkunden, was sich in der Strohmiete zwischen den beiderseitigen Horchposten im Niemandslande befände. Die Horchposten lagen an dieser Stelle ungefähr dreißig Meter auseinander. Die Gräben an hundert. Es war schon dunkel, als die Patrouille ihren Weg antrat.

In der Miete stak ein deutscher Telegraphist. Er hob, als er der Fremden ansichtig wurde, den Revolver – der Franzose war schneller und schoß zuerst. »Es war ein großer, rothaariger Mensch,« sagt der Offizier, der neben mir sitzt, »er trug eine Brille und war gleich tot. Diesen Block habe ich ihm abgenommen.«

Der Block enthielt keine militärischen Geheimnisse – man hat ihn dem Franzosen als Andenken gelassen. Urlaubsgesuche, Ablehnung und Bewilligung von Urlaubsgesuchen, in der Mitte einer jener verlogenen Berichte der deutschen Obersten Heeresleitung, die durch viereinhalb Jahre unentwegt siegte, ununterbrochen, von der Marne-Schlacht an bis zum letzten Tage: bis zur Desertion ihres obersten Kriegsherrn und seines Sohnes. »Örtliche Einbruchsstellen wurden im Gegenstoß wieder gesäubert …« Welche Reinmachefrauen –!

Dieser ganze Dienstkram ist, mit Ausnahme der mit Fernschreiber aufgenommenen Münchhauseniade des Hauptquartiers, fein säuberlich mit der Hand geschrieben.

»gefreiter brannhalter erbittet nachurlaub wegen todesfall bruder bürgermeister sprottau«, steht da zu lesen. Irgendsoein uniformiertes Stück Unglück hatte zwar das Recht, seine Familie sterben zu sehen – aber zur Beerdigung hatte er doch erst auf ein Amtszimmer zu laufen und sich alles mögliche bescheinigen zu lassen: daß es ihn gab, daß es das Amtszimmer gab, daß Tote tot sind und auch mitunter beerdigt werden … Laufende Nummer, Name, Dienstgrad – es war alles in schönster Ordnung. Der Block ist musterhaft geführt: da fehlt kein Vermerk der Aufsicht, der Vorgesetzten … Sogar der Gummistempel ist da, ohne den man heute keinen Krieg führen kann: I. Batterie Fuß-Artl. Batl. 124. Und soweit wäre alles gut, wenn die letzte Seite nicht wäre.

Auf der letzten Seite sind noch alle Spalten genau ausgefüllt: die Zeit- und Ortsangaben, die Namen des Telephonisten, das Datum – unten steht noch: »An Absender zurück, mit Angabe, welches Wernow …« Aber da ist kein Text mehr.

An Stelle des Textes finde ich viele mißgestaltete braune Flecke, Spuren einer Flüssigkeit, die auf das Blatt gespritzt sein muß. »Was ist das?« frage ich den Offizier. Er sagt es. Der Telegraphist muß den Block gerade in der Hand gehalten haben. Er fiel offenbar auf den Block. Da, wo der Text stehen müßte, sind nun die Flecke. Weiter hatte er an diesem Tage nichts mehr zu bemerken.

*

Der Mörder sitzt neben mir. Es ist ein honetter Mann, Leiter eines Textilunternehmens, ein anständiger Kaufmann von reputierlichem Äußern, ein Mann, dem niemand einen Mord zutraute. Er sich auch nicht. Er erzählt die Ereignisse des ersten Oktober durchaus nicht ruhmredig. »Es war einfach Notwehr«, sagt er. »Er oder ich – einer war geliefert. Sie hätten an meiner Stelle geradeso gehandelt.« Ja.

Es war ein anonymer Mord, ein Mord in der Kollektivität. Ein Massenmörder hat, wenn er acht Personen mordet, eine Idee – wahrscheinlich eine irrsinnige. Dies hier war die irrsinnig gewordene Ideenlosigkeit. Man kommt von der Patrouille zurück, bekommt ein Bändchen angeheftet, läßt sich entlausen und hat eine etwas trübe Erinnerung. Er oder ich.

Und wenn ich nun den Ermordeten kennte, wenn er vielleicht mein Freund gewesen wäre, so stände ich neben einem Mörder, dem ich nichts tun dürfte. Denn jetzt ist Friede – »der Mann hat seine Pflicht getan« –, und es hätte nur einer kleinen Wendung durch Gottes Fügung bedurft, so säße ich jetzt vielleicht in Sprottau neben einem rotblonden, großen Burschen mit Brille, der mir erzählte: »Also – am 1. Oktober – nachmittags – da kommen drei Franzosen in die Strohmiete …« Und eine Frau schleppte in Paris ihr zerbrochenes Leben weiter wie jetzt eine in Sprottau.

Vor vierzehn Jahren fing es an und ist doch schon halbvergessen. Nicht ganz: denn emsig probieren auf allen Seiten die Kommis des Krieges neue Apparate und schmieren die alte Gesinnung mit dem schmutzigen Öl des Patriotismus. Paraden, Orden, Gas, Wachtmeister mit den Generalsabzeichen: gefährliche, in Freiheit lebende Irre. Und so, wie sich ein Hexengericht im tiefsten verletzt gefühlt haben mag, als Friedrich von Spee jene Blutorgien bekämpfte, damit an den Grundlagen des Staates rüttelnd, so glauben heute nicht nur die Nutznießer der Abdeckereien, sondern Philosophen, Zeitungsleute, Dichter, Kaufleute, daß das so sein muß. Und es muß so sein, weil die Geschäfte daran hängen.

Keine illustrierte Zeitung, kein großes Blatt, kein Verlag wagt gegen die Interessenten dieser Industrien zu sprechen: was weiß die junge Generation von den Schrecken des Krieges – wer sagts ihr so oft, wies nötig ist: also immer wieder? Wunderschön ausgeklügelte Resolutionen bezeugen das taktische Verständnis der Klugschnacker – das Triviale, das Wirksam-Banale ist fast nur auf der andern Seite.

Es gibt ein geistiges Mittel, es ist das Rezept Victor Hugos: » Déshonorons la guerre!«

Dienstunterricht für den Infanteristen

»Und ruft das Vaterland mich wieder
Als Reservist und Landwehrmann,
So lege ich die Arbeit nieder
Und folge Deutschlands Fahnen dann!«

Der Musketier Pietsch von der 8. Kompanie, mit dem ich neulich wieder einmal beim schäumenden Pilsner alte Erinnerungen aus unsrer Dienstzeit ausgetauscht habe, erzählt noch heute gern von den Jahren, da es ihm vergönnt gewesen ist, einen von des Kaisers Röcken zu tragen. Pietsch, ein hochgewachsener und breitschultriger deutscher Mann, der mit dem Vertrieb von Abziehbildern sein gutes Auskommen hat, pflegt gern leuchtenden Auges von den Kaisermanövern zu berichten, wo er am Horizont den Staub sah, den Majestät da aufwirbelte – von den Putzstunden und von den freudigen Vormittagen auf dem Kasernenhof, da er seine Knie rollen ließ, daß es nur so eine Art hatte. Pietsch gibt an, daß er erst durch seine Dienstzeit zum brauchbaren Mann geworden sei, und seine Frau, eine echte deutsche Hausfrau von deutschem Schrot und Korn, bestätigt es. »Siehst du,« sagte er zu mir und ging auf das kleine Nußbaumschränkchen zu, das ihm seit Jahr und Tag zur Aufbewahrung seiner kleinen Bibliothek dient, »siehst du, hier habe ich sozusagen den Schlüssel zu meinen Erfolgen.« Und damit überreichte er mir ein grünes Heftchen, in dem ich staunend blätterte, während er schmunzelnd dabeistand und an seiner Reservistenpfeife zog. »Transfeld« las ich. »Dienstunterricht für den Infanteristen des Deutschen Heeres.« Unwillkürlich nahm ich Haltung an. »Ja,« sagte Pietsch und stieß eine riesige Wolke aromatischen Tabaks aus, so daß der Kanarienvogel in seinem Bauer tot von der Stange fiel, »das war also sozusagen meine Bibel. Und ich kann dir sagen, mein Junge, wir haben gut gebetet, damals! Wenn ich noch dran denke …« Pietsch versank in süße Träumerei, während derer ich ins Nebenzimmer ging, um mit seiner Gattin ein Stündchen die Ehe zu brechen. Als wir wieder herauskamen, erhob sich Pietsch zu seiner ganzen imposanten Höhe. »Nimms mit, mein Junge!« sagte er. »Sollst auch was lernen!« Und ich nahm es mit.

Ich muß wohl sagen: dies ist ein wahrhaft humoristisches Buch – man kommt aus dem Lachen gar nicht heraus. Möchtest auch du, lieber Leser, aus dem Büchlein Belehrung und Unterhaltung ziehen?

*

Das Ding beginnt mit einer Darstellung der preußischen Geschichte, an der auch nicht ein Komma wahr ist. Das verlogenste Zeug war offenbar gerade gut genug, um Millionen von Deutschen als Leitfaden für die Geschichte ihres Landes zu dienen. Folgt eine Tabelle der »wichtigsten Kriegsgedenktage 1914-16«, die aus einer Kette von deutschen Siegen besteht. Von der Marne-Schlacht war damals nur den Beteiligten etwas bekannt – jedenfalls findet sich in der Tabelle von ihr kein Wort. Dazwischen die Bilder des Herrscherhauses; auch der von Oels ist da, hält seinen Helm auf den Knien, die schon so manches geschaukelt haben, und sieht genau so aus, wie er war. Auch eine Dame ist zu sehen, die deutsche Kaiserin genannt wird – aber da sie nicht Hermine heißt, muß es sich wohl um einen Irrtum handeln.

Zweiter Abschnitt: »Wehrpflicht, Fahneneid und Kriegsartikel.«

»Wohl gibt es viele, die von allgemeinem Völkerfrieden und Abrüsten sprechen; aber die Geschichte lehrt, daß kriegerische Zusammenstöße der Völker unvermeidlich sind.« Das ist ja eine schöne Geschichte! »Wir Deutschen brauchen ein besonders starkes Heer, da wir keine natürlichen Grenzen haben, und da wir Nachbarvölker haben, die uns unsre Weltstellung, die ständige Aufwärtsbewegung unsres Volkes in Industrie und Handel, in Kunst und Wissenschaft und unsern Wohlstand nicht gönnen.« Für diesen Satz verdient der Verfasser, an eine solide Laterne gehängt zu werden. Ist es denkbar, daß man, nur, um seinen Machtgelüsten eine Position zu schaffen, vernünftigen Menschen einredet, es gebe auf Gottes weiter Erde auch nur ein vollsinniges Wesen, das »aus Neid« in den Krieg zieht? In Deutschland war so etwas denkbar, und mit Erfolg.

Folgt der Fahneneid, bei dem die kleingedruckten Israeliten nur: »So wahr mir Gott helfe!« zu murmeln hatten, und wenn sie es gar nicht murmelten, machte es auch nichts. (Wer sitzt denn hier dauernd herum und schreibt mit? Es ist der Presse-Referent der Reichswehr, der wie ein Schießhund aufpaßt, ob auch keine Beleidigung seines Ladens wie ein Haken herausragt, an dem er seinen Helm und mich aufhängen kann … Stellen Sie sich bequem. Sie werden nachher gerufen, wenns so weit ist.) Ja, also die Fahne.

»Die Fahne vertritt fortan für den Soldaten die Person des obersten Kriegsherrn.« Das ist nicht auszudenken. Der oberste Kriegsherr zusammengerollt auf der Kammer; der oberste Kriegsherr eingemottet – und doch ist etwas Wahres daran: Fahnen wurden niemals in das Gefecht mitgenommen, sie spielten nur nachher, bei den Besichtigungen in tiefster Etappe, eine große und wehende Rolle.

Der zweite Kriegsartikel aber befaßt sich mit der Treue. Ja, das ist nun so eine Sache … »Von jeher ist die Treue eine der vornehmsten Tugenden unsres Volkes gewesen …« Das ist, von jeher, eine Lüge, aber laßt uns doch sehen, welche Vergehen gegen die Treue möglich sind. Da ist zum Beispiel die Fahnenflucht. »Die eidlich gelobte Treue bricht, wer sich der Fahnenflucht schuldig macht …« Davon steht nun nichts in der »Geschichte des Herrscherhauses«, wohin es doch gehörte. »Das schwerste Vergehen gegen Mut und Tapferkeit«, heißt es in einem Deutsch, das das ewige Geheimnis des Gamaschenknopfes ist, der es gedichtet hat, »ist die Feigheit.« Da hätten wir einen Kaiser, der auskniff, als er in die einzig prekäre Situation seines Lebens kam; da hätten wir den Feldherrn Ludendorff, den sie aus Dänemark und Schweden erst hinausjagen mußten, weil sie ihn auch da nicht haben wollten – da hätten wir den ganzen Stall voller Würdenträger, die nicht da waren, als es ein wenig, ein ganz klein wenig gefährlich zu werden versprach. Sind aber heute noch sehr geehrt und auf allen kameradschaftlichen Veranstaltungen gern gesehen.

Wir kommen nunmehr zum Gehorsam. Da sind eine Reihe schrecklicher militärischer Vergehen aufgezählt, und es ist sehr amüsant, zu sehen, wie in den »Beispielen« die Opfer niemals Offiziere sind; der Verfasser hat dabei das sehr richtige Gefühl gehabt, es sei besser, den deutschen Soldaten gar nicht erst auf den Gedanken zu bringen, daß man auch einem Offizier seinen Deckel vom Kopf schlagen könne. Die angenommenen Vergehen richten sich alle gegen Unteroffiziere.

Was die »ehrenhafte Führung« anbelangt, so ist von diesem Kapitel etwas zu sagen, was für das ganze Buch gilt: es ist in einem Fibelstil geschrieben, der sich an komplette Idioten wendet. Der Standpunkt des Herrn Transfeld ist durchaus der eines lieben Gottes auf dem Gutshof, wo er weit und breit der einzige ist, der halbwegs lesen und schreiben kann – und der so viel »Kultua« hat, daß er weiß, wie man jemandem Feuer anbietet. Die »Kerls« wußten das nicht.

Ernsthaft lehrreich ist ein andres.

Die »Ehre« des Soldaten wird stabilisiert, als sei sie etwas Vorhandenes, etwas, das eben a priori da ist. Da ist es eine »Ehre«, einen Schießprügel tragen zu dürfen; da ist es eine andre, diesem oder jenem Bataillon anzugehören, da hat jede Korporalschaft eine »Ehre«, kurz: man findet sich unter so viel Ehren gar nicht heraus. Sehr typisch ist auch dieser wahnwitzige Standpunkt, daß die eigne Ehre durch das Verhalten andrer verletzt werden könne … o du mein Preußen!

Was hingegen die Reinlichkeit des Körpers betrifft, »so wäscht sich der Soldat nach dem Aufstehen mit kaltem Wasser und Seife Gesicht, Hals, Ohren, Brust und Achselhöhle, reinigt die Hände im Seifenwasser mit einer Handbürste und entfernt den Schmutz unter den Fingernägeln mit einer Nagelschere oder einem Nagelreiniger (aber nicht mit dem Taschenmesser, mit dem er auch Eßwaren schneidet.)« Wobei einem der Gedanke kommt: wie kommt es, daß man sich so oft die Hände wäscht und niemals nicht die Füße? Jedoch: »Im Winter muß sich der Soldat mindestens einmal wöchentlich, im Sommer öfter die Füße waschen.« Das Brausebad scheint der Kaisersgeburtstagsfeier vorbehalten gewesen zu sein.

In der Tat: wer diese Anleitung liest und weiß, daß es nirgends größere Schweine gegeben hat als beim Militär; wer einmal gesehen hat, wie sich ein Unteroffizier Sonntags zum Ausgehen fertigmachte: was sich das Ferkel da alles nicht wusch, wenn es nur seine Bartbinde trug –: der freut sich der Gediegenheit solcher Erziehung und sehnt sie sogar bald wieder herbei. (Herr Presse-Referent sind immer noch nicht dran.)

Folgt die Behandlung von Anzug und Vorgesetzten. Der Anzug muß gründlich ausgeklopft werden. Hingegen dem Vorgesetzten gegenüber »hat der Soldat ein bescheidenes, militärisch strammes, offnes und unbefangenes Benehmen zu beobachten.« Tritt also zum Beispiel der Herr Vorgesetzte den Soldaten in den hierzu angebrachten Hintern, so hat derselbe demselben militärisch stramm und unbefangen ins Auge zu sehen.

Dieser Affendrill war gut organisiert.

Die blödsinnige Anrede in der dritten Person (Molnar: »Das muß ich Herrn Doktor aber sagen – wie Herr Doktor mit der Gesundheit von Herrn Doktor umgehen …!«), die dauernd an den Tag zu legende Hundedemut, das Abtöten jedes Willens in den Untergebenen: da war die ganze deutsche Armee. Niemand konnte dafür auch einen Menschen so als eine Sache ansehen, wie das deutsche Vorgesetzte mit Untergebenen fertigbekamen, die es sich gefallen ließen.

Urlaub. »Rauchen im Ordonnanzanzuge auf der Straße ist verboten. Das Rauchen ist sämtlichen Militärpersonen bei Tage auf folgenden Straßen und Wegen verboten:

Unter den Linden vom Königlichen Schloß bis zum
Brandenburger Tor,

Hofjäger-Allee,
Sieges-Allee,
Leipziger Straße von Wilhelm-Straße bis einschließlich
Potsdamer Platz …«

Das gabs. Und es gab auch eine schöne Analogie solcher Vorschriften: das waren die Polizeibestimmungen für Prostituierte: die durften an keiner Kirche wohnen und nicht um die Schulen herumstreichen und nichts und gar nichts. Nur auf offner Straße Männchen machen: das durften gerade sie nicht.

Worauf man den ständigen Aufenthaltsort des kaiserlichen Hofschauspielers sieht: seinen Hofwagen, in dem er seine Eitelkeit umherhetzte, und wieder und wieder wird darauf hingewiesen, wie die »Ehre« des Soldaten, des Truppenteils, der Garnison und der umliegenden kleinen Ortschaften auch auf Urlaub in seine nicht mit dem Taschenmesser gereinigten Hände gelegt war.

Beschwerden. Der Soldat durfte sich beschweren.

Aber nicht nur die Beschwerde, auch das Gewehr 98 hatte seine hohen Reize. Das konnte man auseinandernehmen und reinigen und damit präsentieren, und einfetten konnte man es … Richtig: auch schießen. Nun darf man natürlich die minutiösen Vorschriften über »Reinigen des Gewehres mit dem Wischstock«, an die sich später kein Mensch mehr kehrte, nicht belächeln. So dumm waren die Offiziere nun wieder nicht. Es waren das lediglich pädagogische Übungen – man hätte den Soldaten geradeso gut eine Puppe in die Hand geben können. Gehorchen sollten sie. Kuschen. Und das Maul halten.

Das zeigt sich deutlich an den Vorschriften über den Wachtdienst. Wie da die absolute Vorherrschaft des Militärs gepredigt wurde; wie die Wachtposten gegen das »Zivil« immer recht hatten; wie da mitten im Frieden Krieg im Frieden gespielt wurde; wie in den Beispielen feindliche »Kerls« umherwimmeln, die natürlich, nach Lage der Dinge, wohl nur Arbeiter oder so ein Pack sein konnten –, das atmet die Luft der preußischen Kinderstube, in der der Soldat lernte, auf Vater und Mutter zu schießen, wenn der oberste Kriegsherr, so er nicht gerade auskniff, es befahl. Es ist nicht anders geworden.

Folgen die Vorschriften für das Gefecht. Das ist nun schwachsinnig ganz und gar, und hier sind die Offiziere auf ihrem eignen Felde zu schlagen. Ich weiß nicht, wie man am besten Menschen totschlägt. Daß es aber nicht mit Kindereien, wie diese eine ist, geschieht, ist klar: »Der Angreifer ist von vornherein dem Verteidiger überlegen, denn seine Kraft und Entschlossenheit schüchtern diesen ein, und er kann sich die Stelle, wo er angreifen will, auswählen, so daß dem Verteidiger die Vorteile seiner Stellung nicht zugute kommen.« Aber: »In der Verteidigung muß jeder Mann den festen Willen haben, nicht von dem Platze zu weichen, den er halten soll. Er darf dies mit vollem Vertrauen, denn je näher der Feind herandrängt, desto vernichtender für ihn wird unsere Feuerwirkung. Mit guter Feuerzucht vermag eine gut ausgebildete Infanterie jeden Angriff zurückzuweisen.« Und einen solchen Unfug hat ein ganzer Generalstab drucken lassen! Für die Kerls war das Dümmste gerade gut genug.

Folgt ein ungemein heiteres Kapitel des kleinen Moritz über »Zweck und Wesen der fremden Spionage«, dessen Wirkungen sich in der Psychose der Augusttage 1914 herrlich gezeigt haben, sowie ein herzbewegendes über die französische Fremdenlegion, in der es die Soldaten so schlecht haben: sie müssen für ein paar Pfennige in der größten Hitze marschieren, sie dürfen nicht einmal desertieren, die Armen, und jeder Mann ist ja nur »eine namenlose Nummer, wie im Zuchthause«! Schrecklich, schrecklich, was es alles gibt! In Frankreich.

»Ein Abschiedswort an die Reservisten«: »Denkt daran, daß Ihr fürs ganze Leben Euerm Kaiser Treue geschworen habt. Ein deutscher Mann hält aber seinen Eid (denk mal, Wilhelm!); nur mit dem Tode löst er ihn ein.« In Doorn. Mit einem Vermögen, das ihm seine Völker noch nachgeworfen haben …

Allezeit
Treu bereit
Für des Reiches Herrlichkeit!

*

Und nun, o Presse-Referent der Reichswehr, dürfen Sie wieder hereinkommen! Und schön zuhören, was Ihnen erzählt wird:

Ihre Dienstvorschriften sind heute ein wenig intelligenter. Sie haben nicht mehr die Masse des Volkes hinter sich, sondern einen Stamm von hunderttausend Unteroffizieren mit andern Zielen, mit andern Ausbildungsmöglichkeiten, als sie damals bestanden haben. Einen solchen Bockmist verzapfen Sie nicht mehr, obgleich das, was Ihr Herr Hube an Hohn und politischer Torheit ungestraft zusammenschreiben darf, auch schon ganz hübsch ist. Sehr viel besser als Transfeld ist er auch nicht und seid ihr auch nicht. Denn was Sie in Parlamentsreden und Verfügungen, in der Praxis und in der Theorie auch weiterhin verzapfen, ist dies:

Daß Menschenmord eine Ehre sei. Daß Soldaten in ihren Forderungen, in ihrer Stellung, in ihrer Denkart jeden andern Stand überragten. Daß Gesetze und Zivilforderungen für dieses Militär nicht gälten. Daß der Soldat tabu sei. Und Sie sollen wissen, daß ein militanter Pazifismus diese Forderungen für falsch hält, für nicht vereinbar mit moralischen Forderungen, die Sie übrigens, wenns Ihnen paßt, in der Kirche bejahen lassen. Diese Forderungen und ihre Moral gelten für uns nicht. Sie dürfen gehn.

Wir andern aber sind uns wohl über eines klar:

Die geistige Militarisierung Deutschlands macht Fortschritte wie nie zuvor – nur die Form hat gewechselt. Was früher dümmlich und dickfäustig für Bauernjungen zurechtgehauen wird, ist heute aus bestem Stahl, biegsam und wesentlich moderner. Diese geistige Militarisierung, der fast alle Parteien hemmungslos unterliegen, ist unsittlich, verabscheuenswert und infam. Sie wird ihre blutigen Früchte tragen – und auch das nächste Mal wird niemand, niemand schuld sein. Was deutsche Richter über den Wert und Unwert des Militarismus in ihren Urteilen sagen, ist gleichgültig. Militarismus im Dienst einer hochstehenden Idee ist schon keine Freude. Militarismus für die niedere Idee des Patriotismus ist ein Verbrechen an der Menschheit, auch dann, wenn er Individuen in Bewegung setzt, die das Joch masochistisch auf sich nehmen, um die letzten Gelüste zu befriedigen, die das Menschentier in sich trägt: sich rauschartig an eine Gruppe zu verlieren und unter Mißbrauch der Gruppengewalt Macht über andre auszuüben.

Das »Vaterland« ist der Alpdruck der Heimat.

Wenn es in jedem Lande eine Schicht Männer gibt, deren sexuelles, seelisches und ökonomisches Bedürfnis die Schaffung von Armeen verlangt, so soll uns das gleich sein. Es liegt aber keine Veranlassung vor, diese Manner anders ernst zu nehmen, als sie lachend zu bekämpfen.

Vision

Heute haben wir den 28. Juli, der Pariser Autobusführer sitzt vorn am Steuerrad und wendet den schweren, langen Wagen, als ob es ein kleiner Zweisitzer wäre. » AX« steht vorn dran. Ich weiß doch nicht genau … und frage den Schaffner. Der Schaffner sagt nett und höflich Bescheid: Nein, nach der rue de Grenelle muß ich mit dem andern Wagen abfahren. Danke.

Das wäre also heute. Und was hätte der Omnibusschaffner, auf diesem Pariser Omnibus, mit mir gemacht, wenn wir uns in jenen Jahren begegnet wären?

Der Omnibusschaffner hätte, vor Angst, aus Pflichtbewußtsein, nach Kommando, auf mich geschossen. Sein Fahrer wäre, um mich zu fangen, vorsichtig den Graben entlanggekrochen, wäre alle paar Minuten regungslos auf dem Bauch liegengeblieben, hätte gewartet – und dann, an der nächsten Biegung, wäre er vorgesprungen und hätte mir sein Bajonett in den Magen gestoßen, da, wo ich jetzt meinen Spiegel trage. Der Mann auf der Metro, der mir vorhin das Billet geknipst hat, hätte befriedigt das Gewehr abgesetzt, wenn ich drüben die Arme hochgeworfen hätte und hinter dem deutschen Graben verschwunden wäre … In jenen Jahren.

Und ich: ich war verpflichtet, meinem Milchhändler, der mir morgens immer so nett auseinandersetzt, was es Neues gibt, den Kolben auf den Kopf zu schlagen, wenn ich ihn erwischt hätte; ich mußte meinem Kollegen vom » Oeuvre« das Seitengewehr durchs Gesicht ziehen, und ich hatte dafür zu sorgen, daß die schöne Frau Landrieu ihren Mann nicht mehr zu sehen bekam. In jenen Jahren.

Das war meine Pflicht, das war ihre Pflicht.

Aber jetzt sind wir alle wieder friedlich, sagen uns freundlich Guten Tag, unsere Minister besuchen sich; sie zeigen mir den Weg, ich drücke ihnen die Hand, grüße und unterhalte mich, werde ins Theater begleitet und führe nette Unterhaltungen über alles mögliche. Nur über diese eine Sache nicht. Nur über diese eine einzige Lebensfrage sprechen die Menschen fast gar nicht, ungern, zögernd:

Ob sie sich morgen wieder Messer in die Köpfe jagen, morgen wieder Granaten (mit Aufschlagzünder) in die Wohnstuben schießen, Herrn Haber konsultieren, damit er ein neues Gas erfinde, eines, das die Leute, wenn irgend möglich, Professor, total erblinden läßt … Und darüber, daß sich morgen Alle: Omnibusschaffner, Metrokontrolleur, Universitätslehrer und Milchhändler, in eine tobende, heulende Masse verwandeln, die nur den einen Wunsch hat, aus den Berufsgenossen der andern Seite einen stinkenden Brei zu machen, der in den Sandtrichtern verfault …

Morgen wieder? Morgen wieder –?

Dänische Felder

Da liegen sie: sonnenüberglänzter Wind geht drüber hin, die Grasbüschel werden hin- und hergerissen, pflaumenblau ziehen sich da hinten die Wälder entlang. Die Chaussee läuft ein Stückchen bergan, dann ist sie von der Kuppe gerade abgeschnitten und führt in den Himmel. Zwei solcher Treppen gibt es in Versailles …

So hat doch diese dänische Landschaft auch im Jahre 1917 hier gestanden? Natürlich – warum denn nicht? Die da führten keinen Krieg.

Diese Bäume durften Bäume sein – niemand schoß sie zusammen. Über diese Grasflächen stampfte keine lange Schlange von Marschierenden. Die Wege wurden nicht von ratternder, schimpfender, polternder Artillerie aufgeweicht und verdorben. Diese Landschaft war reklamiert.

Herrgott in Dänemark, welch ein Wahnsinn! Hier war Mord Mord; dort war Mord ein von den Schmöcken, den Generälen und den Feldpredigern besungenes Pflichtereignis. Hier durfte man nicht – dort mußte man.

Und so selbstverständlich, wie die Mücken tanzen, so selbstverständlich ist den Mördern und ihren Kindern Untat, Fortsetzung der Untat und Propagierung der Untat. Es geschieht so wenig gegen den nächsten Krieg, bei dem euch die Gedärme, so zu hoffen steht, auch in den Städten über der Stuhllehne hängen werden. Jeden Abend müßte in den Kinos zu sehen sein, wie sie wirklich gestorben sind.

Möge das Gas in die Spielstuben eurer Kinder schleichen. Mögen sie langsam umsinken, die Püppchen. Ich wünsche der Frau des Kirchenrats und des Chefredakteurs und der Mutter des Bildhauers und der Schwester des Bankiers, daß sie einen bittern qualvollen Tod finden, alle zusammen. Weil sie es so wollen, ohne es zu wollen. Weil sie herzensträge sind. Weil sie nicht hören und nicht sehen und nicht fühlen. Leider trifft es immer die Falschen.

Wer aber sein Vaterland im Stich läßt in dieser Stunde, der sei gesegnet. Er habe seine schönsten Stunden in einer dänischen Landschaft.

Nebenan

Im Schankzimmer einer Berliner Kneipe. Nach der Polizeistunde. Der Wirt döst hinter der Theke. Aus den Zapfhähnen fallen monoton Tropfen auf das Blech. Im spärlichen Licht der zwei trüben Gasflammen kauert eine dunkle Gestalt an einem Tisch. Aus dem Extrazimmer tönen Stimmen.

Der Wirt (fährt auf): Na, Willem – nu jeh man nach Hause –! Feierahmt!

Die Gestalt: Laß mir noch 'n bisken, Paul! Bei mir zu Hause frier ick zu Puppenlappen. Wir ham keene Kohlen. Du sitzt ja hier doch noch … Wejen die da … Wie lange kann 'n diß noch dauern?

Der Wirt: Na, die machen noch lange! Wat 'n richtja Kriejerverein is, der hört nich vor morjens sechsen uff. Uah …

Die Gestalt: Sei ma stille! Hör ma –!

(Im Extrazimmer klopft jemand an ein Glas. Es wird still.)

Eine Stimme: Karaden! Im Andenken an das zweite Garderement zu Fuß bitte ich Sie, mit mir unsres allerhöchsten Kriegsherrn und seiner Paladine zu gedenken. Wer wie wir vier Jahre lang Schulter an Schulter im Felde gestanden hat, wer wie wir die gleichen Gefahren, die gleichen Entbehrungen ausgehalten hat – der hat die Pflicht, die über das Reich hereingebrochene rote Gefahr …

Die Gestalt (ist aufgestanden. Alter Mantel mit weiten Ärmeln, abgeschabt und ärmlich): Watn? Wer issn det –?

Die Stimme: … auch fürderhin die Säulen von deutscher Sitte und deutscher Art zu vertreten die Ehre haben. Von hinten erdolcht, hat unser tapferes Heer, die ungeheuren Opfer nicht scheuend, bis zum letzten Hauch von Mann und Roß …

Die Gestalt: Nanu? Die Stimme kenn ick doch … Det is doch … Paule …!

Der Wirt: Wat hastn?

Die Stimme: Wir Offiziere voran, hat das zweite Garderement zu Fuß immer seinen Mann gestanden, wenn es galt, die Fahnen unsres allerhöchsten Kriegsherrn …

Die Gestalt: Paul!

Der Wirt: Schnauze! Wat machste hier sonnen Krach?

Die Gestalt (nähert sich der Tür): Det is er! Det is er! Und wenn ick hunnert Jahr alt wer, die Stimme vajeß ick nich! Det is er!

Der Wirt: Wißte leise sein! Wer is det –?

Die Gestalt: Unsa olla Kompanieführer! Is det son kleena Dicka?

Der Wirt: Ja doch – mit Jlupschoogen!

Die Gestalt: Det is er! Natürlich is er det! Wat saacht er da?

Die Stimme: Folgen Sie auch weiterhin meinem Vorbild, unserm Vorbild, und seien Sie eingedenk …

Die Gestalt: Paul – er hat se alle in Kasten jesteckt! Wer eenen Fußlappen zu wenig hatte: rin in Kasten! Paul, er hat se anbinden lassen, vastehste … die Beljier immer munter drum rum … die ham jelacht, die Äster … er hat ooch jelacht. Wir hatten ihn in Jarneson …, ick ha damals Wache jeschohm. Jede Nacht kam er mit 'ne andre Sau ruff – ick hab imma missen präsentieren! Wat saacht er?

Die Stimme: Solange Deutschland solche Männer hat wie Ludendorff und seine Offiziere, kann es nicht untergehn –!

Die Gestalt: Ick hau …!

Der Wirt: Willem! Jeh von de Dhiere wech! Mach dir nich unjlicklich!

Die Gestalt: Ick habe zweendreißich Mark Rente – un Der?

Der Wirt: Wißte von de Dhiere wech!

Die Stimme: Un so bitte ich Sie, mit mir anzustoßen, auf das Wohl …

Die Gestalt: Hab keene Angst, Paule. Ick kann ja die Dhiere janich uffkriejen. Ick … ( er schwenkt seine weiten Ärmel. Sie sind leer.)

Das Nebenzimmer: Hurra! Ra! Rra –!

Die Flecke

In der Dorotheenstraße zu Berlin steht das Gebäude der ehemaligen Kriegsakademie. Unten, in guter Mannshöhe, läuft eine Granitlage um das Haus herum, Platte an Platte.

Diese Platten sehen seltsam aus: sie sind weißlich gefleckt, der braune Granit ist hell an vielen Stellen … was mag das sein?

Ist er weißlich gefleckt? Aber er sollte rötlich gefleckt sein. Hier hingen, während der großen Zeit, die deutschen Verlustlisten.

Hier hingen, fast alle Tage gewechselt, die schrecklichen Zettel, die endlosen Listen mit Namen, Namen, Namen … Ich besitze die Nr. 1 dieser Dokumente, da sind noch sorgfältig die Truppenteile angegeben, wenig Tote stehen auf der ersten Liste, sie war sehr kurz, diese Nr. 1. Ich weiß nicht, wie viele dann erschienen sind – aber sie gingen hoch hinaus, bis über die Nummer tausend. Namen an Namen – und jedesmal hieß das, daß ein Menschenleben ausgelöscht war oder »vermißt«, für die nächste Zukunft ausgestrichen, oder verstümmelt, leicht oder schwer.

Da hingen sie, da, wo jetzt die weißen Flecke sind. Da hingen sie, und vor ihnen drängten sich die Hunderte schweigender Menschen, die ihr Liebstes draußen hatten und die zitterten, daß sie diesen einzigen Namen unter allen den Tausenden hier läsen. Was kümmerten sie die Müllers und Schulzes und Lehmanns, die hier aushingen! Mochten Tausende und Tausende verrecken – wenn er nur nicht dabei war! Und an dieser Gesinnung ertüchtigte der Krieg.

Und an dieser Gesinnung hat es gelegen, daß es vier lange Jahre so gehen konnte. Wären wir alle für einen aufgestanden, alle wie ein Mann –: wer weiß, ob es so lange gedauert hätte. Man hat mir gesagt, ich wisse nicht, wie der deutsche Mann sterben könne. Ich weiß es wohl. Ich weiß aber auch, wie die deutsche Frau weinen kann – und ich weiß, wie sie heute weint, da sie langsam, qualvoll langsam erkennt, wofür er gestorben ist. Wofür …

Streue ich Salz in Wunden? Aber ich möchte das himmlische Feuer in Wunden brennen, ich möchte den Trauernden zurufen: Für nichts ist er gestorben, für einen Wahnsinn, für nichts, für nichts, für nichts.

Im Lauf der Jahre werden ja diese weißen Flecke allmählich vom Regen abgewaschen werden und schwinden. Aber diese andern da, die kann man nicht tilgen, In unsern Herzen sind Spuren eingekratzt, die nicht vergehen. Und jedesmal, wenn ich an der Kriegsakademie mit ihrem braunen Granit und den weißen Flecken vorbeikomme, sage ich mir im stillen: Versprich es dir. Lege ein Gelöbnis ab. Wirke. Arbeite. Sags den Leuten. Befreie sie von dem Nationalwahn, du, mit deinen kleinen Kräften. Du bist es den Toten schuldig. Die Flecke schreien. Hörst du sie?

Sie rufen: Nie wieder Krieg –!

Der letzte Ruf

In Dünkirchen haben sie einen Mann hingerichtet, der hieß Lucien Beyen und war einundzwanzig Jahre alt; er hatte einen Raubmord begangen, und deswegen war er dran. Der Zeitungsbericht sagt:

»Die Hinrichtung Beyens ging ohne Zwischenfälle vor sich. Der Mörder wurde geweckt; es wurde ihm mitgeteilt, daß sein Gnadengesuch abschlägig beschieden sei, er beichtete, nahm die heilige Kommunion und ging gleichmütig auf das Schafott. Sein letzter Ruf war:

» Vive la Belgique –!«

Früher hieß das: »Mutter!«, aber das hat sich geändert, denn so sentimental sind wir nicht mehr. Auch der völlig abwegige Schrei: »Mein Gott« oder einer dieser Appelle an die diesbezüglich gesetzlich geschützte Familie ist ganz aus der Mode gekommen. Unser letzter Ruf heißt, wie blutende Figura zeigt, anders. Und das ist auch recht erklärlich.

Denn so, wie die Nerven des Auges nur Lichtempfindungen produzieren; so, wie nach der Entdeckung Gustav Meyrinks, die Pastorentöchter der vorigen Generation auf alle Reizungen entweder Kinder kriegten oder häkelten, so wie ein Kuckuck nur »Kuckuck« schreien kann und wie die Funktionen der Harnblase und der Strafkammern eindeutig bestimmt sind –: so erwacht im Europäer, wenn ein heftiges Erlebnis ihn aufrührt, das Nationalgefühl.

Es ist ziemlich gleichgültig, was ihn aufrüttelt. Flieger fliegen über den Ozean; einer entdeckt ein neues Element; einer erfindet einen Apparat zur Beseitigung des Geschlechtslebens in Gefängnissen; einer läuft schnell, einer reitet noch schneller, einer boxt am schnellsten –: was auch immer geschieht, der Europäer ruft: Hurra! und läßt, auch wenn er stirbt, gerade wenn er stirbt, seine Nation leben. So sterben wir alle Tage.

Es ist der Ur-Instinkt, der tiefste, der roheste, der gewalttätigste und der gewaltigste. Es ist jener, in dessen unterirdischer Wurzel Wollust und Blutlust zusammenlaufen, es ist der Solarplexus, der schreit, das Hodengefühl antwortet, und der ganze Kerl wird zusammengeschüttelt. Die Frau ist in diesem Fall ein einziger schwingender Nerv, und haben die verzückten Nonnen in jenem Moment, der vor dem Himmel und ihrer Vorstellung ein Jahr war, geflüstert: »Der Gott kommt!« – so rufen wir, peitscht man uns aus: »Es lebe die Nation!«

Es gibt bekanntlich drei wahrhaft internationale Mächte: die katholische Kirche, die Homosexuellen und Standard Oil. Zu ihnen gesellt sich die Nation als die vierte, und nichts ist so groß wie die Solidarität der Klassenlehrer, die ihre Schulhöfe beaufsichtigen. Offiziere feindlicher Armeen stehen einander näher als Offizier und Mann desselben Landes; ordnungsliebende Staatsmänner schätzen ordnungsliebende Staatsmänner und hätten ein abgrundtiefes Mißtrauen, wenn etwa aus dem Nachbarlande eine Horde Radikaler mit Palmenzweigen in den Händen über die Grenze käme – wo brächte uns das hin! Einmal ist diese Grenze der Rhein gewesen, und dieser verpaßte Augenblick wird für Frankreich sobald nicht wiederkommen; es hat damals nicht begriffen, wo seine wahren Freunde gestanden haben, denn es hielt den Rhein für breiter als den Kanal. Es wird das eines Tages bereuen. Die Köpfe der nationalen Bandwürmer aber blinzeln sich zu und lassen die Sauggefäße aufschwellen – sie sind sich so gut … Ministerpräsidenten verstehen im Zank einander noch immer besser als die durch verkommene Sozialdemokraten verführten Arbeiter; Diplomaten verstehen einander; Polizeipräsidenten, die Kommunisten jagen, verstehen einander – Proletarier aber kennen einander gar nicht. Sie lernen sich erst gelegentlich eines Sturmangriffs oder einer Patrouille kennen und schätzen.

» Vive la Belgique!« hatte der Todeskandidat gerufen. Es war das, was er auf der Schwelle des Lebens dem Tode ins Gesicht zu sagen hatte, damit der doch wüßte, wen er da empfinge. Es war Ankündigung beim Tod, der seine Patrioten kennt, und Dank an das Leben. Denn was hatte dem morgens frühzeitig geweckten, beichtenden und kommunizierten Mörder die schönsten Emotionen im Leben verschafft –?

Die Kirche tut, was sie kann. Der Sport hat sie fast überholt. Das Kino liegt an der Spitze. Aber was sind sie alle drei gegen das Vaterland, das den einzelnen so schön vergessen läßt, was er für ein Staubkorn in der Nase des Allmächtigen ist, und das ihn emporhebt über sich selbst, so daß seine Individualität zerschmilzt wie sonst nur noch, wenn er mordet oder zeugt. Und wie bequem ist dieses Gefühl! Begeht der Landsmann Lumpereien, so schüttelt man ihn ab und kennt ihn nicht mehr; bekommt er den Nobelpreis, so ist die ganze Nation mit ihm und in ihm geehrt. Es lebe Nikaragua –!

Und je kleiner das Land, desto größer und stärker das Nationalgefühl. Man muß die erhitzten Köpfe der Elsässer sehen, für die bekanntlich ein besonderer Kosmos geschaffen werden muß, damit sie endlich Ruhe geben, und auch der zerschellte noch an ihren dicken Schädeln. Wird so eine Gruppe aber selbständig, dann entfalten sich im Winde neue Fahnen, die noch eine halbe Stunde vorher nicht dagewesen sind, und es ist zu fragen, woher nur plötzlich – nach Versailles – alle die Wappen, Marken, Embleme, Farben und Titel gekommen sind. Wer erfindet das? Wer stellt das so schnell her? Gibt es ein Warenhaus für kleine Staaten?

Ja, es gibt eines. Seine Direktricen sind die Dummheit und die Kollektiveitelkeit der Menschen, und was wäre der kleine Angestellte, wenn er nicht auf etwas stolz sein könnte, das sowieso sein eigen ist, und das auf ihm lastet! Er nimmt das Gefühl, das ihm das Nationalbewußtsein verschafft, als Abschlagszahlung aufs Gehalt an und ist sehr glücklich. Der ihn bezahlende Chef auch.

Für die Massen ist die Nation der Inbegriff alles Mystischen, Imponderabilen, schlechthin Unbegreiflichen – auf diesem Gebiet ist alles erlaubt und kann alles verboten sein, hier wachsen die großen Männer, deren Größe an der Kleinheit der Umstehenden gemessen wird. Die Nation ist der Abfalleimer aller Gefühle, die man anderswo nicht unterbringen kann.

Daher hat jener Mörder vor seinem Tode so gerufen. Da stand das Schafott, auf dem er in einer Minute, ein blutiger Sack, zurückgesunken sein wird – hier stand er; es war ein großer Moment, und wie hätte er den besser feiern können als durch jenen Ruf, der an sein Innerstes rührte: durch den brüllenden Schrei der Kollektivität! Rief er um Hilfe? Wollte er ausdrücken, daß er zum Ruhme Belgiens falle? Wagte er es, sich den Kriegshämmeln gleichzuwähnen, die gefallen waren, ohne gemordet zu haben? Nichts davon: er ging in der alleinseligmachenden Nation auf, wie der Gläubige in seiner Kirche.

Man wird in ein paar hundert Jahren nicht mehr verstehen, was die wasserspülende Rolle des Staates mit den Gefühlen zu tun gehabt hat – so, wie man sich umgekehrt heute sehr gut eine Kirche ohne weltliche Macht vorstellen kann. Einmal werden Völker unter einer gemeinsamen Rechtsordnung nebeneinander leben, wie heute die Individuen eines Staates; diese Völker werden sich entzweien und versöhnen, hier und da ihre Rechtsordnung blutig durchbrechen – aber es wird eine internationale Rechtsordnung da sein, wie heute für die Individuen eine nationale da ist, die nicht dadurch ad absurdum geführt ist, daß sie gebrochen werden kann. Und die niedern Interessen des Patriotismus, heute zur Religion erhoben, werden einmal nicht mehr bestehen. Aber bis dahin wird noch viel Blut die Hälse herunterlaufen.

Sei gegrüßt, Lucien Beyen –! Du hast, aus blinder Nacht, den letzten Ruf einer irren und geistesschwach gemachten Menschheit ausgestoßen; jenen Ruf, den sie hervorgurgelt, wenn ihr nichts mehr einfällt, wenn sie Schändliches zu tun im Begriffe ist, oder wenn an ihr schändlich gehandelt wird – den Ruf der Lämmer und der Schlächter, der Feldprediger und der Generale, der verkleideten Bankiers und der verkleideten Proletarier:

»Hurra! – Evviva! – Vive! – Three cheers! – Hip hip! – Es lebe die Nation!«


 << zurück weiter >>