Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Iphofen, Paris und die umliegenden kleinen Dörfer

Museum Carnavalet

Im Museum Carnavalet zu Paris liegen kleine Überreste der großen französischen Revolution. Nicht die feierlichen Prunkstücke, wie die Erklärung der Menschenrechte, die im Musée des Archives zu sehen ist, kein Tron und kein Herrscherstab, ganz, ganz etwas andres.

Im Museum Carnavalet kann man sehen, wie diese Revolution einmal Sache eines ganzen Volkes gewesen ist; sie wurde nicht von »landfremden Elementen angezettelt«, sondern sie wuchs elementar aus dem Willen einer Nation heraus. Wie sorgfältig die geistige Vorbereitung dieser Umwälzung gewesen, wie tief das Gefühl einer Veränderung in das allgemeine Bewußtsein gedrungen sein muß, dafür gibt es ein untrügliches Zeichen: was sich der Bürger zuhause an Aktualitäten aufhängt, daran glaubt er wirklich. Und ob sie geglaubt haben!

Bis zu den kleinsten Gebrauchsgegenständen hinunter ging die rote Welle: ein Thermometer mit einer Freiheitsmütze, Tasten, Töpfe, Bucheinbände; gestickt, gepunzt, in Holz geschlagen: Liberté –! Es ist erhaben und spaßig zugleich. Denn welches Gemüt hat sich wohl Ohrringe in Gestalt einer Guillotine ausgedacht, welcher Findige hat dies Instrument als Spielzeug in den Handel gebracht, mit allem Komfort: sogar der Kopf der aufs Brett geschnallten Puppe ist entfernbar … Aber schließlich, ob ein Kind mit Bleisoldaten spielt oder hiermit – das kommt wohl auf eins heraus.

Natürlich fehlten auch die guten Kaufleute nicht, die ihre Schnupftabaksdosen entsprechend aktuell bemalen ließen: einer hat sogar einem Zapfhahn am Faß eine Freiheitsmütze aufgesetzt, und darunter steht:

Je verse la vie et la joie.

Und als alle Welt das Assignatenfieber hatte, gab es eine Tasse mit der Nachbildung eines solchen Scheines und der Inschrift:

Assignat de Cent Baisers. Payable au Porteur.

Und ein Topf als Hochzeitsgeschenk, darauf ist in krumpligen Buchstaben zu lesen:

1791. C'est le moment de faire des enfants.

Erhält sie das Getriebe durch Hunger und durch Liebe …

Ein Zimmerchen weiter wirds ernst. Das Bett der Königin aus dem Temple, ein Kleid der Königin, ein Becher des Königs, ein Spielzeug des Dauphins – schließlich haben ihre Hände einmal auf diesen Sachen geruht … Die Anklageakte gegen den König, aufgeschlagen: »Warum haben Sie die Wachen in den ersten Augusttagen verdoppeln lassen?« Und dahinter seine Antwort. Denn er hatte sich zu verantworten; der trug die Verantwortung. Da liegt sie.

Und ich sehe den Weg, den sie gegangen sind, den grauenvollen und doch so verdienten Weg. Den Weg aus den glänzenden Sälen von Versailles – wo man aus den Fenstern auf den edeln Park, auf die kleinen, verschwiegenen Höfe sah, wo hinter den eingefaßten Scheiben, durch eine Tapetentür erreichbar, der Gipfel des Luxus lag: ein kleiner mit Fliesen belegter Raum, wo die baignoires der Herrschaften aufgestellt waren –, den Weg aus Versailles in die Conciergerie, durch die Tür, wo heute der Frühstücksraum der Advokaten ist, ins Gefängnis. Hinauf die kleine Treppe nach oben, vor das Tribunal. Und wieder herunter und wieder warten. Und von da auf die Place de la Concorde oder die Place de la Nation. Und da war es dann zu Ende.

Nein, da war es noch nicht zu Ende. In der Nähe der Place de la Nation liegt ein Friedhof, ein ganz kleiner Friedhof, der von Picpus. Da hatten sie eine Grube gegraben, und in der Nacht karrte man die Kadaver dorthin, Frauen und Männer durcheinander, wie das gerade lag, und nicht jeder kam zu seinem zuständigen Kopf. Und weil viele Adlige, so auch ein Fürst von Salm-Kyrbourg, darunter waren, haben die Nachkommen dieser Familien den Platz später gekauft und ein paar Gedenksteine dorthin setzen lassen, gerade über der Grube. Heute ist, in des Wortes wahrster Bedeutung, Gras darüber gewachsen, die Vögel singen, der Wind raschelt, und die Pförtnersfrau bekommt ein Trinkgeld. Und unten liegen sie, 1306 an der Zahl. So ging der Weg.

Im Museum Carnavalet kann man noch vieles sehen. Ein Luftballonzimmer ist da, mit Tellern und Teppichen, die das neue Wunder darstellen. Auf einem Porzellan enteilt eine Art fliegendes Bett mit einem Baldachin, und unten staunt ein Mädchen. Darunter steht: à dieu. Und viele Bilder Marats liegen in einer Vitrine zusammen, und man kann sehen, wie unähnlich sie alle untereinander sind, und doch wie ähnlich, und wieviel Bilder man gebraucht, um aus ihnen das Bild des einen Marat zu kristallisieren. Und Pendülen und Nippes sind zu sehen, in denen sich die Bürgerwut Europas gegen diese Horde da in Frankreich austobte, ein antibolschewistisches Kunstgewerbe, Hohn und Spott und Abscheu einer untergehenden Kaste.

Und man sieht ein Pastell von Boucher, ganz zart, nur ein weiches Frauenbein auf einem hellblauen Bett, nur das Bein, und kein Name und nichts. Und an der Wand die Frau von Sévigné, die hier einmal gewohnt hat, vollbusig, sehr fein, – mit einem lieblich-schiefen Lächeln, wie unsre Claire Waldoff. Und auf einem kleinen Ölgemälde steigt Voltaire, der große Voltaire, in die Hosen, bekläfft von einem Hündchen, und hinter dem Licht Europas steht ehrfürchtig ein Schreiber und wartet auf das Lever.

Das ist ein hübsches Museum. Und ich dachte mir so, wie das wohl wäre, wenn wir ein solches Museum von 1918 hätten …

Ein paar Importen; eine Kognakflasche; Noskes Revolver und geklebter Schlips; Akten, Zeitungen und Zettel. »Einigkeit und Recht und Freiheit! Friedrich Ebert.« »Die Hand soll verdorren, welche … Philipp Scheidemann.« »Wir haben die Republik vor dem Umsturz gerettet. Ministerpräsident Hirsch.« »In Anbetracht aller Umstände konnten wir nicht … Konrad Haenisch.« Und eine leere Zigarrenkiste.

Das wäre das Museum der deutschen Revolution.

Bunte Gläser

Bei den französischen Antiquaren in der Rue des Saints-Pères sind so schöne, alte bunte Gläser zu sehen – mögen Sie die auch so gern? Altes böhmisches Glas und rauchiges Glas, eingeschliffene matte Hirsche und Jäger springen um den dicken glasigen Becher herum, man kann mit der Hand die tiefen Konturen nachfühlen … Und man kann sich an den Farben freuen. Die Antiquare sind im allgemeinen recht nette Leute – wenn sie erst heraushaben, daß man garantiert eine Queen Aenn nicht von einem Provangsakrug unterscheiden kann, geht es ganz gut. Und immer, wenn wir uns darüber geeinigt haben, daß ein Stück » de l'époque« nicht unter Viertausend zu haben ist, und ich dann sagen muß: »Ja, leider bin ich kein indischer Schriftsteller mit einem Gewand; und daß ich in Czernowitz geboren bin, ist auch nur so ein frommer Wunsch der Deutschen Tageszeitung« –, dann nehme ich anstandshalber, und obgleich das gar nicht nötig ist, ein buntes Glas mit. Da stehen sie. Man kann sie ans Licht halten und durchgucken.

Mattes Gelb. Die ganze Straße ist gelb, die Wolken auch, die Hunde auch. Einer steht an einer Ecke und macht etwas. Gelb auf Gelb kann man nicht sehen – der Eckstein bleibt leer, ein seltsames Naturspiel. Drüben, am Bretterzaun vom Neubau, ist ein Riesenplakat hingepinselt: » Chacun son tour« von Charles Humbert, dem Senator, den Poincaré vor das Kriegsgericht und in den Graben von Vincennes haben wollte, wo man im Krieg die Spione erschossen hat. Humbert, der viel Geld und viel Kopf hatte, hielt durch. Vorn im Buch ist er unter seinen Granaten und Geschossen abgebildet, die er immer wieder für Frankreich gefordert hat; wie ein dicker, guter Papa sieht er auf seine konischen Kinder herunter. Die flogen davon, in Menschenfleisch zum Beispiel – Papa blieb da. Der Umschlag auf dem Buchdeckelplakat am Zaun ist mächtig, häßlichgelb, schwefelgelb, gemeingelb – das ist so bei politischen Büchern. » Chacun son tour« – nur nicht drängeln, mal kommt jeder ran. Nein, manche kommen nicht mehr dran. Manche können sich nicht mehr rühren, bleiben stumm, faulen verscharrt oder lebendig im Gefängnis. Wie traurig die Straße auf einmal aussieht – das ist kein schönes Glas. Ein andres!

Rubinrot. Ah, das ist eine wollüstige Sache. Der Himmel blutend rot, wie wenn der liebe Gott das Jüngste Gericht für kleine Leute herbestellt hätte: pompös, donnernd, so recht etwas fürs Volk. Sehr hübsch, sehr nett, lieber Gott! Drüben an der Ecke steht eine fette, kleine Dame mit roten Strümpfen, tiefroten Schuhen, vor ihr ein junger Mann, der ihr einen unpassenden Witz erzählt, sie lacht so rot-zahnig. Wird sie rot? Not gegen Not hebt sich auf – sie wird nicht rot. Unten verkauft einer eine Zeitung, die hat eine rote Überschrift. Aber seltsam: auch dieses sozialdemokratische Organ ist nicht rot. Es gibt vielerlei Rots auf der Welt: venetianisches Rot, böhmisches Rot – und ein mild gefärbtes Rosa, das gern zum Abendrot und zur Bildung regierungsfreundlicher Oppositionsparteien verwendet wird. Vorwärts, ein andres Glas!

Blau. Da ist zu sehen: ein unveränderter Himmel, bläuliche, leicht besoffene Wolken, ein blaues Pferd, ein ganz angeblauter Mann – es wird ein Deutscher sein, der Paris besucht, ganz berauscht, sicherlich ist es ein Herr Landsmann, man kann das daran erkennen, daß er so aussieht, als warte er immer auf etwas, was noch kommen soll hier in Paris … Es kommt aber nichts. »Blau ist die Liebe – blau sind die Polster im Puff« singt schon der große Marcellus O. Schiffer. Da kommt so eine – der Deutsche ihr gleich nach. Eine französische Zeitung hat neulich so definiert: » La Française se donne – l'Allemande s'y prête.« (Was etwa zu übersetzen wäre: »Die Französin gibt sich hin, die Deutsche gibt sich dazu her« – Krach, Protest sämtlicher deutscher Frauenvereine, Ausweisung des Störenfrieds, Glocke des Präsidenten. Übrigens ist das Wort falsch.) Und wer kommt denn da? Blau gegen Blau hebt sich auf: das ist Joachim Ringelnatz – ich sehe gar nichts mehr.

So kann man sich mit bunten Gläsern stundenlang vergnügen. Aber gestern habe ich eins gekauft, freilich nur ein gegossenes – das ist so kommun, ich mags Ihnen gar nicht zeigen. Aber es ist doch merkwürdig. Es ist schwarz. Es ist, wie es schon in den Wirtinnenversen heißt: es ist aus schwarzem Glase. Ich gehe damit im Zimmer umher und gucke in den Spiegel. Und da stehe ich und warte auf die Honorare der deutschen Zeitungen, die mich aus der »Weltbühne« nachdrucken. Und da kann ich schwarz werden.

Der Sultan im Theater

Ich und der Sultan von Marokko waren neulich abend im Théâtre de la Madeleine – ich heiße Peter, er heißt Moulay-Youssef. Wir waren da, um uns eine Galavorstellung von »Manneslist« anzusehen, ein arabisches Stück von Herrn Theaterautor Si Kaddour Ben-Ghabrit. Der Stückeverfasser war auch da und wimmelte aufgeregt im Turban, im Burnus und im Theater umher: ein älterer Mann mit harten, schlauen Augen und einem Spitzbärtchen.

Unten, am Eingang, standen die Statisten der Garde Républicaine, mit Roßhaaren auf dem Kopf und je einem Säbel in der Hand. Auch eine arabische Kapelle war vorhanden, in bunten Röcken. Und die beste Gesellschaft von Paris im Sommer, und das ist nicht die beste.

Um neun Uhr zehn erschien der Sultan, der nach seinem Triumph über Abd el Krim besonders angeregt aussah, und begab sich elastischen Schrittes. Hinter ihm eine arabische Suite, aber auch europäische Männer im schwarzen Rock, mit bedeutenden Glatzen und Röllchen mit großen, goldnen Knöpfen. Auch sah ich mit meinen eigenen Augen ein menschliches Wesen, das trug zum Smoking einen weißen Schlips. Es war furchtbar, meine Begleiterin mußte gelabt werden.

In der ersten Reihe des ersten Ranges nahm der Sultan Platz, er hatte einen wundervollen Diamantring am Finger. Neben ihm saß der Gouverneur, Herr Steeg, und als die kleinen Prinzen gereicht wurden, zog der Gouverneur seine goldne Uhr mit Schnappdeckel und hielt sie dem prinzlichen Kleinen ans Ohr, einem ältern Sanitätsrat nicht unähnlich; das ganze so recht ein herziges Bild von der Versöhnung der Völker.

In der Suite ausgezeichnete Köpfe; reiche Araber erinnern stets an erfolgreiche Bankdirektoren voll außerordentlicher Gewitztheit. Auch ein ebenholzschwarzer Mohr saß im Gefolge, eingesunken in seine weißen Gewänder wie ein schwammiger Pilz. Keine Frauen – mit Ausnahme eines Admirals, der, gehalten von riesigen Schwalbennestern auf seinen Schultern, neben dem Sultan saß, eine herrlich anzusehende Figur aus einem Roman Claude Farrères: Sinneslust und Admiral in einem. Unten im Foyer war er durch die Massen geschritten, ehrfurchtsvoll hatten sie ihm Platz gemacht, und ein fetter Kaufmann hatte ihm so bejahend und bewundernd nachgesehen, wie fette Kaufleute überall Admiralen nachzusehen pflegen. Inzwischen fing das Stück an.

Der reiche und vornehme Händler Seif-Eddin aus Bagdad, der seit sechs Monaten in Fez Handel treibt, ist an Frauenerfolge gewohnt und bildet sich ein, Männerlist stehe über Frauenlist. Er hat sogar in arabischen Lettern diese seine Überzeugung in seinem Laden anschlagen lassen. Hei! das läßt den Dichter nicht ruhen. Er schickte viele verkleidete französische Schauspieler und Schauspielerinnen aus den Kulissen heraus, die den Tollkühnen durch Belehrung, durch List und durch die Nase von dieser seiner Überzeugung abzubringen hatten. Aber vergebens! Das Stück hört nicht auf und hört nicht auf, und wenn sie nicht gestorben sind, dann spielen sie heute noch.

Der Sultan bekam Eiswasser zu trinken, die bunte Kapelle spielte so falsch, daß sie mich an die Sterndampfer meiner Heimat erinnerte, und drei empörend schöne Frauen aus dem Orient schritten durchs Publikum und ließen die Geblüter aufkochen. Und dann fing es wieder an, und bei den besonders lehrreichen Stellen klatschten die Leute, und am Schluß des achten Bildes begannen die Araber, in hohen Kehlkopftönen zu trillern: »Ulululululululu –!« Die anwesenden Europäer kamen sich maßlos europäisch vor, denn sie tun so etwas bei Premieren nicht.

Was es mit dem Besuch des Sultans in Paris auf sich hat, mögen die Politiker entscheiden. Ich für mein Panterteil hatte den Eindruck, einer Kindervorstellung beizuwohnen, die man einem wohlgelittenen, weil artigen Knaben, gegeben hatte. Und aber in dreihundert Jahren will ich desselben Weges fahren – und dann wird vielleicht ein weißer Sultan zu einem gelben Volk huldvollst eingeladen, darf dort ein Museum einweihen, bekommt ein Festessen, und abends sitzt er im Theater, und ein freundlicher Japaner hält einem kleinen weißen Prinzen aus dem Abendlande einen Apparat ans Ohr. Kolonialvölker soll man nett behandeln.

Clément Vautel

Fremde machen sich häufig falsche Vorstellungen von Ländern, deren Vertreter sie nur bei sich zu Gesicht bekommen haben. Daher die merkwürdige Tatsache, daß es in allen europäischen Staaten Leute gibt, die einen enormen Auslandskredit haben, in ihrem Vaterlande aber nichts gelten, und es sind gar keine Propheten. Wüßten die Deutschen, wen zum Beispiel die Franzosen von Deutschen kennen und schätzen, sie staunten. Und auch die Deutschen sind leicht geneigt, kleine Kreise und noch kleinere Leute für »Frankreich« zu halten, obgleich sich in Frankreich niemand um die kümmert. Nun kann man immer einen großen Künstler propagieren, auch wenn er unbekannt ist – in der Politik und in der Kulturbeschreibung ists schon gefährlicher. Man muß um die Gewichtsverteilung Bescheid wissen und nicht den Äußerungen von Außenseitern eine Bedeutung beilegen, die ihnen nicht zukommt. Der gebildete André Germain kann in Frankreich schreiben, was er lustig ist – irgendeinen Einfluß hat das überhaupt nicht. Das mag bedauernswert sein, aber es ist so, und man muß es wissen. Wer beeinflußt nun zum Beispiel die große Masse in Frankreich?

Jeden Tag, den Gott scheinen läßt, geht die Sonne in Paris auf, und wenn man sie nicht immer steht, so liegt das am Wetter. Das »Journal« aber sieht man immer, und pünktlich wie das himmlische Gestirn erscheint dort, jeden Tag sichtbar, » Mon Film« von Clément Vautel, ein kleiner Artikel auf der ersten Seite, ein Glößchen, eine Handspanne lang, Jeden Morgen.

Dieser Mann ist der lebendig gewordene Durchschnittsfranzose, aus Belgien. Die Pariser Butterhändler schreiben keine Feuilletons – schrieben sie aber welche, so schrieben sie genau so: vernünftig, nicht überspannt, klar an Verstand und kurz an Verstand, im Umkreis der heimischen Rindsbrühe richtig tippend, und todsicher falsch, wenn das Ziel ein bißchen weiter entfernt liegt. Das ist Herr Vautel, aus Belgien.

Jahraus, jahrein beschäftigt sich » Mon Film« mit dem, was das kleinbürgerliche Herz bewegt: mit der Steuer, mit der Erhöhung der Fahrpreise, mit den vielen Fremden in Paris, mit der Steuer, mit der schlechten Beleuchtung in manchen Straßen, mit dem letzten Mord, mit der Steuer, mit dem Parlament. Und immer gemäßigt, immer hübsch die Mitte haltend, immer das Nächste scharf ins Auge fassend, pathetisch und pathoslos, immer sinnfällig und fast immer oberflächlich. Diese Artikelchen sind nicht einmal besonders gut geschrieben, aber sie sind platt, da gibt es keine Rätsel, und was die Sache etwa komplizieren würde, wird ausgelassen. Auf diese Weise kann nichts geschehen. Das ist aber auch nicht nötig.

Denn Clément Vautel spricht täglich zu etwa einer Million Leser. Und um das durchführen zu können, muß man tun, was in jenem Gleichnis Buddhas von einem Büßer erzählt wird, der einstmals ein Wagner gewesen war und nun einem ehemaligen Kollegen zusah, wie der ein Rad reparierte. »Möchte ers doch soundso machen!« dachte der Büßer mit aller Kraft. Und der Schmied am Rad tat so. Da rief der Büßer frohlockend: »Er hobelt mir recht aus dem Herzen!« Vautel hobelt den Millionen aus dem Herzen.

Um populär zu werden, kann man seine eigene Meinung behalten. Um populär zu bleiben, weniger. Vautel und seine Leser – sie sind ein Herz und eine Seele. Er braucht vielleicht nicht einmal unters Joch zu kriechen: der Mann empfindet so gewinnbringend.

Und peinlich wird die Sache nur, wenn sich der Duval-Koch vermißt, besseren Herrschaften ins Handwerk zu pfuschen. Der Mann hat Nerven wie eine Schildkröte, und wenn er über moderne Kunst schreibt, dann wird einem die Orthographie sauer. Es ist nicht hübsch anzusehen, wie der arrivierte Groß-Schriftsteller jungen Leuten, die noch eine Flamme im Herzen tragen, strafende Klapse austeilt. Aber das tut er wohl nicht nur in seiner Eigenschaft als Zeitungsmann, sondern als Künstler. Denn Clément Vautel schreibt auch Romane.

» Mon Curé chez les Riches« steht heute, wenns wahr ist, im 335. Tausend. Es ist aber nicht wahr. Denn die Auflagenziffer auf dem französischen Buchdeckel ist erlaubte Reklame. Wie sieht nun so etwas aus –?

» Mon Curé« hat den Krieg als Krankenträger und Sanitäter mitgemacht, nun sitzt er wieder in seinem Dorf und predigt den Armen. Und zwar in einer Sprache, die ein Teil seiner kirchlichen Vorgesetzten ganz und gar nicht billigt: er spricht etwas, das unserm Kommißjargon entspricht, » l'argot des poilus«, eine sehr ausgebildete und kräftige Sprache. Schickt sich das für einen Geistlichen? Nichts und niemand kann ihn daran hindern. Beschwerden beim Erzbischof, Probepredigt in der Kathedrale, er darf fortfahren. Und wird von den Neureichen, die das alte Schloß des guten Grafen gekauft haben, herangezogen, um den Millionär in seinem Wahlkampf zu unterstützen, was er nur mit halber Kraft tut; der junge Sohn des alten Grafen entführt die Millionärsfrau, einen ehemaligen Star des » Casino de Paris«, der gute Curé holt sie beide zurück, der Millionär wird Deputé, überfährt dem guten Curé seinen guten Hund, der beerdigt den treuen Kameraden feierlich im Garten und fliegt wegen dieses Sakrilegs in ein Kloster. Aus.

Davon ist nicht eine Seite ins Deutsche zu übertragen. Nicht etwa, weil wir kein Schützengrabendeutsch hätten (»Meine Herren! Da haben wir vielleicht Fettlebe gemacht –!«), sondern weil die Stabilität des französischen Volkskörpers viel größer ist als die des unseren, weil die Begriffe fester stehen, und was hier im Leben eine Sensation an Kühnheit ist, würde im neuen Deutschland nur ein Achselzucken verursachen. Der Riesenerfolg erklärt sich so:

In diesem Buch wird zunächst auf sämtlichen Drüsen gefingert, die der Mensch hat. Essen, Trinken, Glaubenstreue, Behaglichkeit, Liebe zum Tier, Patriotismus, Kriegserinnerungen, soziale Bewegungen, Spott über die Neureichen, erschütternde Schilderung der alten depossedierten Royalisten, kirchliche Gefühle – und eine Erotik, die viel weiter geht als das gleiche Ingredienz im deutschen Familienroman, weil französische Sprache und Überlieferung eine größere Freiheit gestatten.

Und das Buch ist platt und ohne jeden festen Standpunkt: es entspricht also allen Erfordernissen, die zu einem großen Erfolg nötig sind.

Es ist nicht katholisch, und es ist nicht antikatholisch. Es spielt in gerissener Weise einen sentimentalen Christus gegen den gefrorenen Christus der großen Kathedralen aus, ohne nun etwa wieder ins Urchristentum zu verfallen; die Kirche darf schon Helferin des Kapitals bleiben, aber mit Maß und Ziel, und Wohltun bringt Zinsen; und ein und das andere Mal entwischen dem tüchtigen Autor merkwürdige Selbstbekenntnisse. Von der Predigt des guten, ungehobelten, herzensguten Curé: »Diese flammende und roh zupackende Beredsamkeit ist nicht mehr von unserer Zeit, die die gemächlichen Banalitäten liebt, die vorsichtigen Euphemismen, das Arrangement mit den nun einmal nötigen Heucheleien …« Und diese Zeit schafft sich ihre Tagesschriftsteller. Die haben Erfolg, wenn sie Bücher schreiben, die noch im letzten Komma für Frauen geschrieben sind … » Mais que voulez-vous? Il faut marcher et même courir avec son temps!« Und nach Rührungs- und Ehebruchsszenen und ernsten soziologischen Diskussionen, die etwa, während draußen die Internationale gesungen wird, so enden: »Verrückte!« spricht der sterbende royalistische Graf; »Dummköpfe!« sagt der republikanisch-liberale Arzt; »Unglückliche!« murmelt der Curé – nach alledem und in alledem das Porträt eines Schriftstellers, den man sich zum Wahlkampf bestellen kann wie eine Droschke:

»Seit dreißig Jahren und mehr schrieb er für sehr wenig Geld in den Zeitungen, die die Religion, die Familie und vor allem das Privateigentum verteidigten. So, wie er da war, mit seinen verbrauchten Zügen, seinen übernächtigen Augen, seinem Gummikragen und seinem traurigen Gesichtsausdruck, war er der Typus des Zeitungsschreibers, der sein ganzes Leben lang gehungert hatte – bei seiner Arbeit für die Reichen.« Das ist eine Figur aus diesem Roman. Und Herr Vautel.

Es gibt auch schon eine Fortsetzung: » Mon Curé chez les Pauvres«, und » Madame ne veut pas d'Enfants« ziert alle Bahnhöfe.

» Mon Curé chez les Riches« ist dramatisiert und wird allabendlich im alten Theater der Sarah Bernhard gespielt, das an der Place du Châtelet liegt. Und auch hier hat Vautel seinen Erfolg, wie er ihn immer hat, weil er genau ist wie seine Leser und nur gerade um so viel klüger, daß es keinen reizt.

Nicht nur Gerhart Hauptmann repräsentiert die deutsche Literatur, sondern auch die Herren Herzog und Hoecker. Und nicht nur Marcel Prévost repräsentiert die französische Literatur (Exportbräu), und nicht nur Marcel Proust (nicht versandfähig), sondern vor allem die kleinen Leute wie Vautel.

Wenn die französische Literatur ein Haus ist – Proust wohnt in einem Seitenflügel à part; die Akademie in der ersten Etage; Pierre Hamp wäscht in der Küche Geschirr; Valéry Larbaud geht im Vorgarten spazieren; Daudet steckt den Kopf zum Fenster heraus und schreit, daß man glaubt, das ganze Haus gehöre ihm allein; Maurras ist Schornsteinfeger und ruft fortwährend: »Feurio!«; Maurice Rostand wohnt nach hinten, und Paul Morand hat eine sturmfreie Bude –: wenn die französische Literatur ein Haus ist, dann sitzt vorn in der Portierloge ein Mann, mit rundem, glattrasiertem Gesicht und breiten Naslöchern, fast wie ein verkrachter Schauspieler anzusehen. Sie klingeln, Sie wollen eintreten, Sie müssen an ihm vorbei. Es ist Clément Vautel, der Nationalconcierge des französischen Volkes.

Die Einsamen

In jeder großen Stadt gibt es einen Ohrenschmalzsalon, einen schön ausgestatteten Laden, in dem Leute mit zwei Gummischläuchen an den Ohren dasitzen und auf etwas horchen.

Das gab es schon vor dem Radio; unten im Keller brodeln die Grammophone und trichtern Musik ins Volk. »8576 Hans, was machst du denn mit deinem Knie –?« und: »5611 C'est moi qui fais la vaisselle –«. Das ist international. In Paris zum Beispiel sieht es so aus:

Abends gegen acht Uhr, wenn alle ordentlichen Leute essen, weht der Boulevard ein paar Einsame in einen Musikladen. Sie kaufen beim Kustos eilig ihre Marken, setzen sich an die Musiktische und blättern in den Katalogen. Vor ihnen ist ein rechteckiger Spiegel, in dem sehen sie sich. Dann gehts los. Im Spiegel kann ich sie alle auch sehen.

Zuhörende Menschen haben einen starken Willensausdruck in den Augen; es ist, als ob sie bei der Empfängnis, nach dem Rezept Whitemans, dem Fremden etwas Eigenes entgegensetzen, um nicht unterzugehen, – die Frauen sehen meist weicher drein. Da horchen sie.

Manche summen mit und nicken bekräftigend an den Kraftstellen, fröhlich feixend, wenn sie wiedererkennen, was ihnen da vorgemacht wird. In einer englischen Revue gab es einmal eine solche Grammophonszene – immer kam einer herein, setzte sich vor seinen Kasten und summte leise mit; zum Schluß heulte die ganze Bühne. So laut ist es hier nicht. Nur manchmal hört man aus den Schläuchen einen Tenor krähen, einen Alt schmettern, eine Dame sengend zischen. So dringt Musik ins Volk.

Es ist wohl ein Stück metaphysischen Bedürfnisses, daß sie hier sitzen. Wo sollten sie sonst auch bleiben? Zu Hause –? Ich sehe jedes der kleinen möblierten Zimmer, so schwarz, so langweilig, so entsetzlich einsam. Hier kann man ausspannen, sich ein bißchen verlieren, hier ist Zusammenhang, Menschennähe, die ganze musizierende Welt. Neue Schlager und alte Weisen, Orchesterkonzert und rührselige Lieder, Bekräftigung, Trost und Stütze.

Ich für meinen Teil lasse für fünfundzwanzig Centimes Hawain in mich hineinweinen, und bis zur Erschlaffung Jazz, man versteht nachher Politik und Geschäfte viel besser. Tote singen, verstorbene normannische Volkssänger, und wenn ich Aufschluß über das kleine französische Mädchen haben will, dann bestelle ich Lieder aus den Variétés, » Si l'on fait le même chemin« und » Pars!«, mein Lieblingslied. Hier klingt die Seele eines Volkes, – eines Teils gewiß. Leute kommen und gehen, der Boulevard speit sie aus und verschluckt sie wieder, mit hochgezogenen Augenbrauen sitzen sie alle da, Fremde und Franzosen, und horchen. Auf Musik, auf ihre Zeit, auf sich selbst.

Riviera

Es gibt so viel süße Schilderungen der französischen Riviera; sauer macht lustig, warum soll man nicht einmal …

*

Die Riviera liegt da und sieht aus.

Sie ist die zweidimensionalste Landschaft, die sich denken läßt: für den Küstendampferpassagier ist sie ein Traum, für den, der auf einer Klippe steht und in die Bucht hineinsieht, ein Paradies – man darf nur nicht in das Paradies hineingehen. Dann ist alles aus. Die französische Riviera ist nur gemalt, und zwar auf Blech.

Da, wo freie Plätze und Sanatorien für arbeitende Menschen stehen sollten, liegen Privatbesitzungen, die Gott im Zorn geschaffen hat. Die Flora erinnert an einen verkrüppelten Grunewald, in den sich einige unglückliche Palmen verirrt haben; sie stehen da herum, sich mit den übrigen Bäumen unterhalten können sie nicht, und nun blühen sie unentwegt afrikanisch vor sich hin. Auch sieht man Agaven mit fetten, harten Blättern, auf denen, mit dem Messer geritzt, eingewachsen zu lesen steht: » Yvonne et son Alphonse 1925.«

Abends sieht die Landschaft aus wie die Kulisse einer Operette beim Finale des zweiten Aktes: kleine Lichtpünktchen zwinkern an den Uferstraßen, die Konturen liegen in tiefem Schwarz-Blau gebettet, und während sich das zerzankte Paar mit den rudernden Armen flehend-verliebt zuwinkt, fällt langsam der Vorhang.

Am Ufer des Meeres zieht sich die » corniche« hin, eine Autostraße, deren Sausen alles mit sich reißt: Stille und Luft und Atmosphäre. Dahinter pfeift die Eisenbahn, denn die ganze Riviera ist nur ein paar Meter breit. Dann kommen die guten Felsen und die schlimmen Häuser.

Hier und da treten die Besitzungen etwas zurück und lassen Platz für staubige Straßen. Wenn ein Kasino dabei steht, ist es eine Ortschaft mit vielen großen Hotels. Diese Hotels sind gar keine Hotels. Sie spielen alle Hotel.

»Von prominenten Gästen der letzten Jahre«, sagt der Hotelprospekt, »sind zu nennen: Der Präsident der französischen Republik, Paul Deschanel; die Prinzessin Luise; die Herzogin von Argyll; Sarah Bernhard … Die große Schauspielerin«, sagt der Prospekt, »saß eines Tages auf einer Loggia in der zweiten Etage, wo man nur den Himmel, Blumen und das Meer sieht; da sagte sie in ihrer poetischen Art, daß man sich hier auf dem Bug eines großen Schiffes wähnte.« Und dann keine Brause im Badezimmer.

Vor der Hoteltür steht ein Portier, der der erste Mann des Unternehmens ist; er ist so mächtig, daß ihn das Los, letzter Mann zu werden, niemals treffen könnte, denn in die Toilettenräume ginge er gar nicht hinein. In der hall stehen Palmen und vielhundertjährige Engländerinnen; wenn man sie herumwirtschaften sieht, so ist immer nur zu fragen: »Wer arbeitet eigentlich in England für alle diese Frauen?« Der Mittelpunkt eines modernen Hotels, in dem Leute ruhen und schlafen wollen, ist eine Musikkapelle.

Man stelle sich vor, jemand sei genötigt, zu Pfingsten in einer Eberswalder Ausspannung zu übernachten; zu Hause wird er dann davon erzählen, wie er nachts beständig vom Gröhlen der Kutscher und von einem Orchestrion gestört worden sei. Ähnliches erlebt er in einem modernen Hotel, nur ist es an der Riviera um eine Kleinigkeit teurer, dafür ist aber das Essen in Eberswalde besser. Natürlich darf man nicht vergessen, daß in der Ausspannung keine vorgedruckte Speisekarte auf dem Tisch liegt; wenn es eine dünne Suppe, ein Pastetchen, bejahrten Fisch und ein bejammernswertes Huhn mit Kartoffeln gibt, so steht das Menü so aus:

Potage à la Potage
Vol-au-Vent à la Valéry
Sole à la Reine de Portugal
Volaille à la Poule
Pommes à la Pomme
Fruits

Der letzte Plural ist eine Übertreibung.

Dazu spielt das Orchester in das Vichy-Wasser hinein, das sich die Engländer in den Magen gießen, es gluckert empört, wenn es unten ankommt, und schwappt leise im Takt der Musik. Diese Musik der französischen Kapellen, die Jazz spielen, hört sich an, wie wenn einer mit halbwegs richtiger Aussprache Englisch vom Blatt liest, ohne ein Wort zu verstehen. Erst, wenn sie den aktuellen Walzer aus der »Lustigen Witwe« zersägen, fühlen sie sich wieder im nationalen Element.

Je schlechter das Essen, desto lieblicher der maître d'hôtel, der sich über mich wie über einen Kranken beugt: ob es mir denn schmecke, und ob es mir munde, und ob ich zufrieden sei … Lieber Gott, gib mir doch den Mut, daß ich ihm ein Mal, nur ein einziges Mal, mit der Gabel in den Bauch pieke …!

Es sind viele Deutsche da. Sie haben ein bißchen Angst vor der feinen Umgebung, und das sollen sie ja wohl auch. Sie sind auch unsicher vor den Fremden: den Franzosen, den Amerikanern, den Engländern – aber wenn sie merken, daß sie es mit Deutschen zu tun haben, dann entspannen sich ihre Glieder, eine leichte vertrauliche Frechheit steigt in ihnen auf, denn, denken sie mit Recht, was kann an einem schon dran sein, der auch nur ein Deutscher ist! (Diese Familienvertraulichkeit teilen die Deutschen noch mit einer andern Rasse.) Im großen ganzen aber bemühen sie sich, ihr mondaines Leben den illustrierten Zeitschriften anzupassen, in denen es abgebildet ist.

Aus den Hotels können die feinen Leute nur noch in ihre Autos steigen, die, lang wie ein Haus, vor dem Haus brummen. Einen Schritt darüber hinaus, und sie stapfen in Staub, ungepflegten Wegen, an grauenvollen Straßenfronten vorüber – denn die Riviera ist dreckig, ohne pittoresk zu sein: unmalerischer Schmutz. Man hat in allen Ortschaften das Gefühl, hinter Filmkulissen zu stehen; kein Mensch glaubt daran, die einheimischen Komparsen nicht, die Fremden eigentlich auch nicht, sie machen aber ein krampfhaft vergnügtes Gesicht und wagen nicht, sich einzugestehen, daß es an hundert andern Küsten schöner, weiter, kräftiger und naturhafter ist. Sie erliegen rettungslos der Zwangsvorstellung »Riviera«. Der Höhepunkt dieser fixen Idee ist Monte Carlo.

Monte Carlo ist ein frisch erhaltener Naturschutzpark aus dem Jahre 1880. Es ist ein lebendiger Anachronismus; ich war versucht, die Menschen anzufassen und an ihren Haaren zu ziehen, ob sie auch wirklich und wahrhaftig echt sind und nicht zu Staub zerfallen, wenn man sie anrührt.

Also das ist das Paradies, wo in unsrer Jugendzeit die Defraudanten mit »Weibern und Champagner« ihr Geld durchbrachten! So blödsinnig fingen sie das an! so völlig von Gott und allen guten Geistern verlassen! Da ist der kleine Park, in dem man verzweiflungsvoll umherzuirren hatte, wenn alles hin war, an diese Palmen konnte man sich hängen, von diesen Felsen herunterstürzen, über diese Grasflächen knallte abends der kleine Schuß, der einem verpfuschten Leben … heiliger Lokal-Anzeiger!

Die Spielsäle sehen aus wie das selige Palais de Danse – gequollene Ornamente gerinnen an den Wänden, Puttengel stoßen mit Recht in vergoldete Posaunen, und ölgemalene Gemälde zeigen an, wovon unsere Väter nachts geträumt haben, wenn Mutter schon, mit aufgesteckten Zöpfen, schlief. An den Tischen spielen sie.

Spieler sind auf der ganzen Welt gleich. Hier muß man die Leidenschaft noch durch sechs dividieren, denn wenn sie zehn Francs setzen, dann sind es nur eine Mark und fünfzig, und sowas stört sehr. Auch ist heute die Flucht in die Romantik des Spieles minder groß als damals, als dein Papa und deine Mama hierher mit dir ihre Hochzeitsreise machten: Heereslieferanten, Kriegsgewinnler, Börsenspieler, Inflationisten: es gibt heute so viele Monte Carlos! Viele Spielende tragen in Bücherchen ein, was die kleine Kugel zusammenkugelt – und es ist besonders lustig, die Damens über ihre Kurven gebeugt zu sehen; sie haben keinen Schimmer von Wahrscheinlichkeitsrechnung, richten sich aber streng nach ihr. Auf diese Weise erzielt die Bank ihren Umsatz.

Die Fassade des Kasinos in Monte Carlo stammt von Granier, dem Erbauer der Pariser Oper. Diese Fassade sieht aus …

»Herr Graf, was denken Sie von mir? Ich bin eine anständige Frau!« – Komm mit mir in den kleinen Pawilljoohn! – Mit schmetternder Faust und mit trocknem Pulver – Wigalaweia – »Ich war mit ihr im Chambre-Séparée, und sie hat mit ihren Diamanten meinen Namen in den Spiegel gekratzt!« – Valse Bleue und Amoureuse, und das von Zigeunern … – Spitzengeriesel und die Dessous und Frou-Frous – Wasmuths Hühneraugenringe in der Uhr – Eine Rokokoquadrille bei Hof – Ein Kuß ohne Schnurrbart ist überhaupt kein Kuß! – »Und sehn Sie wohl, darum ich bin: die Gigerlkönigin!« – Der Herr Kommerzienrat strich sich die braunen Favoris und sah den Besucher ernst durch seinen goldenen Kneifer an – Ein Weib mit so einem Busen! – Ihr Hochzeitsdiner hatte vierundzwanzig Gänge – Ich will auch mal Viere lang fahren! – in Laque und Claque – Schenk ihr doch Dahns Kampf um Rom! – Die königlichen Herrschaften begaben sich mit den Majestäten elastischen Schrittes – »Donnerwetter, Donnerwetter, wir sind Kerle!« – Ihre Tochter ist jetzt im Pensionat in Lausanne – Hier muß noch ein Pendant hin – Erst hat er sie verführt und dann … geschnürt, in Lackstiefeletten – »Eine Dame kann doch nicht Veloziped fahren!« – Spitzentanz und Mondesglanz, und Grete findet ihren, sagen wir, Hans – –

so sieht die Fassade des Kasinos in Monte Carlo aus.

Übrigens erinnert Monte Carlo (1880) stark an Deutschland (1923). Eine leise, kaum wahrnehmbare Wolke von Inflation zieht durch die Promenaden: in den Augen der Leute liegt ein sanft flackernder Wahnsinn, die Menschen gehen in indifferentem Gleichgewicht einher, die Anziehungskraft der Erde funktioniert hier nicht recht, alles ist so anders, und man tut gut daran, seine Uhr festzuhalten. Gemeine Gesichter werden ungeniert dem Tageslicht präsentiert; armselige Hürchen spielen große Welt, und eine fette polnische Riesendame in tiefem Violett geht mit einem Mann einher, der aussieht wie Professor Makart und ebensolchen blonden Vollbart und solche weichen Hände hat … Hier trägt Europa seine alten Moden auf.

Unten, am Meer, zerschießen sie Tauben; der kleine Grasplatz ist ganz besät von den weißen Flaumfederchen. Oben, auf dem Fels, liegt der Besitz des Mannes, für den sie alle an den Tischen arbeiten: das Palais des Fürsten von Monaco, zwei gekreuzte Nullen im schwarzroten Wappen, mit dem Spruch: » Passe ou Manque – Vive la Banque!« Und das tut sie denn auch.

Abends werden die Bürger in großen Autos nach ihren Hotels abgefahren, sie rollen durch die Nacht, sie sind müde, sie haben ein bißchen gewonnen und viel verloren und sind an der Riviera gewesen.

Am Tage aber scheint über alles dies eine leuchtende Sache, die sie alle, alle gepachtet haben, für die sie sich bezahlen lassen, und derentwegen wir hierher gefahren sind: die Sonne.

Während am Alexanderplatz, wo das schönste, weil treffendste Denkmal Berlins gestanden hat: die dicke Berolina, der Modder so hoch aufspritzt, daß die Fußgänger, wenn sie in die erleuchteten Autos hineinsehen, soziale Gefühle bekommen; während es in Kopenhagen in der Forhabningsholmsallee so friert, daß sich der lange Name der Straße vor Kälte zusammenzieht; während in Paris das Schnupfenwetter durch die Fensterritzen zieht und der Kamillentee hoch im Preise steigt; während die Eskimos ihre letzte Lebertranlampe anzünden und Knud Rasmussen lesen, um sich endlich über sich zu informieren –: währenddessen scheint an der Riviera die Sonne. Sie wärmt, sie strahlt; ich trage mich in Hellgrau und Marineblau und habe nur einen Sommerbauch; wenn ich jetzt noch jenen kleinen Schnurrbart hätte, von dem alle Männer glauben, sie glichen darin Adolphe Menjou, während sie in Wahrheit aussehen wie die Verbrecher – welch mondainer Lenz! Der Frühling, der lange Lulatsch, schwebt über die begrünten Hügel, der maître d'hôtel beginnt zu knospen, das verhältnismäßig blaue Meer leuchtet, und sanft vor sich hin neppend verdämmert im Sonnenglast die leuchtende Küste der Riviera.

Es ist heiß in Hamburg

Hamburg, du schönste deutsche Stadt! – »Den zuckenden Fisch an der Nordsee« hat dich Larissa Reisner genannt; Hamburg, Stadt für Männer, Stadt der kraftvollen Arbeit, Stadt auch für Liebende – wie ein kleines Meer lag die Alster (Ozean privat) morgens um halb fünf in der hellblau-violetten Stunde, Mona Lisa stand schon oder noch am Fenster und sah hinaus … Guten Tag, Hamburg.

Es ist heiß in Hamburg. Aber weil hier die Sonne nur auf Abzahlung scheint und immer ein frischer Wind von der See her weht, ist es doch nicht zu heiß. Jakopp stöhnt vor Hitze.

Jakopp ist mir seit alters befreundet; Etappe an Etappe haben wir die große Zeit durchgestanden, und nun ist er irgendetwas Hervorragendes im Hamburger Wasserwerk. Wenn es heiß ist, tut er so, als müsse er selber das Wasser für die ganze Stadt aus dem Boden pumpen – er hat so viel zu tun! Jakopp wohnt am Harvestehuder Weg, der ohne die Rs auszusprechen ist, und durch eine in der Bodenkammer sinnreich angebrachte Hühnerleiter, Symbol des Lebens, kann man ihm aufs Dach steigen. Da sitzen wir denn abends auf dem flachen Haus und sehen in das blaue Bassin und in den altgoldenen Whisky, den Jakopp vermittels eines weiten Havelocks in Helgoland einzukaufen pflegt … Ein rascher Seitenblick belehrt mich, daß Jakopp nicht weit von jenem Stadium ist, wo er glaubt, das Alsterbassin selber angelegt zu haben. Er stöhnt vor Hitze.

Es ist heiß in Hamburg, und vor Hitze gerinnen auch unsere Gespräche. Es ist eine jener Hamburger Unterhaltungen, die, besonders wenn der Stoff peinlich ist, im Schlicksand verlaufen, die Worte fließen spärlich wie Jakoppens Wasser im Sommer, und auf einmal ist es aus. »Wie geht es denn Ihrer Tante?« – »Tje … der Doktor meint, es wäre ja nu nich mehr so … und da wäre es ja denn besser, wenn sie nu gleich …« Aus. Das Wort »Tod« wird taktvoll vermieden, wie überhaupt der Hamburger auch die pathetischen Vorgänge immer ins »Faine« umbiegt. Fein und unerbittlich diesseitig, so ist Hamburg. (Erster Akt Hamlet. Eine hamburgische Dame zur andern: »Bis schetzt gar kein Sinn in.« Erledigt, Herr Shakespeare!) Vorläufig ist es aber mal bannig heiß.

»Weißt du,« sagt Jakopp plötzlich, »daß morgen Onkel Ulrich begraben wird?« Ich weiß es. Onkel Ulrich ist kein betrüblicher Onkel, sondern ein gleichgültiger Onkel – vererbt wird hier nichts, wir haben ihn beide kaum gekannt, und unsere Trauer ist artig-konventionell. »Ich muß hin«, sagt Jakopp. »Bei dieser Hitze –«

Was wird das geben? denke ich. Denn Jakopp neigt, wenn er mit dem Leben zusammenstößt, zu seltsamen Eskapaden; er ist der Mann, der im vorigen Jahr nach Italien nicht ohne seine Bleistiftspitzmaschine reisen konnte; der italienische Zoll geriet fast aus dem Häuschen, alala! – und als schon fünfzehn Mann der Mussolini-Garde die gefährliche Zaubermaschine, Erklärungen heischend, umstanden, da nahm Jakopp einem Faschisten den Bleistift aus der Hand und begann, den Welschen einen vorzuspitzen. Da ließen sie ihn in Ruhe. Was wird das geben? denke ich.

*

Schon frühmorgens gärt es in Jakopps Schlafzimmer.

Zunächst erscheint er in Nachthemd und Zylinder, einem Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Zylinder, Modell 1892, und verschwindet wieder. Ich höre ihn brummeln und schimpfen; es sei zu heiß, und Onkel Ulrich sterbe immer im Sommer, und ob er, Jakopp, bei dieser Hitze überhaupt hinausfahre, das sei noch gar nicht entschieden … Ich höre kaum hin. Und werde erst aufmerksam, als ich ihn zur Korridortür hinausrufen höre: »Agda –« (Jakopps Stützen heißen stets so melodisch) – »Agda! Bringen Sie den Begräbnisüberzieher!« Ich nichts wie raus. Das muß ich sehen.

Agda bringt das Ding wirklich an: es ist ein schmächtiger, schwarzer, traurig vom Bügel weinender Paletot. Jakopp zieht ihn an. Er zieht ihn an, und ich sehe zu, ich gucke einmal, ich gucke zweimal – »Jakopp,« sage ich schüchtern, »was wird das? Wo ist denn –« Jakopp antwortet gar nicht.

Er hat an:

Schwarze Hosen, Oberhemd, Kragen, schwarzen Schlips, jenen Zylinder und den Überzieher. Weiter nichts! Rock und Weste hängen im Schrank und wundern sich.

»Ja«, sagt Jakopp. »Es ist eben zu heiß. Man sieht sie ja doch nicht!« Ich halte es für einen Spaß; nein: so wahr ich Gott im Himmel bin, Jakopp geht zur Tür, markiert Frühstück im Nebenzimmer und geht dann in dieser Verfassung broschiert zu Onkel Ulrich. Ich liege auf dem Sofa und lache mir einen Bruch.

Als er wieder da ist, strahlt er bis zu seinem Zylinder, dem sich, offenbar beim Anblick der andern Zylinder, die Haare gesträubt haben. »Alle haben so geschwitzt«, sagt er. »Nur ich nicht.«

Und kleidet sich aus und um und an.

*

Jakopp darf sich, so seltsam das klingt, zu Beginn des nächsten Jahres verheiraten. Seine Braut ist aus Bayern – also den Anblick halb bekleideter Männer gewöhnt.

Es erhebt sich nun für den unbefangenen Zuschauer die beklemmende Frage:

Wenn Jakopp sein System, nicht zur Sache gehörige Kleidungsstücke einfach fortzulassen, konsequent durchdenkt –: was wird er dann bei seiner Hochzeit weglassen –?

Durchaus unpassende Geschichten

Wenn einer von Pariser Apachen zu schreiben beginnt, kann man darauf schwören, daß er aus Prag oder aus Charlottenburg stammt – es gibt auch Fälle der Idealkonkurrenz. Kommen solche Reporter nach Paris, dann ist kein Halten mehr; ihre Frechheit wird nur noch von der Dummheit ihrer Redakteure überboten, die diesen ausgemachten Lügenbrei über »Kokain auf dem Montmartre«, »In den Salons des Faubourg Saint-Germain« und »Nachts auf La Vilette« mit Behagen drucken. »Unser Publikum will das.« Bedauerlich ist nur, daß dieser Kram einer anständigen Verständigungsarbeit zuwiderläuft – die verfälschten Berichte von den »japanischen Dirnen in Paris«, von den »Stadtgesprächen in London«, von dem gesamten verlogenen Stadtbild werden gelesen und, wenn sie illustriert sind, gefressen. Und sie bleiben haften – im Gegensatz zur Wahrheit, die grauer ist, nicht immer amüsant, manchmal langweilig. Aber das Paris der Schmöcke, das Paris Carl Sternheims gibt es nicht: die einen müssen mit ihren Unwahrheiten Zeilengeld verdienen, der andre verfällt in epileptische Zuckungen, wenn er nur auf der Gare du Nord ankommt – und alle drei beide soll der Teufel holen.

Wenn es schon schwer ist, die Verbrecher des eignen Landes wirklich zu kennen – um wieviel mehr wachsen die Schwierigkeiten für den Fremden, die Zuhälter und Dirnen und Einbrecher von Paris aus der Nähe zu betrachten, sie zu begreifen, sie nicht zu verkennen. Man müßte mit ihnen leben.

Ich habe einiges aus diesem Milieu gesehen, aber ich halte einen ephemeren Beobachter nicht für legitimiert, andres als nur kurze Eindrücke darüber auszusagen – denn ich muß mir so vieles erst mühsam übersetzen, was sie da heraussprudeln; ich höre nicht die Unterschiede in den Dialekten der Arrondissements, und während ich ziemlich genau angeben kann, ob ein Berlinisch aus der Klosterstraße oder vom Wedding stammt, fehlt mir vorläufig eine solch genaue Kenntnis von Paris.

So kann ich nur sagen, daß mir die Schilderungen in einem Buch, das ich hier anzeigen will, nach allem, was ich gesehen und gehört habe, ziemlich richtig erscheinen, wenn auch um eine Kleinigkeit zu pointiert. Es handelt sich um » Histoires de Filles et d'Affranchis« von Edouard Ramond ( Les Editions de France, 20 Avenue Rapp, Paris). Schon für das Wort » Affranchis« gibt es kaum ein deutsches Analogon. Es heißt nicht, wie im Lexikon steht: »Freigelassene«; es hat vielmehr den Sinn von » affranchi de préjugés«, einer, der über Gewissensbedenken hinaus ist, der den Rummel kennt, der weiß, was gespielt wird, etwa: »Der Junge ist richtig.«

Das Buch, das Geschichten aus dieser Sphäre enthält, ist von Francis Carco eingeleitet, dem Mann von » Jésus-la-Caille«, einem in Deutschland als Bibel gebundenen dichterischen Schmöker. Carco wohnt im ersten Stock, aber mit Mansardenfenster – er ist wohl einer jener nicht seltnen Fälle, wo das Publikum nach einem Anfangserfolg den Autor zwingt, nun ewig dieselbe Walze zu spielen. Will er Geschäfte machen, muß er es tun; und er tuts.

Carco sagt in seiner Einleitung etwas über die Seelen der » mecs« (der Luden) und der » mômes« (etwa: der Trinen, der Nutten). Von der gesellschaftlichen Struktur sagt er gar nichts, von den wirtschaftlichen Notwendigkeiten, die diese Zustände herbeigeführt und begünstigt haben, kein Wort; auch seine Kenntnis von den medizinischen Untergründen ist etwas kümmerlich. Man hat den Eindruck eines romantischen Stahlstichs, der eine amerikanische Automobilfabrik darstellt.

Von den nun folgenden Geschichten sind viele auch nicht annähernd zu übersetzen; wie nicht ganz unbekannt, eignet sich die französische Sprache dazu, die unglaublichsten Dinge zu sagen, zu drucken, zu schreiben – nein, es ist nicht die Sprache. Es ist die Grundanschauung eines Volkes, das keine Brillen trägt, das nicht überall »Probleme« und »Tendenzen« steht, sondern das natürlich geblieben ist. Keine Geschichte zwinkert, keine.

Es finden sich – wie bei Zille – schreckliche Inzestberichte, Bilder der grausigsten Familienprostitution, die ein klein wenig, ein ganz klein wenig moralisch-witzelnd herausgestellt werden; das unübersetzbare » Alors dis, môme, on s'mélange?« ist natürlich auch da; merkwürdige Anklänge an die Kirche: Jesus spielt mitunter eine Rolle, zu der wir in der ganzen deutschen Literatur, außer bei Panizza, keine Analogie haben. Außerordentlich echt sind die Kleinbürgerlichkeit, die Wohlanständigkeit in den »Häusern« getroffen, wo etwa beim Mittagessen eine der Damen ein hartes Fachwort oder » Merde!« sagt und sofort der Herr oder die Frau des Hauses eingreift: »Sie scheinen nicht zu wissen, wo Sie hier sind …?«, und das ist durchaus keine Ironie. Die rohesten Witze der Päderastie sind in Formen gekleidet, die sie erträglich machen; und wer Franzosen kennt, weiß, daß diese » mots« nicht erfunden zu sein brauchen. Der ganze Jammer enthüllt sich einmal in einem einzigen Satz, den ein Mädchen zum Kunden sagt. Sie sprechen vom Weibergefängnis in Saint-Lazare, das nun endlich aufgehoben werden soll. » Saint-Lazare! Saint-Lazare! vaut mieux que je te dise pas ce que c'est.« Warum nicht? fragt er. » Farce que c'est tellement dégueulasse (abscheulich) que tu voudrais plus toucher aux femmes.« Wie kann man die Männer so überschätzen … Und wie natürlich reagiert jene andre, die sich über die harte Arbeit in einem Haus beklagt – nein, da kann sie nicht mehr bleiben. »Habt ihr denn so anspruchsvolle Kunden, Spezialisten …?« wird sie gefragt. »Nein, das macht nichts«, sagt sie. »Aber das verfluchte Treppensteigen –!«

Ich habe versucht, ein paar Geschichtchen zu übertragen. Die Aufgabe ist nicht lösbar. Hochdeutsch gäbe es ein falsches Bild – denn dies Französisch steht in keinem Lexikon. Ein deutscher Lokaldialekt gibt ein falsches Bild – denn in dem Augenblick, wo die Anekdote berlinert, erweckt sie einen Haufen von Assoziationen, die nicht hergehören. Hier und da habe ich ein paar berlinische Ausdrücke gesetzt, nur um in Gänge zu gelangen, die unterhalb der offiziellen deutschen Grammatik entlanglaufen – und ich habe Berlin und nicht München oder Leipzig gewählt, weil es eine große Stadt mit den Ansätzen zu ähnlichen Schichten ist, wie sie hier geschildert werden. Eine Übertragung in Hamburger Platt käme der Sache gleichfalls nahe.

Die kleinen Anekdoten, die hier folgen, scheinen mir eine gute Eigenschaft zu haben. Mit Ausnahme von vielleicht einer oder zweien schmecken sie nach Wahrheit. Das kann man nicht erfinden.

*

Im Weibergefängnis Saint-Lazare herrscht Ordnung.

Eine ganz junge Gefangene, die man bisher zu den leichten Fällen zählte, bittet eines Morgens, dem Direktor vorgeführt zu werden.

»Nun, mein Kind, was gibts denn?«

»Herr Direktor,« sagt die junge Person mit sanfter und leiser Stimme, »ich wollte Ihnen nur sagen: wenn die Schwester Maria von den Heiligen Drei Engeln mich weiter so behandelt wie bisher, dann werde ich ihr wohl mein Kochgeschirr in die Fresse schlagen –!«

*

Auf dem Boulevard de Sébastopol bereden zwei Zuhälter, wie es so ist im menschlichen Leben.

»Mensch!« sagt der eine. »Mir ist heute mächtig …«

»Und mir erst!« sagt der andre. »Aber wie! Je crois que je serais capable de prendre un chien …«

Da geht die Sappho, ein weiblicher Knabe, vorbei und hat es alles mitangehört und sagt ganz leise:

»Wau-wau –!«

*

Carmen hat eine hübsche Stimme, und obgleich sie seit fünfzehn Jahren die Insassin vieler Häuser gewesen ist, ist sie so hübsch zurechtgemacht, daß sie allgemein verlangt wird.

»Du hast ja eine reizende Stimme«, sagt eines Tages ein Besucher zu ihr. »Warum bist du nicht zum Theater gegangen? Du hättest sicherlich Karriere gemacht.«

»Zum Theater? Ah, la la!«

»Warum nicht?«

»So siehst du aus, Kleiner!« sagt Carmen. »Zum Theater? Das hätten meine Eltern niemals erlaubt!«

*

»Der Krieg? Sind die Weiber dran schuld«, sagte Niemen, der Boxer, verächtlich. »Ich wer dir das beweisen …«

»Nämlich?«

»Ich wer dir das beweisen«, sagte er. »Wie sie mobil gemacht haben, was haben die Mädchen da gesagt? Da haben sie gesagt: Na, denn machs gut, Junge! Hier hast du noch Strümpfe mit und Schokolade und einen Füllfederhalter und 'ne Buddel von wegen innerlich zu gebrauchen! Nich wahr? So war das gewesen. Ohne die Mädchen wären wir niemals gegangen!«

»Wahrscheinlich!«

»Ja, nu stell dir aber mal vor, die Weiber hätten in die Generalpappkartonstraße gemußt. Hä? Was hättst du gesagt, wenn deine Trine auf ein Mal erzählt, sie muß zur Musterung? Nu fahre mal …!«

»Ich …«

»Also ich hätt ihr gesagt: »Marie, hätt ich jesacht, hau ab! Drück dich! Dicke Luft! Und da kannste Gift drauf nehmen: sie wärn alle hier geblieben –!«

*

Ich saß in der kleinen Bar, nachts; am Nebentisch ein Betrunkener, ein gutmütiger Kerl, der viel sprach. Er hieß Felix.

Nach einer einstündigen Verhandlung und je drei Schnäpsen wollte ich bezahlen. Felix warf sich förmlich über meine Brieftasche, aber nicht, um sie mir wegzunehmen.

»Pardon!« sagte er. »Ich weiß, was sich gehört.«

Steht auf und geht zur Tür, öffnet sie, steckt zwei Finger in den Mund und pfeift. Pause …

Es erscheint eine Frau, dann noch eine.

Felix hebt den Daumen und deutet über seine Schulter auf die Untersätze, die auf unserm Tisch stehen, jede Frau legt stillschweigend einen Zehnfrancsschein auf die Theke, Felix nickt zur Tür hin, sie dürfen wieder gehen. Es wird kein Wort gesprochen.

Darauf Felix, zu mir:

» Et voilà, Monsieur, ça, c'est de l'amour –!«

*

Frau Soundso ist nicht davon abzubringen gewesen, mit mir das aufzusuchen, was sie etwas pompös »die Lasterhöhlen der Großstadt« nennt.

Man kann sich denken, wo wir hingegangen sind: ich führte sie in die besten Häuser an der Ecole Militaire und sagte, sie sei meine Sekretärin.

Alle Mädchen bemühten sich um uns, und es wurde ein reizender Abend. Alles sprach in gewähltem Ton, höflich; alle benahmen sich anständig, und wenn ein Mädchen einmal mit einem Klienten für kurze Zeit nach oben gehen mußte, dann verbeugte es sich erst vor meiner Dame von Welt und sagte:

»Sie gestatten doch, gnädige Frau –?«

*

» Gras-du-Genou« war eine allererste Nummer. Als Soldat an der Yser und bei Verdun hat er die ganze Todesverachtung, die ganze Verve und das Draufgängertum gehabt, für die er in Belleville berühmt und berüchtigt war. Er ist gefallen.

»Seine«: eine kräftige blonde Person mit einem schweren Chignon, hochgeschnürt. Sie heißt allgemein »die spanische Fliege«. Zur Zeit sitzt sie im Frauengefängnis Saint-Lazare.

»Siehste,« sagt sie während des Rundgangs auf dem Hof zu einer Freundin, »ich will nich mehr. Der da, das war meiner. Das war mein einziger; danach kommt nischt mehr. Dich hab ich gerne; ich mag sonst keine Frauen … aber du bist nicht wie die andern, deshalb erzähl ich dir das.

Also, wie ich in der Zeitung gelesen hab, daß man sich die aus den Soldatengräbern zurückholen kann, da hab ich bloß noch das im Kopf gehabt: ihn von da oben herbringen lassen, und denn mit ihm in einen Kirchhof bei Berry-au-Bac. Ja. Und dann wollte ich ihm ein schönes Grab spendieren. Aber schnieke! Dazu brauchste Zaster, verstehste … Na, und du weißt doch, unsereiner kann sich nichts sparen …

Da hab ich versucht, ein Ding zu drehen … Wegen Pinkepinke. Ich hatte mächtjes Schwein: ich hab da einen Dummen gefunden, der hat eine dicke Marie bei sich gehabt … Dafür hab ich meinen gleich in Sarg packen lassen, un denn is er zurückgekommen, und denn hab ichn sein Grab bauen lassen … Aber knorke, sag ich dir! Mit 'ner großen Platte obendrauf, alles aus Marmor, do! so mit feinen Ketten und Blumentöppen und alles …

Der Kunde hat mich angezeigt. Sie konnten mir nischt beweisen, aber natürlich bin ich hochjegangen. Ich hatte mächtig ville Geld ausgegeben, aber es war doch noch was übrig jebliehm. Diß hab ich ins Grab jestochen. Diß finden se nich. Da könn se suchen, bis se schwarz wern. Na, und denn solln se man imma machn, det se hinjehn und sich den Zaster holn …

Er paßt auf.«

Das Wirtshaus im Spessart

Würzburg; Sonnabend. Die beiden Halbirren brechen frühmorgens in meine Appartements im »Weißen Lamm« ein. »Aufstehen! Polizei!« und »In dieser Luft kannst du schlafen?« Jakopp in einem neuen Anzug, greulich anzusehen, Karlchen, die Zähne fletschend und grinsend in einem Gemisch von falschem Hohn und Schadenfreude. Die seit einem Jahr angesagte, organisierte, verabredete, immer wieder aufgeschobene und endlich zustande gekommene Fußtour beginnt. Du großer Gott –

Abends. Wir hätten sollen nicht so viel Steinwein trinken. Aber das ist schwer: so etwas von Reinheit, von klarer Kraft, von aufgesammelter Sonne und sonnengetränkter Erde war noch nicht da. Und das war nur der offene, in Gläsern – wie wird das erst, wenn die gedrückten Flaschen des Bocksbeutels auf den Tisch gestellt werden …! Oben auf der Festung ist ein Führer, der »erklärt« die alte Bastei und macht sich niedlich, wie jener berühmte Mann auf der Papstburg in Avignon. Aber hier dieser feldwebelbemützte Troubadour singt denn doch ein anderes Lied: er steht Friderikusn in jedem Baumhöcker, beschimpft die aufrührerischen Bauern wie weiland Luther und überhäuft einen Mann namens Florian Geyer mit Vorwürfen: der habe unten in der Ratsstube gesoffen, während die Bauern hier oben stürmen mußten. Das muß ich in den letzten Jahren schon einmal gehört haben. Der Brunnen ist so tief, daß ein angezündeter Fidibus … wie gehabt. In der Burg liegt Landespolizei und kann auf das weite gewellte Land heruntersehn. Wir hätten sollen in der Gartenwirtschaft Steinwein trinken.

Ochsenfurt; Sonntag. Als die Uhr auf dem Rathaus sechs schlug, ließen wir die Würfel liegen und stürmten hinaus, um uns anzusehen, wie die Apostel ihre Köpfe heraussteckten, die Bullen gegeneinander anliefen und der Tod mit der Hippe nickte. Dann liefen wir aber sehr eilig wieder in die Wirtsstube, wo die Würfel auf dem Tisch plärrten, weil man sie allein gelassen hatte. Wenn wir nicht das Barock des Landes würdigen und, den geschichtlichen Spuren der großen historischen Ereignisse folgend, dieselben auf uns wirken lassen, dann würfeln wir. Wir spielen »Lottchen guckt vom Turm«, »Hohe Hausnummer rasend« und »Kastrierter Waldaffe« sowie die von mir erfundenen, schwereren Dessins: »Nonnenkräpfchen«, »Gretchen bleibt der Kegel weg« und »Das Echo im Schwarzwald«. Wir müssen furchtbar aufpassen, weil mindestens immer einer mogelt. Ich würde nie mogeln, wenn es jemand merkt. Auch muß alles aufgeschrieben werden, damit nachher entschieden werden kann, wer den Wein bezahlt. Ich habe schon viermal bezahlt. Es ist eine teure Freundschaft.

Iphofen; Montag. Ich werde mich hüten, aufzuschreiben, wo wir gewesen sind. Als wir das erste Glas getrunken hatten, wurden wir ganz still. Karlchen hat eine »Edelbeeren-Trocken-Spät-Auslese« erfunden, von der er behauptet, sie sei so teuer, daß nur noch Spinnweben in der Flasche … aber dieser war viel schöner. Ein 21er, tief wie ein Glockenton, das ganz große Glück. (Säuferpoesie, Säuferleber, die Enthaltsamkeitsbewegung – Sie sollten, junger Freund …) Das ganz große Glück. Das Glück wurde noch durch ein Glanzlicht überhöht: der Wirt hatte einen 17er auf dem Faß, der war hell und zart wie Frühsommer. Man wurde ganz gerührt; schade, daß man einen Wein nicht streicheln kann.

Iphofen ist ein ganz verschlafenes Nest, mit sehr aufgeregten Gänsen auf den Straßen, alten Häusern, einer begrasten Stadtmauer und einem »Geologen und Magnetopathen«. Habe Karlchen geraten, sich seine erdigen Fingernägel untersuchen zu lassen. Will aber nicht.

In Ochsenfurt, auf dem Wege hierher, haben wir am äußersten Stadttor einen Ratsdiener gesehen, der stand da und regelte den Verkehr. Die Ochsenkutscher, die Mist karrten, streckten den linken Arm heraus, wenn sie ans Tor kamen – hier muß eine schwere Seuche ausgebrochen sein, die sich besonders an Straßenecken bemerkbar macht. Schrecklich, die armen Leute! Das kommt davon, wenn sie auf dem Broadway den Verkehr regeln. Wir nehmen uns jeder zwei Flaschen von dem ganz großen Glück mit, um es unseren Lieben in der Heimat mitzubringen. Jeder hat noch eine Flasche.

Kloster Bronnbach; Mittwoch. Der Herbst tönt, und die Wälder brennen. Wir sind in Wertheim gewesen, wo der Main als ein Bilderbuchfluß dahinströmt, und wo die Leute mit einer Fähre übersetzen wie in einer Hebelschen Erzählung. Drüben, in Kreuzwertheim, war Gala-Pracht-Eröffnungs-Vorstellung des Welt-Zirkus. Vormittags durfte man die wilden Tiere ansehen: einen maßlos melancholischen Eisbären, der in einer vergitterten Schublade vor sich hinroch und schwitzte; etwas Leopard, und einen kleinen Panter, den die Zirkusjungfrau auf den Arm nahm, das Stück Wildnis. Da kratzte er. Und die Jungfrau sagte zur Wildnis: »Du falscher Fuffziga!« Das konnten wir nicht mitansehen, und da gingen wir fort.

Hier in Bronnbach steht eine schöne Kirche; darin knallt das Gold des alten Barock auf weißgetünchten Mauern. Ein alter Klosterhof ist da, Mönche und die bunte Stille des Herbstes. Wie schön müßte diese Reise erst sein, wenn wir drei nicht da wären!

Hier und da; Donnerstag. Große Diskussion, ob man eine Winzerin winzen kann. Miltenberg, Mespelbrunn und Heiligenbrücken: vergessen. Zu Wertheim aber stand an einem Haus ein Wahrspruch, den habe ich mir aufgeschrieben. Und wenn ich einst für meine Verdienste um die deutsche Wehrmacht geadelt werde, dann setze ich ihn mir ins Wappen. Er hieß: »Jeder hat ja so recht!«

Lichtenau; Sonnabend. Die Perle des Spessarts. Dies ist nicht das Wirtshaus im Spessart, das liegt in Rohrbrunn – aber wir benennen das um. Hier ist es richtig.

Unterwegs wurde Jakopp fußkrank; er taumelte beträchtlich, ächzte und betete zu merkwürdigen Gottheiten, auch sagte er unanständige Stammbuchverse auf, daß uns ganz angst wurde, denn wir haben eine gute Erziehung genossen. Wir waren froh, als wir ihn gesund nach Lichtenau gebracht hatten, den alten siechen Mitveteranen. Und als wir ins Gasthaus traten, stehe, da fiel unser Auge auf ein Schild:

Autoverkehr!

Automobil-Leichenwagen nach allen Richtungen!

Des freute sich unser Herz, und froh setzten wir uns zum Mahle. Der Wirt war streng, aber gerecht, nein, doch nicht ganz gerecht, wie sich gleich zeigen wird. Wir gingen ums Haus.

Dies ist eine alte Landschaft. Die gibt es gar nicht mehr; hier ist die Zeit stehengeblieben. Wenn Landschaft Musik macht: dies ist ein deutsches Streichquartett. Wie die hohen Bäume rauschen, ein tiefer Klang; so ernst sehen die Wege aus … Die Steindachlinie des alten Hauses ist so streng – hier müßten altpreußische Reiter einreiten, etwa aus der Zeit Louis Ferdinands. Die Fenster sind achtgeteilt; um uns herum rauscht der abendliche Parkwald. Wir sitzen zu dritt auf einer Stange und bereden ernste Sachen. Dann gehen wir hinein.

… Wir schmecken einmal, zweimal, dreimal. »Dieser Wein«, sage ich alter Kenner, »schmeckt nach Sonne.« – »Und nach dem Korken!« sagen die beiden andern gleichzeitig. Herr Wirt! Drohend naht er sich. Nun heißts Mut gezeigt! Auf und drauf!

»Herr Wirt … es ist nämlich … also: probieren Sie mal den Wein!« – Er weiß schon, was ihm blüht. Und redet in Zungen, ganz schnell. »Wo ist der Korks? Erst muß ich den Korks haben! Zuerst den Korks!« Der »Korks« wird ihm gereicht – er beriecht ihn, er schnüffelt an der Flasche, er trinkt den Wein und schmeckt ab; man kann es an seinen Augen sehen, in denen seltsame Dinge vorgehen. Urteil: »Ich hab gleich gesehen, daß die Herren keine Bocksbeuteltrinker sind! Der Wein ist gut.« Berufung … »Der Wein ist gut!« – Revision … »… ist gut!« Raus.

Da sitzen wir nun. Ein mitleidiger Gast, der bei dem Wirte wundermild zur Kur weilt, steht herüber. »Darf ich einmal versuchen –?« Er versucht. Und geduckten Rückens sagt dieser Feigling: »Meine Herren, der Wein schmeckt nicht nach dem Korken! Wenn er nach dem Korken schmeckt, dann möpselt es nach –!« Natürlich möpselt es. Wir hatten keine Ahnung, was das Wort bedeutete – aber es ging sofort in unsern Sprachschatz über. Jeder Weinkenner muß wissen, was »möpseln« ist. Aus Rache, und um den Wirt zu strafen, trinken wir noch viele, viele Flaschen Steinwein, von allen Sorten, und alle, alle schmecken sie nach Sonne.

Lichtenau; Sonntag. Bei uns dreien möpselt es heute heftig nach.

In einem Weindorf; Montag. Auf der Post liegt ein Brief der schwarzen Prinzessin, den haben sie mir nachgeschickt. Sie sei zufällig in Franken; sie habe gehört, daß ich … und ob ich nicht vielleicht … und ob sie nicht vielleicht … Hm. Sie liebt, neben manchem andern, inständig ihr Grammophon, das ihr irgendein Dummer geschenkt hat. Einmal spielte das Ding – mit der allerleisesten Nadel – die ganze Nacht. Sie hat da so herrliche amerikanische Platten, auf denen die Neger singen. Eine, das weiß ich noch, hört damit auf, daß nach einem infernalischen Getobe von Gegenrhythmen der Bariton eine kleine Glocke läutet, die Musik verstummt, er läutet noch einmal und sagt: »No more!« Ich telegraphiere ihr.

Abends ist Festessen. Wir haben uns eine Gans bestellt, die aber ohne inwendige Äpfel erscheint. Eine Gans für drei Mann ist nicht viel – besonders wenn einer so viel ißt wie Jakopp, so schnell wie Karlchen, so unappetitlich wie ich. Wir nehmen uns gegenseitig alles weg; den Wirt grausts. Jakopp hat die s-Krankheit. Er sagt »Ratshaus« und »Nachtstopf« und »Bratskartoffeln«. – »Das sind Bratskartoffeln, wie sie der Geheimrat Brats aus Berlin selbst erfunden hat.« Beim Würfeln gewinne ich furchtbar, und die beiden wollen nicht mehr mit mir spielen. They are bad losers.

Heimbuchenthal; Dienstag. Wie arm hier die Menschen sind! Alle Kinder sehen aus wie alte Leute: blaß, gelb, mit trüben Augen.

Zu Fuß gehen ist recht schön. Manchmal sagen wir gar nichts – wir haben uns ja auch alles gesagt. Wir freuen uns nur, daß wir beisammen sind. Stellenweise hält einer ein Kolleg, keiner hört zu. Manchmal … wenn Männer untereinander und allein sind, kommt es vor, daß hie und da einer aufstößt. Es ist sehr befreiend. Bei einer Freundschaft zu dritt verbünden sich meist zwei gegen den Dritten und fallen über ihn her. Das wechselt, die Fäden laufen auf und ab, teilen sich und vereinigen sich; die Dreizahl ist eine sehr merkwürdige Sache. Eine Vierzahl gibts nicht. Vier sind zwei oder viele.

Würzburg; Mittwoch. Abschiedsbesuch in der Residenz; das grüne Spielzimmer mit den silbernen Wänden, unter dem Grün glänzt das kalte Silber in metallischem Schein. Hier hat Napoleon geschlafen … schon gut. Das Gehen fällt uns nicht leicht – der Steinwein fällt uns recht schwer. Die älteren Jahrgänge vom Bürgerspital wollen getrunken sein. Wir trinken sie.

Würzburg; Freitag. Ich habe die beiden auf die Bahn gebracht, mit dem festen Vorsatz, sie nie wiederzusehen. Welche Säufer! Jetzt rollen sie dahin: der eine in sein Hamburger Wasserwerk, der andere in sein Polizeipräsidium. Der gibt sich als ein hohes Tier aus; ist wahrscheinlich Hilfsschutzmann. Und mit so etwas muß man nun umgehen! Um Viertel vier läuft die Prinzessin ein.

Veitshöchheim; Sonnabend. Die Sonne strahlt in den Park, die Putten stehen da und sehen uns an, die Prinzessin plappert wie ein Papagei. Sie sagt » daddy« zu mir, eigentlich höre ich das gerne. Nun ist die Sonne röter, der Abend zieht sachte herauf, und die Prinzessin wird, wie immer, wenn es auf die Nacht geht, Mutter und Wiege und Zuhause. Wir sagen gar nichts – wir haben uns lange nicht alles gesagt, aber das muß man auch nicht, zwischen Mann und Frau. Der 25er wirft uns fast um. Wir fahren nach Würzburg zurück, das Grammophon spielt, Jack Smith flüstert, und ich höre allen Atelierklatsch aus ganz Berlin. Gute – – Wie bitte? Gute Nacht.

Würzburg, den ich weiß nicht wievielten. Auf einmal ist alles heiter, beschwingt, vergnügt – die Läden blitzen, wir trinken mit Maß und Ziel, ich pfeife schon frühmorgens in der Badewanne. Wir werden noch aus dem Hotel fliegen – das tut kein verheirateter Mann.

Auf der schönen Mainbrücke steht ein Nepomuk – wir gehen hin und legen ihm einen Glückspfennig zu Füßen, um die Ehrlichkeit des Heiligen und der Bevölkerung zu prüfen. Morgen wollen wir nachsehen … (Wir sehen aber nicht nach, und nun liegt der Pfennig wohl heute noch da.) Die Prinzessin lugt schelmisch in die Schaufenster und unterhält sich auffallend viel über Damenwäsche, Kombinations, seidene Strümpfe … Der schönste Schmuck für einen weißen Frauenhals ist ein Geizkragen.

Gar kein Ort; gar keine Zeit. – – – –

Zwischen Nancy und Paris; heute. Der Abschied war gefühlvoll, unsentimental, wie es sich gehört. Jetzt flutet das alles vorbei, in schweren Wellen: Jakopp und das vom Wein leicht angegangene Karlchen; die Barockpuppen im Park der Residenz, das Wasserschloß und der möpselnde Mann; Lichtenau und Miltenberg. Es ist sehr schwer, aus Deutschland zu sein. Es ist sehr schön, aus Deutschland zu sein. Ich sage: »Nun dreh dich um und schlaf ein!« Sie dreht sich, aber zu mir. Gibt die Hand. Am Morgen ist das erste, was ich sehe, ein gelbes, seidenes Haarnetz. Und ein Mund, der vergnügt lächelt. Wie die Bahn rattert! Tackt wie eine Nähmaschine, Takt und Gegentakt. Der Neger singt: » Daddy – o Daddy!«, die Musik arbeitet, eine kleine Glocke läutet, jemand sagt » No more«, und dann ist alles zu Ende.


 << zurück weiter >>