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Zögernd trat Doktor Gervinus am kommenden Tage den Weg zu Krenkow an. Je mehr er sich dem Hause näherte, umso langsamer wurde sein Schritt und immer deutlicher vernehmbar tönte eine Stimme in seinem Innern: es ist Mord, laß ab. Vergeblich versuchte er, sich selbst zu beschwichtigen. Warum sollte dieses Serum, nach dem er jahrelang suchte, nicht Erfolg haben? Er hatte schon so manchen kleinen Beweis dafür, daß alle seine Voraussetzungen bisher richtig gewesen waren. Somit konnte auch dieser Versuch glücken. Und dann, traf ihn denn eine so schwere Schuld? Krenkow brauchte ja nur nein zu sagen und alles blieb wie es war. Aber was war damit der Menschheit genützt? Selbst wenn der Schwerkranke das Opfer wurde, so konnte man an den Symptomen des Todes feststellen, wo Verbesserungen eintreten mußten. Vielleicht zeigte sich aber schon nach dem ersten Versuche der Erfolg. Und war das der Fall, dann hatte Gervinus der gesamten Wissenschaft einen unschätzbaren Dienst geleistet. Als Wohltäter der Menschheit würde er sich einen unsterblichen Namen machen, wenn es ihm gelänge, das Heilserum gegen die Rückenmarkserkrankungen zu finden. Was wog dem gegenüber ein einziges Menschenleben?
Gervinus warf den Kopf in den Nacken. Ein energischer Zug prägte sich auf seinem Gesicht aus und ohne Scheu betrat er die Krenkow'sche Wohnung. Der Kranke hatte ihn bereits erwartet und hielt ihm die Hand hin.
»Ich will,« sagte er und weiter nichts.
Durch Gervinus Körper ging ein Ruck. Er konnte sich selbst keine Rechenschaft über das Gefühl geben, das ihn augenblicklich beherrschte. Schon nach wenigen Minuten war alles besprochen. Krenkow sollte bereits am heutigen Tage in die Klinik eingeliefert werden, am darauffolgenden Tage wollten beide gemeinsam zum Gericht gehen; Gervinus stellte Lothar und Eva je mit einem Vermögen von zwanzigtausend Mark sicher und erklärte sich außerdem bereit, den Knaben, falls die nötige Begabung vorhanden war, auf eigene Kosten für den erwählten Beruf ausbilden zu lassen. Eva würde, falls sie sich verheiratete, von Gervinus eine erstklassige Aussteuer bekommen. Außerdem versprach der Arzt für die kranke Frau nach Kräften zu sorgen und ihr nach Möglichkeit zur Erhaltung des Lebens behilflich zu sein. Alle Monate sollte Frau Krenkow die Summe von hundert Mark von Gervinus erhalten. Dieser Betrag im Verein mit den Zinsen würden genügen, um die Not von der Schwelle zu bannen.
In überraschtem Staunen hörte Krenkow das alles an und vermochte es kaum zu glauben, daß der Arzt solche Zusicherungen halten könne. Er lächelte nur matt und äußerte:
»Jetzt wünschte ich fast, daß ich an dem Serum zu Grunde ginge.«
Um die Ueberführung in die Klinik glaubhaft zu machen, bat der Kranke den Arzt, er möge sich noch einmal in das Zimmerchen seiner Frau begeben und möge selbst davon berichten, daß man alle Hoffnung habe, dem Weiterfortschreiten der Rückenmarkserkrankung entgegenzutreten, doch wäre dazu der Aufenthalt in einer Klinik erforderlich. Gervinus kam dem Wunsche des Bittenden gerne nach und herzlich drückte ihm Frau Krenkow die Hand, als der Arzt mit etwas belegter Stimme versicherte, er wolle sein Möglichstes tun, um Krenkow wieder gesund zu machen.
Auch auf dem Gericht ging alles glatt. Gervinus händigte seinem Patienten die Schriftstücke aus und empfing dafür von diesem die schriftliche Bestätigung, daß er, Krenkow, sich aus freien Stücken dieser neuen Serumkur unterworfen habe, daß er völlig unbeeinflußt handle und wohl wisse, daß es sich hier um einen Versuch handle, der leicht schlecht ausgehen könne. Dafür sei dann aber Doktor Gervinus nicht verantwortlich zu machen.
Am übernächsten Tage spritzte der Arzt mit eigener Hand dem Patienten das Serum ein. Am folgenden Tage wurde die Spritze wiederholt, und als Gervinus am Abend den Patienten abermals besuchte, äußerte Krenkow, daß er sich ganz überraschend wohl fühle. Die Mattigkeit sei fast völlig von ihm gewichen, außerdem hätte das Gefühl des Pelzigseins und Ameisenlaufens erheblich nachgelassen. In dieser Nacht schlief Gervinus kaum. Tausend rosenrote Bilder malte ihm die Zukunft und am frühen Morgen war sein erster Gang wieder zu Krenkow.
Er war tot
Fassungslos starrte Gervinus auf den Leblosen nieder, dann stürzte er davon, schloß sich in sein Arbeitszimmer ein und war für niemanden zu sprechen.
Er verbrachte eine qualvolle Nacht unter tausend Gewissensqualen, Mörder, schrie es ihm ins Ohr, und Mörder hallte es von den Wänden wieder, und das Wort trieb ihn fast zur Verzweiflung. Wie hatte er es wagen können, mit dem noch nicht völlig fertigen Präparate zu experimentieren! Die Sektion der Leiche mußte ergeben, daß hier eine gewaltsame Vergiftung vorlag, und er war derjenige, der das Gift gereicht hatte. Nicht aus der festen Ueberzeugung heraus, es könne vielleicht doch helfen, nein, er hatte von Anfang an das Gefühl gehabt, du handelst verfrüht, laß vorläufig ab, ein Menschenleben zu gefährden. Er hatte der kranken Frau den Gatten, zwei unmündigen Kindern den Vater geraubt. Selbst wenn er noch so viel mit Geldmitteln tat, das alles wusch seine schwere Schuld nicht ab.
Am nächsten Morgen wurde er dringend in der Klinik verlangt. Da raffte er sich auf und sezierte den Toten selbst. Da er seine Versuche streng geheim gehalten hatte, gelang es ihm, seine Kollegen zu täuschen und die Vergiftung auf andere Einflüsse abzuleiten. Da man sich im übrigen darüber einig war, daß die Tabeserkrankung bereits bis in das unheilbare Stadium vorgeschritten war, erschien dieser rasche Tod nicht außergewöhnlich und so erledigten sich alle Formalitäten glatt. Was aber Gervinus in dieser Zeitspanne aushielt, das ahnte niemand.
Er hatte sich anfänglich mit der Absicht getragen, den Todesfall selbst bei Krenkows zu melden, dann aber erschien es ihm unmöglich, der kranken Frau vor die Augen zu treten. Wie sollte er vor ihr bestehen, wenn sie nach der raschen Todesursache fragte? So wurde ihr durch einen Boten die traurige Nachricht übermittelt.
Der Beerdigung wohnte Gervinus bei. Vergeblich suchte er in dem sehr kleinen Trauergefolge nach der Frau des Dahingegangenen. Aber nur der Knabe und das Mädchen schlichen mit verweinten Gesichtern hinter dem schwarzen Sarge her. Da erst fiel ihm wieder ein, daß ja auch Frau Krenkow schwer krank war, und nun hielt ihn nichts mehr zurück. Er trat, nachdem der Sarg in die Erde hinabgelassen war, zu den beiden Kindern heran und äußerte, er wolle mit ihnen heimfahren. Die Kinder waren viel zu sehr bedrückt und schluchzten immer wieder, so daß sie nicht wehrten, als sich der Arzt neben sie in ein Auto setzte und seinen Plan ausführte.
Auch Frau Krenkow war auf das tiefste erschüttert und niedergeschlagen. Jetzt erst, bei einer längeren Unterredung sah sich Gervinus die Kranke näher an. Ohne Zweifel, sie war schwer krank, aber vielleicht war es doch noch möglich, den beiden Vaterlosen die Mutter zu erhalten. Allerdings durfte nicht gezögert werden. Gervinus wollte sofort Maßregeln treffen, damit die Kranke in gesunder Luft ihre kranke Lunge kräftigen könne.
Mit größtem Befremden hörte die Frau die Vorschläge des Arztes an, dann schüttelte sie weinend den Kopf.
»Sie sind so gut, aber wie kann ich von Ihnen all das annehmen. Nie könnte ich Ihnen zurückzahlen, was ein Aufenthalt im Gebirge oder gar im Süden kosten würde.«
»Machen Sie sich deswegen keine Gedanken, Frau Krenkow. Ich hoffte Ihren Mann gesund machen zu können, aber es gelang mir nicht. Nun will ich die Mutter wenigstens den Kindern erhalten, und Sie müssen daher auf meinen Vorschlag eingehen, um Ihrer Kinder willen.«
Die Kranke faltete die Hände. »Gibt es denn wirklich noch so gute Menschen, die für die Armut ein Herz haben? Der Himmel segne Sie, Herr Doktor und ich will nicht aufhören, für Sie zu beten, und meine Kinder sollen Zeit ihres Lebens Ihnen, als ihrem Wohltäter, danken.«
Gervinus wehrte ab. Er besprach rasch, um die Frau abzulenken, die Zukunft Lothars und Evas. Die Kinder durften natürlich aus der Schule nicht herausgerissen werden und auch da wollte Gervinus Sorge tragen. Als er dann von Frau Krenkow erfuhr, daß Lothar in der Gemeindeschule bereits durch seine hohe Begabung das Aufsehen der Lehrer erregt habe, schlug Gervinus vor, den Knaben umzuschulen und ihm die Möglichkeit zu bieten, sich durch eigene Tüchtigkeit eine geachtete Stellung einstmals zu erringen. Auch Eva sollte in eine bessere Schule eintreten, damit die beiden Kinder ins Leben als gute Grundlage eine gediegene Schulbildung mitnehmen.
Frau Krenkow war völlig fassungslos. Sie glaubte zu träumen und erst, als einige Tage später Gervinus sich abermals bei ihr einstellte, als sie sah, daß der Arzt bereits alle nötigen Schritte getan hatte für ihre Reise und die Unterbringung der Kinder, da brach die kranke Frau in leidenschaftliches Weinen aus.
»Komm her, mein Lothar und auch du Evchen. Jetzt reicht diesem Manne hier eure Hände. Hier am Bette eurer kranken Mutter, die durch die Hilfe dieses edlen Wohltäters wieder zu genesen hofft, versprecht ihm, euer ganzes Leben lang daran zu denken, daß ihr alles Gute nur ihm allein verdankt. Versprecht mir, daß ihr stets bereit sein wollt, alles für ihn zu tun, was in euren Kräften steht, um ihm dadurch einen Teil eurer tiefen Dankesschuld abzutragen.«
Fast heftig wollte Gervinus abwehren, aber Paula Krenkow drang immer mehr in die Kinder, und so reichten die beiden schüchtern dem Arzte die Hände und sprachen die Worte nach, die ihnen die Mutter vorsagte. Die achtjährige Eva schien nicht ganz zu verstehen, was hier vorging. Aber Lothar begriff wohl, daß er heute ein schwerwiegendes Versprechen gab, und als sich die Hand des Arztes mit festem Druck um die Kinderhand schloß, da zuckte der Knabe zusammen und in scheuem Erschrecken hob er seine dunklen Augen zu dem großen Manne. Gervinus sah ihm fest in das Antlitz.
»Wir wollen Freunde werden, Lothar. Habe Vertrauen zu mir, damit du bald deiner Mutter und deiner Schwester eine Stütze werden kannst.«
Dann schlich sich der Knabe hinaus, setzte sich auf die Bank draußen im Hofe, auf der so oft der Vater gesessen hatte, und ohne daß er es wußte, rannen ihm die Tränen über das Gesicht. Das Herz war ihm heute so schwer, fast noch schwerer als an jenem Tage, da man den schwarzen Sarg in die Erde gesenkt hatte. Und er konnte sich kaum darüber freuen, daß der fremde Mann dort drinnen im Zimmer versprochen hatte, die Mutter wieder gesund zu machen.
Es gab für Gervinus noch mancherlei zu besprechen, ehe alle Angelegenheiten völlig erledigt waren. Aber dann kam doch der Tag, an dem Frau Krenkow in Begleitung einer Krankenschwester in eines der besten Sanatorien fuhr.
Lothar kam in Pension zu einem Oberlehrer, dem es eine besondere Freude machte, dem aufgeweckten Knaben Nachhilfestunden zu geben. Eva wurde in einem Töchterpensionat untergebracht. Gervinus erkundigte sich allwöchentlich nach seinen beiden Schützlingen und erfuhr zu seiner größten Freude, daß man mit beiden Kindern ganz außerordentlich zufrieden war.
Auch von Frau Krenkow kamen günstige Nachrichten. Gervinus hatte sich an den leitenden Arzt des Sanatoriums gewandt und jener teilte ihm mit, daß man berechtigte Hoffnungen hege, den Zustand der Kranken zu bessern. Aber obwohl damit alles zum Guten auszuschlagen schien, fand Norbert doch den Frieden der Seele nicht mehr zurück. Der Tod Krenkows lastete zu schwer auf ihm, und so wurde aus dem lebenslustigen jungen Manne ein stiller, zurückgezogen lebender Mensch, der sich immer mehr gegen die Außenwelt hin abschloß und jeglichen Verkehr mied. Anfänglich glaubte man an eine vorübergehende Laune. Aber als Woche auf Woche verging, ohne daß sich Doktor Gervinus bei seinen Freunden zeigte, begann man allerlei zu munkeln.
Auch Gertraude von Eppendorf empfand das veränderte Verhalten des Geliebten schmerzlich. Von den Tennispartien hatte er sich völlig losgesagt, und auch sonst bot sich ihr keine Gelegenheit, Norbert wiederzusehen oder zu sprechen. Aber gerade darum wuchs ihre Liebe von Tag zu Tag, und sie versuchte auf allerlei Weise, dem jungen Arzt zu begegnen. Als ihr das aber nicht gelang, schrieb sie ihm einen warmen, herzlichen Brief und bat ihn, er möge ihr doch mitteilen, was ihn auf einmal so verändert habe und ob er ihr zürne. In fieberhafter Spannung wartete sie drei Tage lang auf Antwort. Da endlich trafen wenige Zeilen ein. Norbert schrieb ihr, daß er durch einen unglücklichen Vorfall allen Lebensfrohsinn verloren habe, und daß er jetzt sein wichtigstes Ziel darin sehe, sich ganz der Wissenschaft zu widmen.
Die Folge dieses Briefes war, das Gertraude alle Bedenken hinter sich warf und Gervinus aufsuchte. Er zuckte zusammen, als er sie im Wartezimmer sah, und auch Gertraude erschrak vor dem veränderten Aussehen des Freundes. Das waren nicht mehr die lachenden, fröhlichen Augen von einst, das war nicht mehr der freie Blick, den sie so sehr an Norbert geliebt hatte, irgend etwas drückte die hohe Gestalt nieder, irgend ein tiefer Gram sprach aus seinen Zügen.
Als sie sich dann gegenüber saßen, nahm Gertraude seine Hände in die ihren. »Ich habe wohl gefühlt, Herr Doktor, daß Sie mich mit diesem Briefe von sich scheuchen wollten. Aber dennoch mußte ich zu Ihnen kommen. Haben Sie denn ganz vergessen, daß Ihr Leid auch das meine ist?«
Er wandte sich gequält ab. »Sie würden mir diese Hand nicht reichen, Fräulein von Eppendorf, wenn Sie wüßten, daß das Blut eines Unschuldigen daran klebt. Sie würden auch nicht solche Worte an mich richten, wenn Sie mich genau kennen würden.«
Ihre dunkelbraunen Augen strahlten ihn voll und klar an. »Was können Sie verbrochen haben, Herr Doktor? Lassen Sie mich Ihre Trösterin sein. Erlauben Sie mir, daß ich Sie öfters aufsuche, und Sie werden wieder gesund werden. Das Blut, das, wie Sie sagen, an Ihren Händen klebt, hat gewiß nur der Arzt in Ausübung seiner hohen Pflicht versehentlich vergossen.«
»Nein,« schrie er auf und erhob sich schnell von seinem Platze. »Warum quälen Sie mich so sehr. Sie sollen es wissen! Jenen Mann, den Sie mir damals als Kranken zeigten, habe ich kaltblütig zum Versuchsobjekte gemacht, obwohl ich wußte, daß ich ihn damit zu Grunde richtete. Aber Doktor Norbert Gervinus wollte mit seinem Serum berühmt werden!« Er lachte schallend auf. »Berüchtigt, wollen wir sagen, denn er hat damit ein Menschenleben vernichtet! Nun, Fräulein von Eppendorf, bin ich auch jetzt noch in Ihren Augen gut und edel?«
Das junge Mädchen starrte ihn an, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich glaube das nicht, Herr Doktor. Sie hätten den beiden Kindern niemals den Vater genommen. Nicht wahr, Sie wollten an Krenkow versuchen, aber Sie haben es nicht getan.«
»Ich hab's getan,« gab er hohnlachend zurück. »Hab' gesehen, daß der erste Versuch nicht glänzend ausfiel und hab' das Serum aufs neue eingespritzt, bis der Mann tot war! Gehen Sie, Fräulein von Eppendorf, hüten Sie sich, mir wieder zu nahe zu kommen, denn ich bin ein Mörder!«
»Entsetzlich,« stöhnte Gertraude auf, dann aber riß sie sich zusammen. »Sie sind krank und überarbeitet, Herr Doktor. Wenn Sie ruhiger geworden sein werden, werden Sie mir alles noch einmal erzählen, und dann wird es nicht so furchtbar klingen.«
Sie hatte sich erhoben und wandte sich nach der Tür. Da brach Gervinus abermals in hohnvolles Lachen aus.
»Sie tun recht daran, meine Gnädige, dieses Zimmer so rasch als nur möglich zu verlassen. Auch die Hand vergaßen Sie mir zu geben. Aber gehen Sie nur, vor einem Mörder ergreift man natürlich die Flucht.«
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, sie wollte antworten, aber vor Norberts wildem Blick schwand ihr der Mut dazu. So schritt sie mit gesenktem Kopfe aus der Tür und hörte nur noch hinter der zufallenden Tür das abermalige schrille Auflachen des jungen Arztes.