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18. November. Nachts um zwei Uhr mußten wir heute schon aufstehen, und ich war noch sehr verschlafen, als um einhalb drei der Tee gebracht wurde. Um einhalb vier erfolgte der Aufbruch. Langsam zog unsere Karawane in das Dunkel der Nacht hinaus. Zuerst ritt ich, aber bald waren die Füße so eiskalt, daß auch ich zu Fuß ging. Langsam, unendlich langsam schleichen die Stunden dahin. Herrlich ist der Sternenhimmel; selten habe ich so viel Sternschnuppen beobachten können; alle paar Minuten leuchten sie wie Raketen am sternenübersäten Nachthimmel auf. Um diese Zeit schlägt es in Europa gerade Mitternacht; dieselben Sterne sehen auch auf meine Heimatsstadt und mein Elternhaus! Wie es dort wohl aussehen mag? Seit über drei Monaten habe ich nichts mehr von Deutschland gehört.
Langsam arbeiten wir uns den hohen Paß hinauf, den wir heute zu überschreiten haben. Endlich beginnt es etwas heller zu werden, und wir können die Einzelheiten im Landschaftsbilde erkennen. Über den Bergen liegt ein eigentümlich violetter Schleier, der, je heller es wird, in blaue Töne übergeht. Als die ersten Strahlen der Morgensonne die Berggipfel treffen, reiten wir in das malerische Talbecken der Hesarensiedelung Germ-ab. Hier wurde fleißig gearbeitet: die Felder gepflügt, das Korn gedroschen. Die Männer sangen zur Arbeit, die Frauen saßen vor den jurtenähnlichen Hütten, spielten mit den Kindern, nähten oder flickten. Es war ein idyllisches, friedliches Bild, das mich an die Schilderung erinnert, die Ferrier von einer Hesarensiedlung an einem südlicher gelegenen See in Zentralafghanistan gegeben hat. Ein paar Schafe und Ziegen grasten im Tale, und ein paar große, kräftige Hunde bewachten das Dorf.
Wir zogen weiter, und bald war die kleine Siedelung unseren Augen entschwunden. Wir hatten einen neuen Paß zu überschreiten, von dem aus wir eine interessante Aussicht hatten. Unter uns zur Linken lag wie ein erstarrtes Meer eine ziegelrote, orangefarbene Bergwelt, die scharf vom tiefblauen, wolkenlosen Himmel abstach (Abb. 13). Rechts aber türmten sich höhere Berge auf, die aus dunklem vulkanischen Gestein bestehen und einige Schneekappen tragen. In der Sonne war es heute recht warm; es war einer der letzten schönen Herbsttage des Jahres.
Gegen drei Uhr kamen wir an einen breiten aber seichten Fluß, in dessen ruhigem Wasser sich die Berge spiegelten. Auf dem jenseitigen Ufer lag ein größeres Dorf. Beim Durchschreiten des Flusses glitt mein Wasiri aus, und wir beide nahmen in den kühlen Fluten ein erfrischendes Bad! Ich ging darauf den letzten Teil des Weges nach Lar zu Fuß. Mesjidi Khan hatte seinen Fuß verstaucht und war weit zurückgeblieben. Gegen vier Uhr sichteten wir das Robat, das auf einer Terrasse gelegen ist, unterhalb derer sich der Fluß hinschlängelt.
Je mehr sich die Sonne dem Westen zuneigte, um so phantastischer wirkte die rote Berglandschaft, die sich im Norden des Flusses hinzieht. Die Dämmerung brach schnell herein. Blauschwarz war der Himmel im Nordosten, gerade als ob ein Gewitter aufziehen wollte, und die Berge schimmerten in schwefelgelben und violetten Tönen.
19. November. Schon am Abend verkündeten Gulam Ali und Mesjidi Khan, daß wir ganz früh aufbrechen müßten, mindestens um ein Uhr. Da die Afghanen die Uhr kannten, selbst aber keine hatten, stellte ich meine Uhr um zwei Stunden zurück, denn ich verspürte absolut keine Lust, mir meine Nachtruhe nehmen zu lassen. Als gegen halb zwei Mesjidi Khan sich erhob, die Laterne anzündete und anfangen wollte einzupacken, erklärte ich ihm, er sei verrückt; es wäre erst halb zwölf und ich machte auf keinen Fall mit. Darauf drehte ich mich wieder in meinen Pelz ein, legte mich auf die andere Seite und schlief weiter. Mesjidi Khan brummte etwas in seinen nicht vorhandenen Bart, blies das Licht aus und kroch auch wieder unter seine Decke zu Gulam Ali, der fest schnarchte.
Erst gegen fünf Uhr brachen wir auf. Der Himmel war bezogen – es sah nach Schnee aus. Kreideweiß hoben sich die schneegepuderten Berge vom bleigrauen Himmel ab. Man konnte fast glauben, daß diese traurige Landschaft auch uns ernster stimmte; denn der Morgenritt verlief sehr schweigsam. Ich zeichnete vom Pferde aus einige Panoramen von der Bergwelt, die wir zur Rechten hatten und wo sich einige schöne Flußterrassen hinzogen.
Wieder müssen wir auf einen Paß hinauf. Das eine Lastpferd scheute vor einem Kamelskelett, das am Wege lag. Wir trafen häufig die Überreste zusammengebrochener Tiere; manche Skelette sind schon von der Sonne gebleicht, an anderen hängen noch Fetzen Haut und Fell; und manche Tiere müssen erst kürzlich verendet sein. Wir fanden auch Skeletteile abseits vom Wege, wohin sie von den Wölfen verschleppt worden waren. Ein trauriges Bild boten manchmal die Karawansereien, in deren Höfen oft die Skelette verendeter Tiere lagen.
Auf der Paßhöhe zündeten wir wieder ein großes Feuer an und lagerten eine Viertelstunde, während der ich einige hohe Schneegipfel, die sich im Südosten zeigten, einpeilte und skizzierte. Die Berge bestanden aus dunkelroten Sandsteinen beziehungsweise Tuffen, ähnlich denen, die wir bei Teng-i-Asau sahen. Dann ritten wir in das Tal von Kirman hinab, das vollkommen öde und verlassen ist.
Je mehr wir uns diesem kleinen Flecken nähern, um so kälter wird es; ein schneidender Wind bläst uns entgegen, und jeder wickelt sich so viel Tücher um den Kopf wie nur irgend möglich. Ganz fein beginnt es zu schneien, und bald ist der Boden mit einer weißen Decke überzogen. Wir reiten an einigen Ruinen vorbei, in deren Gemäuer Raben hausen und die Luft mit ihrem Gekrächze erfüllen, als wir vorbeiziehen. Ein paar Reiter, Flinten über den Schultern, reiten auf uns zu und fragen, wohin wir wollen. Sie erkennen mich nicht als einen Europäer; denn ich habe meine Schneebrille auf und das Gesicht mit Tüchern umwickelt, und rasiert hatte ich mich seit Wochen nicht! Die Kälte wird immer stärker; der Wind schneidender; man erstarrt fast auf dem Pferde.
Um elf Uhr verteilt Juma das Frühstück. Ich erhalte die Brust und das Bein vom Huhn, aber das Fleisch ist gefroren und so mit Eiskörnern durchspickt, daß es knirscht, als ich hineinbeiße. Nebel und Wolken hüllen die hohen Schneeberge ein, auf die wir jetzt zureiten.
Es wird dunkler und dunkler, und wieder hüllt uns ein Schneewetter ein. Ich kann die Hände kaum noch zum Zeichnen gebrauchen. Wir treffen viele Nomaden, die auf Eselchen und kleinen Pferden reiten. Manche gehen zu Fuß. Wie müssen sie in ihren schmutzigen, zerrissenen Gewändern frieren! Eine Kamelkarawane kommt langsamen Schrittes gezogen; die Tiere sehen wie bepudert aus. Auf dem einen Kamel hockt eine junge Frau und blickt verstohlen zu uns herüber, wer wir wohl sein mögen. Auf einem anderen sind kleine Kinder festgebunden und blicken ängstlich von ihrem schaukelnden Sitz herunter. Nomadenleben! Und doch scheinen sie so zufrieden mit ihrem Schicksal zu sein; sie haben ja auch nie etwas anderes kennengelernt.
Von hier aus führt anscheinend auch ein Weg nach Bamian, der auf der neuesten englischen Karte nicht eingetragen ist, wohl aber auf den älteren Ausgaben. Er führt über einen Paß, der Talatu heißt und über den wahrscheinlich Ferrier gezogen ist.
Gegen ein Uhr ziehen wir auf den Scharak-Kuschta-Paß. Alle gehen zu Fuß; wir sind froh, daß es zu schneien aufgehört hat. Mesjidi Khan ist weit vorangeeilt; er klettert wie eine Katze; ihm macht die Luftverdünnung nichts aus. Wir aber bleiben alle paar Minuten stehen und schöpfen Luft. Auch die armen Tiere kommen nur langsam vorwärts. Gul Mohammed ist weit zurückgeblieben, da das eine Pferd nicht mehr weiter will. Wieviel Elend diese Felsen wohl schon gesehen haben mögen! Ich zählte im Verlaufe unseres heutigen Paßüberganges acht Skelette von Pferden und Kamelen.
Wir kommen in eine immer gewaltigere Bergwelt. Endlich haben wir die Paßhöhe erreicht, von der aus wir ziemlich steil in ein geschütztes Tal absteigen, in dem wir wieder ein Feuer anzünden, uns wärmen und warten, bis Gul Mohammed mit den Packtieren kommt. Der soeben überschrittene Paß bildet die Wasserscheide zwischen Heri-rud und Hilmend, der in den abflußlosen Hamunsee in Sistan mündet.
Dann nehmen wir den zweiten großen Paß, den Kutel-i-Akserat in Angriff. Schritt für Schritt arbeiten wir uns empor. Die Bergwelt, die uns umgibt, ist großartig. Nach jeder Richtung hin türmen sich Schneeberge auf. Vom Passe aus, der eine Höhe von ca. 3300 Meter hat, genießen wir einen umfassenden Ausblick auf Afghanistans Hochgebirgswelt. Ein Meer hoher Gipfel dehnt sich ringsumher aus. Ich habe viel zu tun, alle diese Gipfel einzupeilen und zu photographieren. Das Gestein ist wieder dunkelroter Sandstein. Wir müssen noch eine dritte Anhöhe erklimmen, ehe wir in das Tal von Akserat absteigen können. Ein nicht endenwollender Marsch folgt, ehe wir das Robat erreichen.
Gegen sechs Uhr abends beginnt es in großen Flocken zu schneien, und als wir uns am anderen Morgen erheben, umgibt uns eine vollständige Winterlandschaft. Meine Begleiter haben keine große Meinung, bei dem Wetter aufzubrechen; aber da der Schnee nur in feinen Flocken fällt und die Wolken sich zerteilen, sehe ich keinen Grund, weshalb wir nicht weiterziehen sollen. Langsam beladen Juma und Gul Mohammed die Pferde, und gegen acht Uhr verlassen wir Akserat. Es ist kalt, und der Schnee knirscht unter den Hufen der Tiere. Berge und Täler sind unter einer weißen Decke begraben.
An einem kleinen kristallklaren Bach, der mit einer dünnen Eisschicht überzogen ist, machen wir halt und tränken die Tiere. Die graue Wolkenwand teilt sich mehr und mehr, und bald überflutet helles Sonnenlicht die herrliche Winterlandschaft. Wie tausend Diamanten glitzert es im Schnee, und ohne Schneebrille kann man die Augen kaum offen halten. Hin und wieder begegnen uns Hesaren, die uns im Vorüberreiten freundlich: »Salem alaikum, mundä näbaschi« (Seid gegrüßt, möget ihr nicht ermüden!) zurufen.
Zur Linken bestehen die Berge aus feinem Tonschiefer, aber trotz eifrigen Suchens kann ich keine Versteinerungen finden. Gulam Ali und Mesjidi Khan reiten nach einer Hesarensiedlung, um »Kurk Barek« (Stoff) zu kaufen. Es ist dies ein braunes, grobes, gewebtes Tuch, das außerordentlich dauerhaft und warm ist, und aus dem sich die Afghanen ihre Winteranzüge machen. Wir haben wieder einmal einen hohen Paß zu überschreiten, aber der Anstieg ist bequem. Von der Paßhöhe aus mache ich einige Aufnahmen (Abb. 19). Dann folgt der Abstieg ins Tal von Pänjao. Von einer der hohen Felswände war ein großer Block losgebrochen, der voller Versteinerungen war; aber es kostete viel Mühe, diese aus dem festen Fels herauszuarbeiten.
Der Weg nach Pänjao erschien uns endlos; stundenlang zogen wir bei sehr wechselndem Wetter durch das von Terrassen eingefaßte Tal. Bald schien die Sonne, bald hüllten uns eisige Hagelschauer ein. Wir passierten viele kleine Siedelungen und begegneten Hesaren, die kleine, schwarze, mit Gestrüpp über und über beladene Ochsen vor sich hertrieben. Bevor wir ins Robat kamen, mußten wir noch den Fluß kreuzen, der von der Kuh-i-Baba-Kette herunterkommt und in seinem Unterlauf den Namen Tagao Pänjao trägt. Das Robat liegt auf einer Anhöhe über dem Fluß, während auf der anderen Seite sich eine Lehmfeste erhebt. Auch in dieser Gegend herrschen die dunkelroten Sandsteine vor, die der Landschaft eine so charakteristische Farbe aufprägen, während die höheren Ketten aus schwarzen Schiefern und dunklen Kalken bestehen.
In dieser Gegend soll eine heiße Quelle sein. Kurz vor dem Robat hätten wir beinahe unseren Teekessel verloren. Zum Glück fand ihn Juma noch, der als Nachzügler hinterherkam. Im Schneetreiben kamen wir im Robat an, wo wir es uns bald bequem machten. Als Gul Mohammed abends Brennholz suchen ging und aus dem Bache Wasser schöpfen wollte, sah er im Robat einen großen Wolf, der an einem Skelett eines verendeten Kamels zerrte. Er kam sofort zurückgelaufen und verlangte von Mesjidi Khan das Gewehr; als wir aber in den Hof gingen, war der Wolf bereits verschwunden; aber im frisch gefallenen Schnee konnten wir die Spuren erkennen. Das eine der Pferde war in einem bedauernswerten Zustand. Es war gänzlich abgemagert und hatte durch die Lasten große Druckstellen davongetragen. Abends ging ich noch einmal zu den Tieren hinaus. Sie standen aneinandergedrängt im Hofe. Gul Mohammed rieb gerade die wunden Stellen des kranken Packpferdes mit rohem Eiweiß ein. Er machte ein betrübtes Gesicht; hatte er doch gerade auf das weiße Pferd seine größten Hoffnungen gesetzt. Als auch am folgenden Tage keine Besserung im Befinden des Pferdes eintrat, versuchte er es mit einer Radikalkur. Er entnahm dem Tiere Blut aus den Nüstern. Seltsamerweise bewirkte diese Kur Wunder; denn als wir nach Kabul kamen, war das weiße Pferd tatsächlich das munterste von allen.
Am anderen Tage brachen wir gegen siebeneinhalb Uhr auf. Es hatte während der Nacht wieder geschneit, und wo gestern im Laufe des Tages der Schnee geschmolzen war, lag heute eine neue weiße Decke (Abb. 21). Wir ritten in einem breiten Tale gen Osten. Vor uns erhob sich ein massiger hoher Gipfel, auf dessen steilen Felsklippen sich der Schnee nicht halten konnte. Ich machte eine kleine Skizze, peilte den Berg ein, und dann zogen wir an seinen Hängen bergan, um gegen zehn Uhr auf eine Paßhöhe zu gelangen, von der aus wir einen schönen, umfassenden Ausblick hatten. Aber wir mußten noch einen Paß überschreiten, ehe wir in das Gebiet des Hilmendoberlaufes kamen.
Uns allen fiel das Steigen sehr schwer, und wir mußten alle paar Minuten stehen bleiben, um Luft zu schöpfen. Nur Mesjidi Khan schienen die verdünnte Luft und die große Steigung nichts anzuhaben; er war schon eine halbe Stunde früher als wir auf der Paßhöhe angelangt. Wir passierten das in Ruinen liegende Robat Siah-Seng (der schwarze Fels) und hatten gegen zwei Uhr noch einen weiteren Paß zu überschreiten. Dann folgte ein zweistündiger Ritt bis Gargareh, wo wir in der Moschee übernachteten beziehungsweise in dem Lehmhause, das als Moschee und zugleich als Gästehaus dient.
Abends hatten wir wundervollen Vollmondschein. Das ganze Tal schimmerte in silberhellem Lichte, und die tief eingeschneiten Kuppen der Berge leuchteten blendendweiß. Abends bettelte mich Gul Mohammed nach dem Essen um Chinin an, denn er klagte über heftige Kopfschmerzen. Als ich das Glas wieder einpacken wollte, rollten ein paar Tabletten auf die Erde; aber ich war zu müde, um mich von meinem Feldbette zu erheben, und ließ die Tabletten liegen. Als ich am anderen Mittag Gul Mohammed fragte, wie es ihm gehe, meinte er: Ja, die Tabletten hätten nicht viel geholfen, obgleich er abends vorher auch noch die anderen vier Tabletten, die heruntergefallen waren, geschluckt habe!
Vergangene Nacht hatte ich mich auch sehr über die Afghanen geärgert. Kaum war ich richtig eingeschlafen, als um einhalb eins Gul Mohammed bereits mit dem Talglicht zu hantieren anfing und behauptete, wir müßten zum Aufbruch rüsten. Meine Begleiter trauten auch meiner Uhr nicht mehr recht, gingen hinaus und sagten, es sei ganz hell und dämmere bereits. Das war natürlich großer Schwindel. Aber unsere Gesellschaft war nun einmal wach geworden, an Schlaf war nicht mehr zu denken. Es war auch in unserer großen Behausung so kalt, daß man es schon vorzog, zu gehen. – Es wurde also Feuer angezündet, Tee gebraut, und gegen drei Uhr brachen wir auf.
Zuerst müssen wir die linke Talterrasse erreichen, auf der der Weg sich hinzieht. Eine kalte Winternacht umgibt uns. Der Weg ist so schmal, daß wir die Pferde führen und aufpassen müssen, daß nicht ein Tier oder wir selbst den Abhang der Terrasse hinunterpurzeln. Wir sind vielleicht eine Viertelstunde vom Dorfe entfernt, als durch das Dunkel der Nacht aus dem Tale heraus Stimmen zu uns dringen und wir angerufen werden. Gulam Ali und Mesjidi Khan tasten sich langsam und vorsichtig den Abhang hinunter und kommen nach einer Viertelstunde wieder. Es waren nur die Wächter des Ortes gewesen, die geglaubt hatten, wir seien Räuber oder Schmuggler.
Als es dämmerte, kamen wir nach Mar-chane (Schlangenhaus), wo das Robat ebenfalls in Ruinen lag. Die Flüsse haben hier wilde Schluchten durch die Berge geschnitten, und das seegrüne Wasser schäumt und rauscht zwischen den engen Felsen. Wir sind jetzt schon im Bereich der kristallinen Schiefer, und ich kann mir eine schöne Sammlung Handstücke schlagen. Gerade als wir die eine Schlucht passiert hatten, trafen wir eine kleine Karawane; Gulam Ali erkannte dabei einen seiner besten Freunde. Es fand eine herzliche Begrüßung statt; beide umarmten sich zärtlich. Nach einer Stunde erst traf Gulam Ali wieder zu uns. Es war heute bitter kalt, und die Morgensonne wärmte nicht im geringsten. Herrlich war der Sonnenaufgang! Purpurrot färbten sich die hohen Gipfel, als sie von den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne getroffen wurden. Die kleinen Bäche waren sämtlich gefroren, und wir mußten sehr auf die Pferde achtgeben, daß sie nicht stürzten. Heute gesellte sich ein kleiner Hund zu uns; er war ein drolliges Tierchen, noch jung und hatte ein wolliges Fell wie die jungen Schäferhunde. Woher er kam, war uns rätselhaft. Die Sonne war noch so kräftig, daß sie im Laufe des heutigen Tages den Schnee fast überall schmolz. Die Berge leuchteten in allen Farben; eine breite Zone dunkelroter Tuffe konnten wir auf weite Erstreckung hin verfolgen. Gegen Mittag lagerten wir einen Augenblick auf einer Anhöhe. Die Sonne brannte, und es war sehr heiß. Ein tiefes Schweigen breitete sich ringsum aus. Manchmal löste sich ein Stein und rollte den Abhang hinunter. Andere wurden mitgerissen. Es war mir, als ob mir die Berge ihre Geschichte erzählen wollten: wie sie aufgepreßt, gefaltet und hoch aufgetürmt wurden, um später wieder zerrissen und abgetragen zu werden im Laufe unendlicher Zeiten.
Wieder zähle ich während eines Paßüberganges acht Kamelskelette; an dem einen knabbert ein großer Hund herum, daß es in den Knochen klappert und mein Wasiri fast scheut. Unser kleiner Hund ist sehr neugierig und will mit dem großen anbandeln, aber der knurrt verdächtig, worauf der kleine zu bellen anfängt und sich zurückzieht.
Weiter geht es durch die öde Bergwelt. Das Wetter hat sich wieder aufgeklärt. Gegen elf Uhr sehe ich über die kahlen verwitterten Berge ein paar herrliche Schneezacken aufragen, und als wir gegen zwölf Uhr nach Ser-i-Kutel kommen, haben wir ein Panorama der ganzen Schneegipfel des Kuh-i-Baba vor uns. Die Afghanen wollten weiterziehen, aber ich erklärte ihnen, daß ich hier bleiben wolle, um ein Rundpanorama aufzunehmen und jeden Gipfel einzupeilen. So bleiben wir denn in Ser-i-Kutel.
Mittags ist es recht schön warm. Der Himmel ist vom reinsten Blau, und der Schnee der hohen Berge glitzert in der Sonne. Die kleinen Bäche sind wieder aufgetaut, und überall sprudelt das klare Wasser und springt von Stein zu Stein.
Im Robat war eine Kompanie Soldaten untergebracht, die hier in diesem Gelände ihre Übungen abhielten. Der Hauptmann, ein großer alter, wetterfester Hesare, war ein prächtiger Kerl. Nachmittags lud er mich zum Tee ein, und wir ließen uns im Sonnenschein auf dem platten Dach des Karawanserai nieder. Seine Leibwache war stets bei ihm und präsentierte jedesmal das Gewehr, wenn ich zu ihm trat. Als wir dann zusammen Tee tranken, er meinen geologischen Kompaß (auf persisch Kibla Nameh genannt, da man mit Hilfe des Kompasses feststellen kann, wo Mekka liegt), Feldstecher und Photoapparat bewunderte, da war es mir, als hätte ich das alles schon einmal erlebt; irgendwo und irgendwann, vor unendlich langen Zeiten. Auch damals saßen wir auf dem flachen Dache eines Karawanserai, auch damals dieselbe Umgebung, dasselbe Gespräch, dieselben Menschen. Ein seltsames Gefühl bemächtigt sich unser in solchen Sekunden; man wagt kaum zu atmen und weiß nicht, was die tiefere Bedeutung, der Sinn davon ist. Man möchte den Schleier, der soeben vor unseren Augen zerrissen, gerne weiter lüften, um Geheimnisse zu erfahren, die uns sonst verborgen sind. Aber ebenso schnell, wie der Gedanke aufblitzt, verschwindet er in ein Nichts, und die Wirklichkeit tritt wieder vor uns hin.
Nach dem Tee bestiegen wir eine der umliegenden Anhöhen, von denen aus wir eine weite Fernsicht genießen konnten. Aber ein kalter Wind blies hier und der Hauptmann sowie Mesjidi Khan, die mit mir gekommen waren, froren trotz der dicken Schafpelze, die sie trugen. »Bisjar chunuk äst, Bisjar chunuk äst« (es ist bitter kalt), sagte der Häuptling mehrmals, um mich zu bewegen, mein Zeichnen aufzugeben. Aber ich ließ mich nicht beirren, arbeitete ruhig weiter und photographierte.
24. November. Der heutige Tagesmarsch bot viel Interessantes. Wir brachen gegen 6½ Uhr auf. Ein herrlicher Sonnenaufgang! Ich war allein vorausgeeilt und hatte die anderen weit hinter mir gelassen. Feine bläulichgrüne Schleier, unendlich zart und duftig wie ein Hauch, überzogen den Himmel im Osten, und einige kleine goldene Wolken, die in ein strahlendes Rosa übergingen, schwebten über den stillen Schneegipfeln (Abb. 22). Ich setzte mich auf einen großen Felsblock und blickte gen Osten, wo jeden Augenblick das Tagesgestirn sein flutendes Licht über das Land ausgießen mußte. Ich verspürte nichts von der Kälte und dem Wind; das gewaltige Schauspiel der Natur hielt mich in Bann. Wenn ich nur diese Farben festhalten könnte! Sie sind so unbegreiflich, so unwirklich, so märchenhaft schön! Und immer feuriger wird das Flammenmeer des Himmels und immer mehr erglühen die Schneekuppen der Berge! Eine unendliche Sehnsucht packt mich. Festhalten möchte ich diese Bilder, möchte sie eingraben in meine Seele; denn nur flüchtig sind diese Augenblicke auf unserer Erde, flüchtig wie das Glück, das kaum uns gegeben, wieder entschwindet. Und lange, lange zehren wir von solchen Augenblicken; in düsteren Stunden des grauen Alltags, wenn alles trostlos und öde erscheint, dann treten diese Bilder wohl wieder plötzlich vor uns hin, erinnern uns an ein Glück und geben uns wieder neuen Lebensmut. Und dann kommt die Sonne und färbt die Kuppen der Berge purpurrot, läßt sie aufflammen einen nach dem anderen. Und ein Meer von Licht gießt sich über die einsame Bergwelt, weckt sie aus den kalten Armen der Nacht. Immer wieder und wieder, Tag für Tag muß ich diesen Siegeszug des Tagesgestirns bewundern, und die Sonne ist mir in diesen Jahren mein liebster Freund geworden. Sie ist für mich das Symbol des Guten und Reinen, das sich auch im Menschen immer wieder und wieder Bahn bricht und ihn zur Höhe, zum endlichen Glücke führt.
Wir befinden uns im Quellgebiet des Hilmend; hoch wandern wir über die Bergrücken und blicken hinab in die tiefen Schluchten und Täler, die sich die Flüsse in die Bergwelt gerissen haben. Und ringsherum – aus violettblauen Nebelschleiern auftauchend – reihen sich die weißen Zinnen und Zacken der hohen Berge, die das Hochplateau der Hilmendquellen einfassen (Abb. 20). Unter uns tost und braust der Fluß, den wir überschreiten müssen (Abb. 26). Steil geht es die Felsen hinab, und tief unter uns sehen wir den Steg, der den Fluß überspannt. Eng schließen sich die Felsen über uns zusammen. Sie bestehen aus den buntesten Gesteinen. Am Flußufer glitzert es wie eitel Silber von Millionen feiner Glimmerschüppchen, die dem Sande beigemengt sind und von denen das Sonnenlicht reflektiert wird. Der Fluß führt in dieser Jahreszeit wenig Wasser; aber im Frühjahr und Hochsommer sollen sich gewaltige Fluten hier hinunterwälzen; selbst in dem entfernten Robat Ser-i-Kutel soll man das Donnern und Rauschen des Flusses vernehmen können.
Wir überschreiten die Brücke und steigen dann am anderen Ufer wieder langsam auf den Plateaurand hinauf. Der Weg ist stark vereist, die Pferde gleiten und stürzen, so daß wir gezwungen sind, Sand und Steine auf das Eis zu streuen.
Es begegneten uns einige Hesarenfamilien, sonst ist das Land öde und ohne Leben. Von der Tierwelt haben wir bis jetzt eigentlich gar nichts zu sehen bekommen. Wir ziehen über das große Plateau. Langsam verrinnen die Stunden. Wir sind jetzt in einem interessanten Eruptivgebiet; rechts vom Wege fand ich einen Asbestberg, und Porphyre, Granite sowie basische Eruptivgesteine wechseln häufig miteinander ab.
Dann kommen wir in eine breite Talebene, in der das große Dorf Rah-kol liegt. Seit langer Zeit sehen wir wieder einmal ein paar Bäume. Die Häuser waren hier buchstäblich mit Schafdungfladen beklebt, die an der Sonne trocknen sollten, um später als Feuerungsmaterial verwendet zu werden.
Wir haben jetzt wieder einen herrlichen Ausblick auf die Kuh-i-Baba-Kette. Die Pferde gehen sehr langsam, und die Marschgeschwindigkeit nimmt von Tag zu Tag ab. Vor uns dehnt sich ein großes, von vielen kleinen Bächen durchschnittenes Hochplateau aus (Abb. 24). Mit Hilfe des Fernglases erkenne ich das Karawanserai von Badassia. Aber stundenlang müssen wir noch reiten.
Wenn man täglich so zehn Stunden im Sattel sitzt, wird man schließlich müde und gleichgültig gegen alles. Ich glaube, ich bekam es fertig, manchmal an gar nichts zudenken. Gegen vier Uhr kamen wir im Rabat an, das verlassen war. Gul Mohammed war im Dorfe gewesen und hatte versucht, Lebensmittel und Brennholz zu kaufen; aber die Leute waren sehr unfreundlich und gaben nichts. Es blieb uns also nichts anderes übrig, als uns selbst zu helfen. An einigen Stellen war das Robat eingefallen, die Decken eingestürzt; dort sahen die dicken Balken heraus. Das würde ein feines Brennholz geben! Aber es war unmöglich, die Hölzer herauszuziehen oder zu zerkleinern. Uns fehlte es an Werkzeugen. Ich hatte nur meinen Geologenhammer und ein großes Taschenmesser. Nach stundenlangem Suchen und Arbeiten hatten wir endlich einige kleine Hölzer gefunden; dazu schnitt ich mit dem Messer von den größten Balken Späne ab, so daß wir wenigstens ein kleines Feuer anzünden konnten.
Mit dem Abendessen sah es auch traurig aus. Es gab trocken Brot mit Zucker. Dann gingen wir früh schlafen. Die Nacht war bitter kalt gewesen, und ein unfreundlicher Morgen mit schneidendem Wind und klingendem Frost erwartete uns. Der Mond stand noch am Himmel, und die Sterne funkelten, als die Tiere beladen wurden. Man konnte deutlich beobachten, wie der Mond sich mehr und mehr dem Horizonte zuneigte. Bald war er hinter der hohen Mauer des Robats verschwunden, und nur durch die Türöffnung fiel sein fahler Lichtschein in den Hof.
Der Sonnenaufgang bot wieder ein prächtiges Schauspiel. Vor uns war ein kleiner Paß, er war niedrig, machte uns aber viel zu schaffen. Es war eisig kalt, und obgleich wir alle zu Fuß gingen, waren wir bis ins Mark erstarrt. Unsere Lippen waren gerissen und blutig, ebenso unsere Hände.
Auf der Paßhöhe wollten wir wieder ein Feuer anzünden, aber das kärgliche Gestrüpp war so fest in den Boden gefroren, daß wir es erst mit dem Hammer herausschlagen mußten, was mit den klammen Händen nicht leicht war. Mein Geologenhammer war überhaupt zu allem gut; mehr als einmal am Tage verlangte Juma den »Chergosch«, sei es zum Zerkleinern des Hutzuckers, sei es um das Hammelfleisch mürbe zu schlagen und die Knochen herauszutrennen, sei es um einer allzu zudringlichen Katze einen Schlag damit zu versetzen!
Die Temperatur war -18 Grad Celsius. Wir freuten uns, als es bergab ging und wir im Morgensonnenschein reiten konnten. Gul Mohammed war zurückgeblieben. Dabei war es ihm geglückt, in ein paar kleinen Hesarenhütten einige Pfund prachtvoller Weintrauben aufzutreiben, die – wenn auch eiskalt und halbgefroren – trefflich mundeten. Wieder umgab uns richtige Hochgebirgslandschaft: Felsen, Schnee, Geröll; kein Grün, kaum ein Strauch' war zu erblicken.
Wir reiten durch eine malerische wilde Schlucht, wo unzählige Geier hausen. Sie sitzen stumm auf den Felsen, als ob sie aus dem Stein herausgeschlagen seien; nur wenn wir mit Steinen nach ihnen werfen, fliegen sie auf und schweben mit schweren Flügelschlägen den hohen Gipfeln zu. Dann kommen wir wieder in das breite Hilmendtal, in dem viele kleine Siedelungen liegen.
Heute früh schickten wir Gul Mohammed weit voraus, um für abends schon Proviant einzukaufen. Er schwang sich auf das eine Packpferd und ritt im Galopp davon. Als wir nach einer Stunde zu ihm stießen, hatte er tatsächlich einige Hühner erstanden, die wir dem einen Packpferd aufbanden Auch war es ihm geglückt, fünf Brote zu kaufen.
Zur Linken haben wir jetzt ganz nahe die mit Schnee bedeckten Berge des Kuh-i-Baba. Ich mache verschiedene photographische Aufnahmen und zeichne von der Hauptkette ein Panorama. Auch das Hilmendtal ist von Terrassen eingesäumt, was beweist, daß auch dieser Fluß früher viel größere Wassermengen führte (Abb. 25). Wohin man auch in Afghanistan kommt, überall findet man die Hinweise auf ein ehemals viel feuchteres Klima. Nur die allerhöchsten Bergketten scheinen während der Eiszeit stärker vergletschert gewesen zu sein. Sonst äußerte sich die Eiszeit in gewaltigen Niederschlägen; große Flüsse müssen das Land durchzogen und viele Seen bestanden haben. Doch dies sind Fragen, die ausführlich in meinem wissenschaftlichen Werke behandelt werden sollen.
Vor uns, südlich vom Flusse, sehen wir den Anstieg zu einem hohen Passe; eine große Kamelkarawane zieht gerade hinauf; auch wir folgen diesem Wege. Schnee, Schnee und wieder Schnee! Wir sind jetzt über 3000 Meter hoch. Kurz vor Jaokul treffen wir auf die große Straße, die von Turkestan kommend über Bamian – den Hajigakpaß – Jaokul nach Kabul geht. In dem Karawanserai von Jaokul ist daher viel Leben, und nur mit Mühe finden wir hier Platz. Die Leute hier sind überdies sehr unfreundlich und die Lebensmittelpreise hoch.
Nach einer kalten Nacht brechen wir morgens gegen fünf Uhr auf. Es ist Vollmondschein, und infolge des vielen Schnees ist es sehr hell. Der Weg vom Robat bis auf die Paßhöhe des Unai steigt langsam an; in der frischen Morgenluft bereitet das Gehen eine wahre Freude. Eine tief eingeschneite Hochgebirgswelt umgibt uns (Abb. 23). In einem kleinen Seitentälchen, das den Weg kreuzt, finden wir einige Gräber. Einfache Steinplatten und Felsblöcke sind aufeinandergehäuft, und an Kopf- und Fußende sind zwei hohe Steinplatten in den Boden gesteckt. Juma, der schon in früheren Zeiten durch Jaokul gereist ist, erzählt uns folgende Geschichte:
Es war in einer Winternacht, als eine große Karawane, von Turkestan kommend, in diesem Tälchen das Lager aufschlug. Die Kamele ließ man sich in Reih und Glied nebeneinanderlegen, nachdem ihnen die Lasten abgenommen waren. Wachtfeuer wurden angezündet, Tee gekocht und der Pilau zubereitet. Dann ging man schlafen. Die Karawane brachte die Staatseinnahmen von Turkestan nach Kabul, und war sogar von Soldaten begleitet. Nachts hörte man plötzlich das Getrappel von Pferden, und ehe man wußte, was los war, fiel eine starke Räuberbande über das Lager her. Es kam zu heftigen Kämpfen, in deren Verlauf die Räuber die Oberhand behielten, zahlreiche Begleiter der Staatskarawane erschossen und mit dem Raub in die Berge verschwanden. Trotz eifrigen Suchens und Nachforschens ist es nie gelungen, der Räuber habhaft zu werden.
Kurz vor der Paßhöhe sahen wir noch einen Wolf, der an einem Pferdeskelett herumzerrte, aber Reißaus nahm, sobald er uns erblickte. Tief unter uns in einem eingeschneiten Seitental glaubten wir ebenfalls zwei Wölfe zu sehen, aber als wir das Fernglas zu Hilfe nahmen, erkannten wir, daß es zwei große gelbe Hunde waren. Gerade als wir auf der Paßhöhe anlangten, ging die Sonne auf. Im Westen war der Himmel noch dunkel, und der Vollmond stand silberhell über den Bergen; im Osten aber war der Himmel hellgrüngelb gefärbt. Der Sonnenaufgang bot immer so unvergeßlich schöne Bilder, daß ich immer wieder darauf hinweisen muß. Erst wenn man von allen Fesseln der Zivilisation losgelöst ist und ganz frei die Schönheiten der Erde auf sich einwirken lassen kann, gleichsam mit der Natur eins wird, sie miterlebt, lernt man die Erde und das Leben lieben.
Mit dem Unaipasse haben wir den letzten hohen Paß auf dem Wege nach Kabul überschritten, und wir steigen jetzt hinab in tiefere, wärmere Regionen. Schon nach kurzer Zeit bemerken wir den Wechsel in der Vegetation. Wir sind in das Gebiet des oberen Kabulflusses eingetreten. Hohe Pappeln säumen den Lauf des Flusses ein, und als wir an einem kleinen Hain von 20 bis 30 dieser Bäume vorbeireiten, rufen die Afghanen begeistert: Jängäl, jängäl! Wald, Wald!
Am Wege waren kleine Verkaufsbuden aufgeschlagen, in denen Tee, Brot und Früchte zu haben waren. In einem schönen Verkaufsladen oder besser einer Teestube steigen wir ab, setzen uns auf den Teppich und lassen uns Tee bringen. Die Sonne scheint ordentlich warm; es kommt uns vor, als ob wir plötzlich wieder in den Sommer versetzt sind. Gestern früh hatten wir noch fast -20 Grad, und heute will die Sonne uns verbrennen.
Als wir weiterzogen, gerieten Mesjidi Khan und Gul Mohammed in einen heftigen Streit. Wir ritten alle ganz vergnügt, als plötzlich Mesjidi Khan vom Pferde stieg und Gul Mohammed zu Boden warf. Dieser, nicht faul, griff Mesjidi Khan ans Bein, so daß er zu Fall kam, und dann kugelten sie alle beide im Schmutze herum! Unter Püffen und Schlägen, Kneifen und Beißen wurde dieser Kampf ausgefochten, bei dem schließlich Gul Mohammed dem gewandten Mesjidi Khan unterlag. Die beiden Kampfhähne warfen sich den ganzen Tag noch Schimpfworte an den Kopf.
Gegen elf Uhr passierten wir das Robat Ser-i-tscheschme, ließen es aber links liegen. Bis zum Robat Kute Eschrau ritten wir in Begleitung zweier kleiner Jungen, die zusammen auf einem Esel saßen. Sie sangen sehr hübsche Lieder und waren sehr lustig und übermütig. Manchmal ließen sie den Esel galoppieren; aber einmal wurde das kleine Grautier störrisch, und beide Jungen lagen auf der Straße und wälzten sich im Staub. Der arme Esel mußte aber diese Schandtat schwer büßen, denn er wurde dafür sehr geschlagen und mit Steinen bombardiert.
Abends wurde im Robat große Toilette gemacht; wir zogen neue Wäsche an und rasierten uns, weil wir morgen in Kabul einziehen sollten. Große Räubergeschichten wurden erzählt, und Gulam Ali bestand darauf, daß ich meinen Revolver und Mesjidi Khan sein Gewehr in Ordnung brachten. Dann gingen wir früh schlafen.
Der letzte Tagesmarsch nach Kabul! Wir erhoben uns schon früh und brachen um fünf Uhr auf. Es war wieder sehr kalt. Auf den Bergen lag nur wenig Schnee, aber wir waren auch schon mehr als tausend Meter wieder bergab gestiegen. Der Sefid-Chakpaß, den wir am Morgen überschritten, ist ebenso berüchtigt wie der Unai. Mesjidi Khan sah in jedem Entgegenkommenden einen Räuber und hielt sein Gewehr immer schußbereit in der Hand.
Langsam zogen wir durch große Blockmeere nach der Paßhöhe hinauf. Aber kein Räuber zeigte sich; nur hin und wieder begegneten uns Karawanen oder einige Hesares. Viele trugen ein langschäftiges Beil, das ihnen im Kampfe mit Wölfen als Waffe dient. Auch trafen wir einen einsamen Wanderer in zerlumpten Gewändern, der mit einem Speer bewaffnet war. Als wir dicht unter der Paßhöhe waren, sahen wir in den Felsen einige mit Flinten bewaffnete Burschen liegen; aber sie entpuppten sich als die von der Regierung hier stationierten Schutzposten, die beinahe uns für Räuber angesehen hätten.
Auf der Paßhöhe ruhten wir uns etwas aus und warteten, bis auch Gul Mohammed mit den Lasttieren kam. Wild, öde und zerrissen ist auch hier die Bergwelt, die in Schutt gehüllt ist und in der man kaum ein Fleckchen Grün zu sehen bekommt. Etwas unter uns sahen wir ein Lehmfort. Als wir dieses passierten, hielt man uns an, und wir mußten in einem großen Buche bescheinigen, daß auf dem Passe alles in Ordnung war und wir keine Begegnung mit Räubern gehabt hatten.
Je weiter wir ritten, desto lebhafter wurde der Verkehr auf der Straße. Karawane folgte auf Karawane, und wir begegneten auch zwei Arbeitselefanten. In einer kleinen Teestube zur Seite der Straße machten wir wieder Mittagsrast. Dann ging es weiter. In der Sonne war es sehr schön warm, und das Reiten machte wirklich Vergnügen.
Gegen zwei Uhr zeigte mir Gulam Ali Babur Bagh, wo jetzt die deutsche Gesandtschaft untergebracht ist (Abb. 39). Vor meiner Ausreise hatte ich einige Bilder von Kabul gesehen, und ich erkannte die zwei charakteristischen Berge, deren Kämme die Ruinen der alten Befestigungen tragen. Zwischen beiden Bergen hat sich der Kabulfluß einen schluchtähnlichen Durchgang geschaffen.
Kurz bevor wir die Stadt betraten, hatten wir noch das Zollwächterhaus zu passieren, und ein Zollbeamter geleitete uns durch finstere enge Winkel des Basars nach dem Zollamt, wo unser Gepäck erst einmal unter zollamtlichen Verschluß genommen wurde. Mesjidi Khan holte inzwischen einen Wagen und hatte auch ausfindig gemacht, wo meine Kameraden weilten. Schon nach einer Viertelstunde, als wir auf einer großen von hohen Bäumen eingefaßten Chaussee dahin fuhren, traf ich Blaich, der mich freudig begrüßte, und war so wieder mit meinen Kameraden vereint, von denen ich zweieinhalb Monate getrennt gewesen war.
Im Winter, von Dezember bis Mai, ist der Weg durch das Hesarajat, den ich in den letzten beiden Kapiteln beschrieben habe, infolge starker Schneefälle gesperrt, und alle Karawanen, die von Herat kommen, müssen dann den großen Umweg über Kandahar machen, den auch meine Freunde zurückgelegt hatten. Wie furchtbar die Strapazen einer Durchquerung des Hesarajats im Winter sind, zeigen uns am besten die Berichte des indischen Großmoguls Baber (1483-1530), die in seinen Memoiren niedergelegt sind und die ich hier auszugsweise wiedergeben möchte; es heißt dort:
– – – »Von dem Augenblicke an, wo wir Lenger verließen, schneite es ständig bis nach Chekh Cheran (Gegend von Dauletzar). Je weiter wir zogen, um so tiefer wurde der Schnee. Bei Chekh Cheran reichte er den Pferden schon bis an die Knie … Zwei oder drei Tagereisen nach dieser Gegend wurde der Schnee außerordentlich tief; an vielen Stellen fanden die Pferde keinen festen Boden unter den Füßen, und es schneite immer noch … Sultan Bischâi war unser Führer. Er verlor den Weg und konnte ihn nicht wiederfinden. Am nächsten Tage war der Schnee so tief, daß wir trotz aller Anstrengungen den Weg nicht wiederfanden. Wir konnten weder vor- noch rückwärts … Eine ganze Woche lang fuhren wir fort, den Schnee niederzutreten und konnten trotzdem nicht mehr als zwei bis drei Meilen am Tage zurücklegen. Ich selbst half mit, den Schnee niederzutreten. Bei jedem Schritt sanken wir bis an die Brust ein. Da die Kraft desjenigen, der zuerst ging, nach ein paar Schritten schon erlahmte, mußte er sich bald ablösen lassen. Auf ihn folgten 10 bis 20 Mann, die den Schnee niedertraten, und darauf folgte ein unbemanntes Pferd, das bis zum Sattelgurt einsank. Hatte es 10 bis 15 Schritte gemacht, so war es total erschöpft.«
Nach ein paar Tagen erreichten sie dann einen Ort, namens Anjukan, und von dort aus gelangten sie an eine Höhle, Khawal genannt, am Fuße des Zirinpasses. Alle diese Orte müssen in den Gebirgen gelegen haben, die sich zwischen Akserat und Bamian ausdehnen. Es heißt dann weiter in dem Bericht:
»Die ersten Truppen erreichten Khawal noch bei Tage. Gegen Abend und noch nachts kamen immer mehr Nachzügler an, und jeder mußte dort halten, wo er gerade war. Manche mußten im Sattel den Morgen erwarten. Die Höhle war klein. Mit einer Hacke schaufelte ich den Schnee vor der Höhle fort und schuf mir so ein Lager. Ich grub mich bis zu den Achseln in den Schnee ein und erreichte den Erdboden nicht. Dieses Schneeloch gab mir etwas Schutz vor dem Winde. Einige wünschten, ich solle in die Höhle gehen, aber ich wollte nicht. Ich fühlte, daß es unvereinbar wäre mit dem, was ich ihnen schuldete, wenn ich in einem warmen Räume bequem untergebracht sein sollte, während meine Soldaten inmitten von Schnee und Sturm sich draußen befanden. Es war nur gerecht, daß ich alle Leiden und Beschwerden, denen sie unterworfen waren, mit ihnen teilte. Es gibt ein persisches Sprichwort, das lautet: ›Tod in Gesellschaft guter Freunde ist ein Fest!‹ Daher blieb ich bis zum Nachtgebet im Schneetreiben sitzen; der Schnee fiel so dicht, daß bald Kopf, Lippen und Ohren zehn Zentimeter dick mit Schnee bedeckt waren. In dieser Nacht zog ich mir ein schweres Ohrenleiden zu.«
Gerade zur Zeit des Nachtgebets hatte eine Gruppe seiner Leute ausfindig gemacht, daß die Höhle groß genug war, um alle Mann aufzunehmen.
Diese Schilderung gibt uns ein anschauliches Bild von den Gefahren, die den Reisenden im tiefen Winter auf dieser Straße erwarten.