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9. Kapitel

Als Professor Gervinus wenige Tage nach diesem Auftritt zur vorgerückten Nachtstunde heimkehrte, trat ihm in der Haustür eine Gestalt entgegen.

»Einen Augenblick, ich muß mit Ihnen sprechen.«

An dem Ton der lallenden Stimme erkannte der Professor sofort Scholz. »Was fällt Ihnen ein,« herrschte er ihn an. Aber breitspurig stellte sich Scholz vor die Haustür.

»Ich bin gekommen, um Ihnen einen letzten Vorschlag zu machen. Ich bin kein schlechter Kerl, aber wenn Sie mir jetzt nicht helfen, werden Sie sehen, was daraus entsteht.«

»Was wollen Sie eigentlich von mir?«

Fünftausend Mark. Mit dem Gelde will ich dann nach Amerika gehen und Sie haben dann nicht mehr zu fürchten, daß der Karl Scholz Sie ins Zuchthaus bringt. Sie wissen doch – ich habe mich erkundigt – fahrlässige Tötung verjährt nicht so schnell.«

»Machen Sie mir sogleich Platz, oder ich rufe den ersten besten Wächter und lasse Sie der Polizei übergeben.«

»Nicht so hitzig, Herr Professor. Geben Sie mir viertausend Mark und ich bin stumm wie das Grab.«

»Wissen Sie auch, daß ich Sie wegen Erpressung belangen kann? Nicht einen Pfennig bekommen Sie und jetzt machen Sie, daß Sie hier fortkommen!«

Das Gesicht des anderen verzerrte sich. »Ich werde bezeugen, auf welche Weise mein Freund, Fritz Krenkow, von Ihnen um die Ecke gebracht wurde.«

Da packte Professor Gervinus den Alten beim Arm und riß ihn mit eisernem Griff vom Hauseingang fort. Er stieß ihn auf den Damm, aber im Begriff, seine Haustüre zu öffnen, fühlte er sich gepackt und spürte einen heftigen Schlag auf den Kopf. Rasch wandte er sich um. Scholz war natürlich den Kräften des Professors nicht gewachsen. Der schüttelte den stark Angetrunkenen hin und her, daß ihm Hören und Sehen verging, dann fiel Scholz taumelnd auf das Straßenpflaster.

»Du Schuft, du elendiglicher! Das zahle ich dir heim! Ins Zuchthaus mußt du! Du Gauner! Du Mörder!«

Der Professor kümmerte sich nicht weiter um den Alten, er betrat sein Haus und schloß sorgsam hinter sich die Türe.

Eva machte sich zum Ausgehen bereit und rief nach Wanda. Sie kam mit dick verweinten Augen und erzählte auf Evas Fragen, daß der Vater heute Nacht verunglückt sei. Sie bäte um die Erlaubnis, ihn besuchen zu dürfen. Sogleich schickte Eva das Mädchen nach Hause und als es abends zurückkam, fragte sie teilnehmend nach dem Befinden. Da begann Wanda zu erzählen, daß der Herr Professor eigentlich die Schuld an diesem Unglück habe. Er hätte ihrem Vater den verdienten Lohn vorenthalten und ihn sogar mißhandelt.

Entrüstet wies Eva das Mädchen zur Ordnung, aber Wanda meinte nur noch heftiger. »Wir haben alle unsere Fehler, gnädige Frau, und auch der Herr Professor ist nicht schuldlos. Mag schon sein, daß die gnädige Frau nichts davon wissen, daß der Herr Professor den armen Herrn Krenkow um die Ecke gebracht hat, weil er ihn zum Versuchsobjekt für seine Forschungen machte.«

Eine fahle Blässe überzog Evas Gesicht. »Was soll das heißen, Wanda. Was hat der Herr Professor mit meinem Vater zu tun?«

Wanda lachte boshaft auf. »Sollten die gnädige Frau denn wirklich nicht wissen, daß zwischen dem Herrn Professor und Herrn Krenkow ein Abkommen getroffen wurde, wonach Krenkow sein Leben dem Herrn Professor opferte, wenn jener sich bereit erklären würde, seiner Frau und seinen Kindern viel Geld zu vermachen?«

»Das ist nicht wahr,« schrie Eva auf, Wanda aber fuhr unbeirrt fort.

»Aus welchem Grunde hätte denn sonst der Herr Professor sich der Frau und der Kinder angenommen? Fragen Sie ihn doch einmal, gnädige Frau. Jenes Schriftstück befindet sich sicherlich noch in seinem Besitz und wenn wir reden würden, wäre es um den Herrn Professor geschehen.«

Taumelnd hielt sich Eva an einem der Sessel fest. Was sie soeben gehört hatte, vermochte sie nicht zu glauben. Aber wie konnte Wanda es wagen, solche Dinge zu erzählen, wenn nicht wirklich etwas Wahres daran war?

Wanda sah die Erregung auf Evas Zügen und eine teuflische Freude zog in ihr Herz. »Ich will alles der gnädigen Frau ausführlich erzählen. Die gnädige Frau kann dann selbst beurteilen, was sie tun will.«

Im ersten Augenblicke wollte Eva dem Mädchen Schweigen gebieten, aber dann stieg das Verlangen in ihr auf, alles zu erfahren. Und Wanda erzählte mit größter Ausführlichkeit von jenem Tage an, da Doktor Gervinus mit Fräulein von Eppendorf in den Hof gekommen sei und mit Krenkow gesprochen habe. »Krenkow wußte ganz genau, daß es zum Sterben ging und der Herr Professor wußte das auch. Er ist also schuld an dem Tode Ihres armen, unglücklichen Vaters, der sich für seine Familie opferte.«

Aufstöhnend barg Eva das Haupt in den Händen. »Es ist ja nicht wahr, kann nicht wahr sein,« murmelte sie.

Mit raubtierartigem Blick betrachtete Wanda ihr Opfer. »Wenn die gnädige Frau mir nicht glauben will, könnte man ja im Schreibtisch des Herrn Professor einmal nachsehen. Das Schriftstück würde sich wohl noch vorfinden.«

Abwehrend streckte Eva die Hände aus. »Gehen Sie, lassen Sie mich allein, aber hüten Sie Ihre Zunge! Sie werden mir über alles Rechenschaft zu geben haben, was Sie heute zu mir sagten!«

»Ich will alles beschwören,« beteuerte Wanda, dann verließ sie das Zimmer.

Eva warf sich auf den Divan und versuchte ihre Gedanken zu sammeln. Was sie soeben gehört hatte, erschien ihr plötzlich garnicht mehr so unglaublich. Hatte Lothar nicht immer geäußert, daß nur ein triftiger Beweggrund Gervinus zu allen den Wohltaten, die er der Familie Krenkow erwiesen hatte, treiben müsse?

Ihr erster Gedanke war der, den Gatten zu fragen. Aber dann sagte sie sich, daß er ihr wahrscheinlich doch nicht alles genau erzählen würde. Ob sie sich selbst überzeugte? Ob sie hinüber ging und im Schreibtische nachsuchte? Sie besaß einen zweiten Schlüssel, den ihr Gervinus selbst ausgehändigt hatte, damit sie stets Zutritt zu den Geldern oder sonstigen Schriftstücken hatte. Sie wußte, Gervinus war heute zu einer Sitzung gegangen und kehre nicht so rasch nach Hause zurück. Die Gelegenheit war also gegeben.

Die Unruhe trieb sie, sie ging hinüber und öffnete den Schreibtisch. Sie durchsuchte Fach für Fach, fand aber nichts. Jede Schublade hatte sie bereits geöffnet, es blieb nur noch das kleine Geheimfach, zu dem sie aber einen Schlüssel nicht besaß. Das Verlangen, Klarheit zu bekommen, wurde immer größer in ihr. Sie holte allerhand Schlüssel herbei, aber keiner paßte. Und immer aufgeregter beschloß sie endlich, gewaltsam, mittels eines Brecheisens, das Schloß zu öffnen. Dem heftigen Druck gab die Tür nach.

Wohlgeordnet lagen die Papiere darin. Die Zeugnisse, die Urkunden, die Bankbücher und nun fand sie auch den gesuchten Zettel.

Sie las die wenigen Worte: »Hiermit bescheinige ich aus freien Stücken und ohne Zwang, daß ich mich der Behandlung des Herrn Doktor Gervinus unterziehe, obwohl ich weiß, daß mein Leben damit in Gefahr kommt. Herr Doktor Gervinus hat mich vorher mit allen Einzelheiten genau vertraut gemacht. Es trifft ihn keine Schuld, falls mir ein Unglück zustößt. Fritz Krenkow.« Dann folgte noch das Datum und schließlich mit Bleistift von Gervinus Hand geschrieben: Versuch mißglückt, Krenkow nach der zweiten Einspritzung an Vergiftungserscheinungen gestorben.

Mit einem dumpfen Aufstöhnen sank Eva vor dem Schreibtisch nieder. Es war also doch wahr, was Wanda gesagt hatte. Ihr Gatte war zum Mörder geworden. Ein namenloses Entsetzen erfaßte sie. Ihr graute plötzlich vor allem, was sie sah. In einer Stunde würde Norbert heimkehren. Sie sollte noch weiter mit ihm zusammen wohnen, sollte ihm ins Auge sehen. Das ging über ihre Kräfte. Sie barg das Schriftstück in ihrem Gewande und beschloß, es an Lothar zu senden, damit man gemeinsam beraten könne, was jetzt zu tun sei. Sie verwahrte die übrigen Papiere so gut es ging, drückte das Geheimfach wieder an und schaffte auch sonst mit zuckenden Händen wieder Ordnung. Dann griff sie zur Feder, um dem Gatten zu schreiben, daß sie um sein Geheimnis wisse. Aber sie fand nicht die richtigen Worte. Irgend etwas in ihrem Innern sprach den Gatten von jeder Schuld frei. Heiße Tränen rannen über ihr Gesicht, als sie daran dachte, wie gut Gervinus immer zu ihr gewesen sei. War denn seine Schuld nicht längst gesühnt? Der eigene Vater sprach sogar den Gatten von aller Schuld frei. Durfte sie dann noch zum Richter werden?

Aber dennoch, Gervinus war am Tode des Vaters schuld, er hatte gewußt, daß er ein Menschenleben aufs Spiel setzte. Da schrieb sie aufschluchzend die wenigen Worte nieder: »Ich verlasse Dich, weil ich weiß, daß Du schuld am Tode des Vaters bist.« Dann floh sie in ihr Zimmer, packte schnell einige wenige Sachen in die Reisetasche und schlich in später Nachtstunde die Treppe hinab.

Als ihr der kühle Wind ins Gesicht wehte, kam ihr erst zum Bewußtsein, daß sie garnicht wußte, wohin sie sich wenden sollte. Der einzige, der ihr blieb, war Lothar. Da der Weg zu ihm weit war, rief sie eine Nachtdroschke an und sagte dem Kutscher die Adresse des Bruders.

Vergeblich läutete sie nach einiger Zeit an seiner Wohnung. Lothar war nicht daheim. Der Pförtner, der endlich kam, konnte ihr auch keine Auskunft geben, wann Herr Doktor Krenkow zurückkommen würde, und da Eva nicht in des Bruders Wohnung konnte, beschloß sie, für heute Unterkunft in einem Hotel zu suchen, um gleich morgen mit ihm alles weitere zu besprechen.

Jetzt erst, da sie allein auf der dunklen Straße stand, überkam sie das Gefühl grenzenloser Vereinsamung. Sie, die stets gehegt und gepflegt wurde, hatte keine Freunde, keine an die sie sich jetzt halten konnte. Nur der Bruder blieb ihr und der war heute nicht zu erreichen.

Sie wankte die Straße hinunter, um ein Hotel zu suchen. Sie fühlte sich wie zerschlagen.

In ihren tiefen Gedanken hörte sie kaum das herankommende Auto, und erst als der Chauffeur ihr ein warnendes Wort zurief, erwachte sie aus ihrer Stumpfheit. Sie befand sich in einer stillen, eleganten Straße, in der kein Hotel stand. Sie mußte also wieder umkehren und den eben gekommenen Weg zurücklegen.

Da bemerkte sie, daß ihr ein Herr folgte und erkannte in ihm Hasso von Eppendorf. All ihre Fassung brach zusammen, die Tränen rannen über ihr Gesicht. Erschrocken fragte Herr von Eppendorf was ihr fehle, aber aus ihren verwirrten Reden entnahm er nur, daß sie dem Gatten davongegangen sei. Er sah, daß er ihr helfen müsse und beschloß, gemeinsam mit ihr zu Billerbecks zu fahren, damit Gertraude sich der Unglücklichen annähme. Willenlos ließ Eva alles mit sich geschehen. Gertraude war noch nicht zur Ruhe gegangen und empfing die späten Ankömmlinge freundlich. Aus Evas Aeußerungen, die unter Schluchzen hervorgebracht wurden, erfuhr sie bald alles Nähere und nun galt es, die Aufgeregte zu beruhigen.

»Jetzt kommen Sie erst mit mir und schlafen sich gründlich aus, liebste Eva. Es ist alles nicht so schlimm, wie man es Ihnen erzählt hat. Auch ich weiß um die Angelegenheit und werde Ihnen morgen nähere Aufklärung geben.«

Da richtete Eva angstvoll ihre Augen auf Gertraude. »Sie wußten darum? Warum duldeten Sie dann, daß er mich zum Weibe nahm?«

Gertraude zog die Zitternde an sich. »Er ist nicht so schuldig, wie Sie glauben. Ich weiß, wie furchtbar er damals unter den unglücklichen Verhältnissen litt. Er hat ja längst wieder gutgemacht, was er damals verschuldete.«

Eva schüttelte den Kopf. »Niemals kann er das wieder gutmachen.«

»Seien Sie nicht so unversöhnlich,« wehrte Gertraude.

»Es war mein Vater, den er tötete.«

»Ihr Vater war ein Sterbender, als Doktor Gervinus in sein Leben trat.«

Eva schluchzte auf. »Trotzdem hatte er kein Recht, ihm das Leben zu verkürzen. Ihnen Gertraude aber mache ich jetzt den Vorwurf: wie konnten Sie mich diesem Manne lassen?«

Der Blick Gertraudens irrte zur Seite. »Haben Sie in all den Jahren an seiner Seite das Glück nicht kennen gelernt?«

Eva senkte den Kopf und ein brennendes Rot stieg ihr in die Schläfen. »Er ist schuld am Tode des Vaters. Das werde ich niemals vergessen und darum kann ich niemals zu ihm zurückkehren.«

Vergeblich versuchte Gertraude versöhnende Worte zu finden. Aber als alles das nicht fruchtete, geleitete sie Eva ins Fremdenzimmer.

»Erst ruhen Sie, morgen werden wir weiter darüber reden. Lassen Sie sich zu keiner Tat hinreißen, die Sie später bereuen könnten.«

Gertraude wartete am Lager Evas, bis die Erschöpfte eingeschlummert war. Dann schritt sie hinüber in ihr Zimmer und schrieb noch in derselben Nacht an Professor Gervinus einige Zeilen, daß Eva bei ihr gut aufgehoben sei. Er möge aber für's erste keinen Versuch machen, seine verstörte Frau zurückzurufen. »Was in meinen Kräften steht, daß alles wieder zum guten Ende kommt, will ich tun.«

Sie selbst trug den Brief zum Kasten, da die Bedienten längst schliefen. Dann saß sie noch lange im Erker und schaute hinab in die Nacht. Ihr Gatte war noch nicht daheim, er zechte wohl wieder mit seinen Freunden. Dort drüben aber schlief Eva und glaubte, die unglücklichste aller Frauen zu sein. Gertraude lächelte bitter.

»Armes Kind, ich wünsche Dir nicht, daß dir mein Los zuteil geworden wäre.«


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