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3. Kapitel

Aus Gervinus war ein verschlossener Mann geworden, der sich eifriger denn je mit seiner Wissenschaft beschäftigte. Er hatte einige Aufsehen erregende Bücher geschrieben, die in der medizinischen Welt hoch eingeschätzt wurden, und so klang sein Name durch ganz Deutschland. Mit wahrem Feuereifer betrieb Gervinus seine Forschungen in Bezug auf das Rückenmark und dessen Erkrankungen. Er besaß ein großes Laboratorium, in welchem er manchmal bis spät in die Nacht verblieb, um dann seine Forschungen wieder schriftlich niederzulegen.

In Gesellschaft sah man ihn fast nie. Er lebte still für sich, ein Diener und eine Wirtschafterin besorgten den Haushalt. Die einzige Familie, die er von Zeit zu Zeit aufsuchte, waren Krenkows. Im Laufe der Jahre hatte sich tatsächlich der Zustand der kranken Frau so gebessert, daß sie den größten Teil des Jahres mit ihren Kindern gemeinsam verbringen konnte, und nur im ganz rauhen Winter folgte sie dem Rate Gervinus und begab sich nach dem Süden. Sie war unter der Sorge des Arztes förmlich aufgeblüht und kaum zum wiederkennen. Mit einer geradezu schwärmerischen Verehrung sah sie zu Doktor Gervinus auf und all ihr Denken galt nur dem einen, wie mache ich gut, was dieser seltene Mann an uns allen tat. An ihren Kindern erlebte sie reinste Freude. Lothar durcheilte das Gymnasium und war einer der besten Schüler, so daß er stets mit Prämien versetzt wurde. Als er dann sein Abiturium gemacht hatte und den Wunsch äußerte, Medizin zu studieren, war Frau Krenkow höchst beglückt. Etwas besseres konnte sich ihr Sohn kaum auswählen, würde er doch in Gervinus einen Förderer und eine feste Stütze haben. Auch Gervinus vernahm diese Entscheidung gern. Obwohl zwischen den beiden Männern ein eigentümliches Verhältnis herrschte, fühlte sich der Arzt doch zu dem Heranreifenden mächtig hingezogen. Er wußte, Lothar war ein offener, gerader Charakter, der sich einzig und allein ihm gegenüber anders gab, als es seine Art war. Er war, sobald er mit Gervinus sprach, von äußerster Zurückhaltung und mitunter klang deutliche Abwehr heraus, wenn Gervinus immer neue Wohltaten auf ihn häufen wollte. Es kam sogar zu einer leidenschaftlichen Unterredung. Frau Krenkow hatte dem Arzt mitgeteilt, daß sich der Sohn den Tag über mit Stundengeben abquäle und erst spät in der Nacht dazu käme, für sein Studium zu arbeiten. Als Gervinus darüber Lothar fragte, gab der Student offen zu, daß es ihn bedrücke, von Gervinus die Mittel für sein Studium annehmen zu müssen. Es sei ihm viel lieber, er könne sich einen Teil selbst dazu verdienen. Er sei jung und kräftig und diese kleine Anstrengung jetzt schade ihm nichts. Norbert hatte beinahe heftig darauf erwidert, daß Lothar jenes Geld zum Studium, wenn er es durchaus nicht von ihm annehmen wolle, von seinem eigenen Vermögen umwenden solle. Aber auch darauf hatte der andere geäußert, daß jenes Geld auch nur eine Wohltat sei und von Gervinus stamme. Alle Einwendungen des Arztes hatten nichts gefruchtet, Lothar verharrte starrköpfig bei seinem Willen, und so fand Gervinus, der bereits die Ueberanstrengung an Lothar bemerkte, den einzigen Ausweg, dem eigensinnigen Jüngling heimlich hochbezahlte Stunden zu verschaffen, die es jenem ermöglichten, mehrere der gering zahlenden Schüler abzuschaffen. Gervinus hielt natürlich sein Vorgehen streng geheim, denn er ahnte, daß Lothar abermals in übermäßigem Stolz seine helfende Hand zurückweisen würde.

Auch mit der Mutter kam es deswegen hin und wieder zu kleinen Auftritten. Frau Krenkow betonte immer wieder, daß man alles, was man besäße, der Güte Doktor Gervinus verdanke und daß die Kinder, selbst wenn sie sich einmal eine geachtete Stellung im Leben erobert haben würden, niemals aufhören sollten, sich dem Arzt verpflichtet zu fühlen, da sie allein durch ihn das geworden wären, was sie jetzt waren. Dagegen begehrte Lothar auf. Er ersehnte die Zeit, daß er allein für Mutter und Schwester sorgen könne, unermüdlich wollte er schaffen, um an Gervinus alle Schuld abtragen zu können.

Eva hatte sich ganz wunderbar entfaltet. Schon als Kind hatte sie Aufsehen erregt, das junge Mädchen bezauberte förmlich durch ihre Schönheit. Sie hatte den brennenden Wunsch, ebenfalls zu studieren, aber nur ein einziges Mal hatte sie der Mutter gegenüber eine solche Aeußerung getan. Ganz erschrocken war Frau Krenkow aufgefahren.

»Das darfst du niemals laut werden lassen, Eva. Gervinus würde es ohne Zweifel erlauben, aber wir dürfen seine Güte nicht noch weiter in Anspruch nehmen. Er hat nicht nur wie ein Vormund, er hat wie ein leiblicher Vater bisher für euch gesorgt und ich glaube, er hat ganz andere Pläne mit dir vor. Er äußerte vor wenigen Tagen, daß es ihn freuen würde, wenn du seinem Laboratorium Interesse entgegenbringen möchtest. Es gäbe eine Menge junger Damen, die nach einem längeren Kursus als Laborantinnen Stellungen annehmen. Wie wäre es, wenn du, nachdem du zu Ostern das Lyzeum verläßt, einen solchen Kursus absolviertest?«

»Ich habe daran noch nicht gedacht, Mutter. Aber wenn Herr Doktor Gervinus es wünscht, will ich es natürlich tun.«

»Es ist sicherlich zu deinem Besten, Kind. Außerdem kannst du, wenn du bei ihm tätig bist, ihm durch Fleiß und Tüchtigkeit ein klein wenig deinen Dank abstatten.«

»Willst du mit ihm darüber reden, Mutter, ob es ihm recht ist, daß ich diesen Kursus nehme?«

Frau Krenkow nickte erfreut und beschloß, schon in den nächsten Tagen mit Doktor Gervinus, dem Vormund ihrer beiden Kinder, Rücksprache zu nehmen. War er einverstanden, so konnte Eva sich schon in einem Jahre eine ganz nette Summe Geld verdienen und der Arzt hatte dann nicht mehr nötig, der Familie gar so reichliche Zuwendungen zu machen.

Gervinus war über den Entschluß Evas aufrichtig erfreut. Der Gedanke, stundenlang mit ihr zusammen arbeiten zu können, beglückte ihn geradezu. Das junge Mädchen, mit den lachenden Augen, wirkte auf ihn wie Sonnenschein. Wenn er neben ihr saß und ihrem fröhlichen Geplauder lauschte, war es ihm, als sei die Welt doch nicht so düster und öde, wie sie ihm seit Jahren erschien. Ihr Lachen streichelte ihn förmlich, bei ihrem Geplauder schloß er mitunter die Augen, und dann zauberte sich vor seinem Inneren eine leuchtende, sonnendurchwärmte Welt. Er kam in letzter Zeit häufiger denn je in das Krenkow'sche Haus, und immer zärtlicher wurden die Blicke, die er über Evas blonde Schönheit hinschweifen ließ. Unter dem Vorwande, sich mit ihr über ihre Fortschritte zu unterhalten, verging fast keine Woche, daß Gervinus nicht zwei- auch dreimal sich nach dem Abendbrote einfand.

Lothar war selten anwesend. Traf man ihn wirklich bei den Seinen, so dauerte es nicht lange, dann verließ er unter einem Vorwand das Zimmer und ließ Mutter und Schwester mit dem Vormunde allein. Eva gab sich ihrem neuen Berufe mit gleichem Eifer hin, wie sie ihn bisher in der Schule gezeigt hatte. Obwohl noch manchmal das große Sehnen nach dem Studium in ihr emporquoll, unterdrückte sie doch energisch diesen Wunsch und fand auch an der Bakteriologie lebhaftes Interesse. So verrannen die Monate rasch und sie selbst war nicht wenig erstaunt, als der Kursus zu Ende war und das junge Mädchen mit einem glänzenden Zeugnisse entlassen wurde.

Es war ganz selbstverständlich, daß Norbert Gervinus die junge Laborantin zu sich nahm und außergewöhnlich hoch honorierte. Obwohl er sich bemühte, ihr vor den anderen Angestellten keine bevorzugte Stellung einzuräumen, merkten die Kolleginnen doch gar bald, daß Eva Krenkow der Liebling des Chefs war. Trotzdem kam in den Herzen der anderen ein Neid nicht auf, weil sich Eva sehr rasch die Zuneigung aller ihrer Mitarbeiterinnen gewann.

Gervinus weilte jetzt häufiger denn sonst in seinem Laboratorium und schaute Eva bei ihren Arbeiten zu. Das junge Mädchen verlor manchmal seine Ruhe, wenn es die prüfenden Blicke des Arztes bemerkte. Sie wußte selbst nicht, warum sie sich jetzt immer so verlegen fühlte, wenn Gervinus neben ihr saß. Sie sprach offen darüber mit der Mutter, aber Frau Krenkow lächelte nur still vor sich hin. Sie hegte im Innern einen Wunsch, den sie vorläufig noch nicht allzu laut werden lassen wollte, aber sie beobachtete von nun an schärfer denn je die Tochter und freute sich an den regelmäßigen Besuchen des Arztes, freute sich an seinen leuchtenden Blicken, die er so oft zu Eva hinübersandte. Gervinus selbst war sich der Veränderung bewußt, die mit ihm vorging. Er, der bis dahin alles Freudige gemieden hatte, fand langsam wieder Gefallen am Leben, und es machte ihm ein besonderes Vergnügen, Frau Krenkow und Eva in Theater und Konzerte zu führen, er erdachte immer neue Anregungen und freute sich, wenn Eva Gefallen daran fand.

Dann aber kam eine Zeit, daß Eva stiller wurde und die vielen Aufforderungen zu Konzerten und Theatervorstellungen ablehnte. Auch im Laboratorium war sie schweigsam, und als sie Doktor Gervinus einmal direkt nach dem Grunde fragte, errötete sie tief und machte eine verlegene Ausrede. Anfänglich ließ sie der Arzt gewähren, als Eva dieses Benehmen aber nicht änderte, forschte er bei der Mutter nach. Man war allein und so konnte Frau Krenkow ohne Umschweife erzählen. Sie selbst war sehr überrascht gewesen, als ihr Eva vor wenigen Wochen die Mitteilung gemacht hatte, daß sie auf einem Nachhausewege ganz zufällig die Bekanntschaft eines jungen Mannes gemacht habe, daß man sich seitdem öfters getroffen habe. Der junge Mann sei auch wirklich in die Krenkowsche Wohnung gekommen und habe der Mutter ganz deutlich zu verstehen gegeben, daß er die Absicht trage, Eva dermaleinst als Gattin heimzuführen. Vorläufig wolle man allerdings noch warten. Der junge Mann, der aus sehr vermögender Familie stammte, habe Chemie studiert, seinen Doktor gemacht und wollte später als Teilnehmer in das chemische Laboratorium eines Bekannten eintreten.

Gervinus runzelte finster die Stirn. »Solche Straßenbekanntschaften sind in der Regel nicht von langer Dauer. Es wäre gut gewesen, wenn Sie Eva dergleichen untersagt hätten.«

Frau Krenkow schaute überrascht auf. In so kurzem, hartem Tone hatte sie Norbert Gervinus noch niemals reden gehört. Ihr mütterliches Empfinden hieß sie die Tochter in Schutz nehmen, zumal jener junge Mann bereits Besuch gemacht hatte und der Mutter gegenüber mit seinen Absichten nicht hinter dem Zaune hielt. Es war daher anzunehmen, daß es sich hier um eine ehrliche Annäherung handle. Aber die Stirn Gervinus blieb finster gefurcht.

»Eva glaubt natürlich den jungen Mann zu lieben.«

Das mußte die Mutter bejahen. Eva sei ganz glücklich, wenn sie von Herrn von Eppendorf spreche.«

Da fuhr Gervinus herum. »Eppendorf? Hasso von Eppendorf?«

»Ja, so ist sein Name,« entgegnete Frau Krenkow. »Kennen Sie ihn?«

Gervinus wandte sich ab, um die leidenschaftliche Bewegung zu verbergen, die über seine Züge glitt. Mit einem Schlage stand die ganze Vergangenheit wieder deutlich vor ihm. Hasso war der um zwei Jahre jüngere Bruder Gertraudens. Er selbst hatte damals öfters mit dem übermütigen Gymnasiasten gesprochen. Das waren jetzt zehn Jahre her. Und nun führte ihn der Zufall dem Bruder Gertraudens wieder in den Weg. Er kam als Bewerber um Evas Hand. Warum tat ihm das so weh? Hatte er früher nicht selbst gehofft, daß Eva sich recht bald und recht glücklich verheiraten sollte? Gegen Eppendorf war nichts einzuwenden. Warum also erfüllte ihn die Mitteilung mit solchem Zorn? Eva würde von ihm gehen, würde einem anderen Manne angehören und er blieb wieder allein, wie bisher.

Ganz plötzlich stieg das Bild Gertraudens vor ihm auf. Nein, er hatte sie wohl nie geliebt. Was Liebe war, das wußte er jetzt erst. Er liebte Eva Krenkow, mit der heißen Leidenschaft des gereiften Mannes, der noch nie den Becher des Glücks an seine Lippen gesetzt hatte. Er wollte Eva keinem anderen lassen, er durfte nicht mehr länger zögern, sollte sie ihm nicht ganz entgleiten.

Er wandte sich wieder an Frau Krenkow. »Sie wissen genau, daß Eva jenen anderen liebt?«

Die Gefragte sah das Glühen, das in den dunklen Augen des Arztes stand. Sie hörte die zitternde Erregung aus jedem seiner Worte. Da wußte sie plötzlich, was in der Seele von Gervinus vorging.

»Ich glaube nicht, daß sie ihn liebt,« stammelte sie betroffen, wohl wissend, daß ihre Sippen jetzt eine Lüge formten. »Eva ist sich wohl selbst über ihre Gefühle noch nicht klar, sie ist ja noch so jung.«

Er schöpfte tief Atem, dann stieß er fast heftig hervor: »Ich will nicht, daß sie einem anderen angehört! Ich habe mich so an sie gewöhnt, daß ich sie nicht mehr lassen kann! Ich weiß es, ich liebe sie – ich will sie zu meiner Frau nehmen.«

Er strich sich mit der Hand über, die Stirn und wandte scheu die Augen ab. Noch vor wenigen Wochen hätte Frau Krenkow diese Steuerung mit der größten Freude begrüßt Jetzt, da sie wußte, daß ihr Kind mit ganzem Herzen dem jungen Chemiker zugetan war, erschrak sie vor den heftigen Worten des Arztes. Warum hatte er nicht schon längst gesprochen? Eva hätte ohne weiteres ihre Hand in die von Gervinus gelegt, ihr Herz war ja unberührt. Frau Krenkow mußte, daß eine tiefe Dankbarkeit in Eva wohnte und daß sie gewiß ohne Besinnen ihr Jawort gegeben haben würde. Aber nun? Durfte man zwei Menschen mit Gewalt trennen, die für einander geschaffen zu sein schienen?

Gervinus schien das Zögern zu bemerken. Jetzt galt es, um Eva zu kämpfen.

»Ich liebe Ihre Tochter,« wiederholte er nochmals dringlicher. »Ich liebte sie ja unbewußt schon als sie noch ein Kind war, Jahre lang trage ich mich mit der Hoffnung, sie in meinem Hause als Gattin schalten zu sehen. Ich darf doch auf Ihre Hilfe rechnen, Frau Krenkow? Sehen Sie, heute komme ich als Bittender zu Ihnen. In Ihrer Hand liegt es, mir mein Lebensglück zu verschaffen.«

Da fühlte Frau Krenkow, wie es sich lähmend auf ihre Sinne legte, wie alles in ihr erstarrte unter dem einen Gedanken: wir sind ihm tausendfachen Dank schuldig, wir dürfen nie vergessen, was er an uns tat. Jetzt ist der Augenblick gekommen, ihm zu zeigen, daß mir es mit unserem Danke ehrlich meinten.

Nur einen einzigen Augenblick schwankte sie. Es war ihr, als schauten sie die blauen Augen Evas mahnend an, aber sie schüttelte den lastenden Druck von sich. Zögernd streckte sie Doktor Gervinus die Hand hin: »Wie könnte ich je vergessen, was Sie an uns taten. Wo könnte ich mein Kind denn besser geborgen wissen, als an Ihrer Seite. Seien Sie mir herzlich willkommen, und auch Eva wird sich glücklich schätzen und wird Ihnen eine treue und liebevolle Gattin sein.«

»So sagen Sie mir Ihre Tochter zu?« fragte Gervinus hastig.

»Ja,« klang es leise zurück.

In seinen Augen blitzte es auf. »Nun gut, so wollen wir nicht länger zögern. Ich habe nicht mehr viel Zeit zum Warten. Mein halbes Leben ist verflossen, ohne daß ich das Glück kennen lernte. Nun will ich nachholen, was ich bisher versäumte. Teilen Sie Eva mit, daß wir heute Abend hier im kleinen Kreise die Verlobung feiern wollen.«


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