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Maxtlas Maultier brach fast zusammen, als der Indio auf der Hazienda aus dem Sattel sprang. Er berichtete von Tejadas Gefangennahme, und man erzählte ihm das Wenige, das man seither im Zusammenhang mit Alonzos Verschwinden ermittelt hatte. Es war keine Spur gefunden worden. War der junge Mann tot, so mußte das Wasser seinen Leichnam bergen. Es gab kaum eine andere Möglichkeit.
Der Indio hörte sehr aufmerksam zu. »Haben wir kleines Canoa auf dem Fluß?« fragte er schließlich.
»Ja, es sind mehrere Canoas da, für die Fischer.«
»Gut, mir geben. Mörder kommen von Fluß. Dort nachforschen.«
Ein Arbeiter der Hazienda brachte ihn zum Flußufer. Es lag dort ein Canoa indianischer Bauart. Maxtla sandte den Mann zurück und bestieg das Boot. Langsam ruderte er am Ufer des sanft dahinströmenden Flusses entlang auf die Stelle zu, wo der Pfad mündete, an dessen Ausgang der Neger Caldas erwartet hatte. Maxtla war mit allen Instinkten des Wilden begabt; in den blutigen Kriegen der Weißen hatte er seine natürlichen Anlagen fabelhaft ausbilden können.
Aufmerksam durchforschten die Augen des Indios das Schilf und die Bambusstauden. Plötzlich hielt er im Rudern inne. Hier hatte sich ein größeres Boot den Weg zum Ufer erzwungen; es war unverkennbar. Er trieb das leichte Canoa auf die Stelle zu. Aus dem Boot kletternd, untersuchte er den weichen Boden. Er stellte sofort mehrere noch deutlich erkennbare Fußspuren fest. Augenscheinlich hatten sich mehrere Männer hier den Weg durch das Schilf gebahnt. Er ging der Spur nach; sie führte bald in hochstämmigen Wald. Hier hatte, auch das war deutlich erkennbar, die Machete gearbeitet, um einen Pfad durch das ziemlich dichte Unterholz zu brechen. Der Weg, den Maxtla verfolgte, führte schließlich den Feldern zu. Durch zerrissene Büsche und Schlingpflanzen gelangte er auf den Pfad, auf dem der Señor de Caldas gekommen war. Der Boden in der unmittelbaren Umgebung des Pfades war zertreten. Aber es war sinnlos, sich mit den zahllosen hier eingeprägten Fußspuren näher zu beschäftigen; die Leute der Hazienda waren hier soviel hin- und hergelaufen, daß es nicht mehr möglich war, irgendwelche weiterführenden Feststellungen zu treffen. Er betrat die andere Waldseite, aber hier war kein Mensch gewesen, der Boden war unberührt.
Wieder zurückkehrend, gewahrte sein unentwegt forschendes Auge eine Stelle, an der mehrere Menschen hintereinander hinter einem dichten Farnbusch gestanden haben mußten. Maxtla untersuchte Blätter und Halme nach Blutspuren, fand aber nichts.
»Es waren fünf Männer«, murmelte Maxtla, »sie haben Alonzo einen Lasso oder einen Poncho übergeworfen und ihn dann in die Büsche gezerrt. Er hat sich gewehrt, aber sie waren fünf gegen einen und hatten ihn mit dem Lasso oder Poncho gefesselt; er war machtlos. Hier ist ihm auch der Büchsenschuß losgegangen.« Und wieder suchte er eifrig, aber vergeblich nach Blutspuren. Unwillkürlich atmete er auf. Sie haben ihn lebend nach dem Fluß geschleppt, dachte er. Er ging den tief ausgeprägten Spuren nach. An den Blättern einer Gruppe Stechpalmen fand er ein paar Wollfetzen; offenbar hatte ein Poncho hier die Büsche gestreift. Alle Fußspuren deuteten auf die rohe Fußbekleidung, wie sie von einfachen Leuten getragen wurde.
Er kam wieder ans Wasser, Es war kein Zweifel, sie hatten den Verschollenen lebend in das Boot geschleppt. Noch einmal aufmerksam alle Spuren prüfend, stieß er auf den Abdruck eines Stiefels. Er suchte aufgeregt weiter, aber die deutlich erkennbare Spur fand sich ein zweites Mal nicht. Sie war nur einmal dicht am Ufer vorhanden. Ein bestiefelter Mann mußte im Boot gestanden haben und nur einmal für einen Augenblick ans Ufer getreten sein. Maxtla kniete sich nieder und betrachtete die Spur, jede Einzelheit sorgfältig prüfend. Kein Zweifel: ein Weißer, ein Mann mit Reitstiefeln, war bei den Piraten gewesen. Blitzartig tauchte dem Indio die Erinnerung an den Mann aus Naëva auf, der mit knapper Not dem Alguacil entgangen war, von dem Huatl erzählt hatte.
Der Indio richtete sich auf und sah traurig und niedergeschlagen über das Wasser. Don Alonzo war lebend in das Boot gebracht worden, aber lebte er noch? Es war nicht anzunehmen. Sie würden ihn, um jede Spur zu verwischen, irgendwo inmitten des Flusses versenkt haben. Denn welchen Sinn sollte es für die Piraten haben, sich mit einem Gefangenen zu belasten, da sie nicht wagen konnten, sich bemerkbar zu machen und ein Lösegeld zu verlangen? Die Leute hatten in höherem Auftrag gehandelt. Dem Mann in Bogotá, dem es darauf ankam, den Erben des Hauses d'Alcantara aus dem Wege zu räumen, war mit Lösegeld nicht gedient; er wollte einen Gegner vernichten.
Gesenkten Hauptes schlich der Indio nach der Hazienda zurück. Er hob mit einer Geste tiefer Niedergeschlagenheit die Schultern und ließ sie wieder fallen, als die Brüder de Vivanda ihn nach den Ergebnissen seiner Nachforschungen befragten. Don Vincente war außer sich vor Schmerz und Empörung. »Wo bleibt Gottes Gerechtigkeit«, rief er, »wenn dem Schurken in Bogotá möglich sein soll, einen der edelsten Männer dieses Landes von Meuchelmördern ungestraft morden zu lassen?«
»Lästere nicht«, sagte der Cura still, »Gottes Wege sind nicht zu erforschen. Uns bleibt nichts übrig, als uns seinem Ratschluß zu beugen.«
Der Indio, der stumpfsinnig, mit niedergeschlagenen Augen an der Tür gestanden hatte, wandte sich zum Gehen. »Maxtla jetzt schlafen«, sagte er, »morgen früh bitten um gutes Pferd, gute Büchse, etwas Geld.«
»Was willst du noch?« fragte Don Vincente. »Töten Don Alonzos Feinde!« knirschte er; in seinen dunklen Augen funkelte der Haß.
»Die Rache ist mein, spricht der Herr!« sagte der Cura still, während Tränen sein altes Gesicht überströmten.
Der Haß in den Augen des Indios erlosch nicht. »Frommer Vater beten«, sagte er, »gut. Maxtla Chibchakrieger. Rächen seinen Freund. Das auch gut!«
Er wandte sich ab und suchte schweigend seine Schlafstätte auf. Als er am anderen Morgen in den Sattel stieg, stand Elvira neben ihrem Vater und ihrem Onkel. Ihr hatte man nur gesagt, Alonzo sei gefangen fortgeführt worden. Das Mädchen war sehr blaß und hatte tiefe Ringe unter den Augen; man sah ihr an, daß sie in der Nacht nicht geschlafen hatte. Sie reichte dem Indio die Hand. »Rette ihn, Maxtla«, sagte sie und wehrte tapfer den Tränen, die in ihr aufkommen wollten, »bring ihn uns wieder.«
Der Indio streichelte ihr sacht die Hand, aber sein Blick war ausdruckslos. »Señorita beten zu Doña Maria«, murmelte er und sprengte davon, ohne sich noch einmal zu wenden.
Bald darauf wurde Sancho Tejada von dem Majordomo gefangen eingebracht, ganz beleidigter Spanier. Was mutete man ihm, einem Caballero, zu! Er hüllte sich in Verachtung. »Die Señors werden ihre Übereilung bedauern«, versicherte er pathetisch.
Der Meta, der nach der Behauptung Huatls, des Chibchaindianers, die Pirateninsel bergen sollte, ist ein mächtiger Nebenfluß des Orinoko. Dort, wo er den Ocoa aufnimmt, führt er trübes Wasser, sein Stromlauf ist von Inseln und aufragenden Felsen durchsetzt. Schilf, Bambus und Weiden säumen seine Ufer, die, wie bei allen Gewässern der Llanos, von dicht stehenden hochstämmigen, mehr oder minder breiten Waldstreifen eingefaßt werden. Gewaltige Alligatoren sonnen sich auf flachen Sandinseln, der Riesenotter läßt zuweilen sein eigenartiges Gebell vernehmen, und das Geheul der Brüllaffen hallt an den Stromufern wider.
Die Wasserläufe sind die Lebensadern der Llanos, sie vermitteln den Verkehr mit dem Orinoko und dadurch mit dem freien Meer, und geben Gelegenheit, die Erzeugnisse des Landes dem Welthandel zuzuführen.
Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, zu der Zeit also, da unsere Geschichte spielt, war es unendlich leichter, die Bodenschätze des Landes dem Meer zuzuleiten, als europäische Güter in das Land einzuführen, denn das Dampfschiff war damals kaum in Gebrauch, und die starke Strömung der Flüsse bot einfahrenden Schiffen sehr ernste Hindernisse. Der Orinoko wurde zwar auch damals schon von Dampfern befahren, seine Zuflüsse dagegen waren, selbst an schiffbaren Stellen, im wesentlichen auf Segel- und Ruderboote angewiesen.
Die Gerüchte über eine im Flußbereich hausende Bande von Piraten wollten seit geraumer Zeit nicht mehr verstummen, doch war es bisher nicht gelungen, greifbare Anhaltspunkte zu gewinnen; jeder Versuch, sich über das unheimliche Treiben auf den Flüssen Gewißheit zu verschaffen, war bisher mißglückt.
Unterhalb der Mündung des Icaho, eines weniger bedeutenden Flußlaufes, erhob sich inmitten des Stromes eine langgestreckte Insel, deren schroffe Felseneinfassung den Schrecken der Schiffer bildete. Die Strömung war zu beiden Seiten der Insel ungewöhnlich stark, und das Wasser barg zahllose unterirdische Klippen. Das felsige Eiland, dessen Höhen ragende Baumwipfel krönten, wurde deshalb von allen Fahrzeugen ängstlich gemieden. Die Ufer des Flusses waren hier viele Leguas weit unbewohnt, und man mußte weit in die Llanos hineinreiten, um einen einsamen Rancho zu finden.
Hätten die Fischreiher, die hier und da auf den hohen Bäumen der Ufer saßen, erzählen können, so hätten sie vielleicht von dem seltsamen Gebaren eines roten Mannes berichtet, der, bald in einem kleinen Canoa versteckt im Schilf liegend, bald hoch oben im Laub eines Baumes hockend, die Insel zu beobachten schien.
Dieser rote Mann war Maxtla. Der Indio war zu Pferde dem Lauf des Ocoa eine gute Weile gefolgt; manche seiner zahllosen Windungen hatte er auf dem Landweg abgeschnitten. Maxtla hatte sich leicht ausgerechnet, daß sein gutes Tier ihm ermöglichen mußte, das Boot, in dem Alonzo davongeführt worden war, trotz seines beträchtlichen Vorsprunges bald zu überholen. Überall, wo Häuser standen und Furten waren, hatte er sich bei den Leuten seiner Farbe nach dem Boot erkundigt, dessen Form und Bauart er gut im Gedächtnis hatte. Aber er hatte nichts erfahren; niemand hatte ein solches Boot gesehen. An sich konnte das Boot auch in der Nacht gefahren sein, doch war das kaum anzunehmen, weil in diesem Falle ein sehr erfahrener, mit den Tücken des Stromes genauestens vertrauter Mann an das Steuer gehört hätte.
In Cabuyaro hatte Maxtla sein Pferd einem Posadero zur Pflege übergeben und sich ein Boot gekauft. Auf seinen Kriegsfahrten im Norden am Magdalenenstrom und auf den Lagunen hatte der Indio gelernt, ein Canoa auch unter schwierigen Stromverhältnissen zu führen. Mit dem Boot war er den Fluß hinuntergefahren, bis zu der von Huatl beschriebenen Insel. Dort, im Schilf verborgen, lag er nun auf der Lauer.
Sehr bald stellte er fest, daß die Insel von Menschen bewohnt war. Von der Höhe eines Baumes herab gewahrte er eine dünne Rauchfahne, die von Zeit zu Zeit über den Baumwipfeln sichtbar wurde. Unzweifelhaft hatte das Eiland auch eine geschützte Anlegestelle; sie festzustellen, war ihm allerdings bisher nicht möglich gewesen, da er ja während des Tages selbst die größte Vorsicht beobachten mußte.
Nacht für Nacht aber lag Maxtla auf dem Wasser. Er machte sein leichtes Boot dann oberhalb der Insel an einer die Wasserfläche nur wenig überragenden Felsspitze fest, an der einige Büsche wuchsen, die im Notfalle selbst bei Tageslicht etwas Deckung gewährten.
Vier Nächte hockte er hier im Boot, mit einer Geduld, wie sie nur ein Indianer aufbringt, der auf seinen Todfeind lauert. Es nahte sich das Ende der vierten Nacht, als sein Ausharren belohnt wurde. Gegen Morgen vernahm er oberhalb der Strömung leichte Ruderschläge. Bald erkannte sein scharfes Auge das erwartete Boot. Es kam rasch stromab. Maxtla lag in seinem Canoa und lugte durch die Büsche.
Als sich das Boot in gleicher Höhe mit ihm befand, ließ er in täuschender Nachahmung den Schrei des Andenadlers vernehmen. War Huatl an Bord, so wußte der nun, daß ein Chibcha aus den Bergen in der Nähe war; der Adler der Anden kam nur selten in die Niederung. Aufmerksam schaute er dem Boot hinterher, um festzustellen, welche Stromseite es nehmen würde. Als feststand, daß es die rechte Fahrrinne nahm, ließ er das eigene Fahrzeug in der gleichen Richtung treiben. Es war immerhin schon hell genug,. daß er das ziemlich große Boot klar erkennen konnte, während sein kleines und niedriges Fahrzeug selbst einem wachsamen Auge kaum auffallen konnte.
Das große Boot war schon fast an der Insel vorbei, da gewahrte Maxtla zu seinem großen Erstaunen, wie es wendete und nun stromauf lief, unter kräftig geführten Ruderschlägen gegen die Strömung ankämpfend.
Maxtla selbst hielt jetzt dicht am Ufer; vor dem schwarzen Hintergrund des Waldes war sein kleines Gefährt sicherlich nicht zu erkennen. Das fremde Boot kam allmählich wieder auf gleiche Flöhe mit ihm; urplötzlich verschwand es zwischen zwei Felsspitzen. Dort also befand sich die Anlegestelle; das zu wissen war gut. Des Indianers Auge prägte sich die Felsformen ein, er würde die Stelle nun jederzeit finden.
Und abermals ließ er den Schrei des Adlers ertönen, sein Fahrzeug in das Uferschilf lenkend, gerade der Stelle gegenüber, wo das andere Boot zwischen den Felsen verschwunden war. Vorsichtig ging er an Land, erkletterte einen hohen Ceibabaum und sah aufmerksam nach der Insel hinüber. Aber er sah von hier aus nur, daß sich zwischen der äußeren Felsumgürtung und einer inneren Erhebung eine Wasserfläche befinden müsse, die offensichtlich als Hafen diente und nur stromauf zugänglich war. Er kletterte von seinem Baum herunter.
Einen ganzen Tag lang verhielt er sich ruhig. Die Insel lag stumm und tot. Einige Kähne und ein Floß, die den Flußlauf herunterkamen, hielten sich ängstlich in weiter Entfernung. Maxtla wartete; seine Geduld war grenzenlos. Er führte, auf ähnliche Notwendigkeiten gefaßt, einigen Mundvorrat mit sich; er brauchte ja nicht viel. So kam die Nacht.
Und noch immer wartete der Indianer. Stundenlang schon breitete sich um ihn herum die samtene Dunkelheit, da ließ er sein Canoa in den Strom. Ein starker Wind kam auf, er half ihm, in seinem Rücken tobend, gegen die Strömung zu kämpfen. Durch das Rauschen, das er in den Kronen der Bäume erzeugte, erstickte er das schwache Geräusch seines Ruders. Er gelangte trotz der Dunkelheit bis zu den Felsen, zwischen denen das Piratenboot verschwunden war. Entschlossen lenkte er sein kleines Gefährt in das natürliche Tor. Sogleich befand er sich in ruhigem Wasser und erkannte bald, daß hier ein gewundener Wassergang durch die felsige Einfassung der Insel führte. Er legte das Ruder nieder; jetzt mußte jegliches Geräusch vermieden werden. Mit den Händen tastend, führte er das Canoa, es Schritt für Schritt von der Felswand abstoßend, geräuschlos weiter. Das alles verbrauchte endlose Zeit.
Nach einigen Windungen, deren Verlauf er sich genauestens einprägte, geriet er in ein ziemlich geräumiges Becken, in dem, schattenhaft wahrnehmbar, einige Kähne lagen. Er gewahrte am Ufer schwachen Feuerschein; er drang durch die Büsche und strahlte auch die unteren Baumäste an. Stimmengewirr drang an sein Ohr.
Er lauschte, ob sich nicht vielleicht ein Mensch in einem der Boote befinde, doch vernahm er nichts. Kein Atemzug verriet die Nähe eines Lebenden. Lautlos ruderte er mit der Hand und trieb das Canoa in dem stillen Wasser langsam ans Ufer.
Vorsichtig verließ er das Boot und kroch an dem grasigen, mit Buschwerk bestandenen Uferhang empor. Hier lag er still, und es gelang ihm, einen Blick durch die Zweige zu werfen. Er sah auf einem ebenen, von jeglichem Strauchwerk befreiten Platz einige schon stark heruntergebrannte Feuer, an denen noch mehrere rauchende Männer saßen. Er gewahrte ein paar roh zusammengeschlagene Hütten und ein etwas größeres Haus, das aus festem Material erbaut war. Er kroch weiter und gelangte, immer noch durch die Büsche gedeckt, in den Schatten eines Kautschukbaumes. Da sah er, und noch wagte er es nicht zu glauben, sein Herz drohte vor Erregung still zu stehen, im Schein eines Feuers an einen Baum gelehnt – den Totgeglaubten.
Der nicht eben weiche Indio begann zu zittern. Das Unwahrscheinliche, das im kühnsten Traum nicht zu Erhoffende war Wahrheit: Alonzo d'Alcantara lebte. Maxtla erkannte bald, daß der junge Mann mit einem Lasso an den Baum gebunden war. Er sah starr vor sich hin, seine Augen waren halb geschlossen, er machte sein stolzestes, hochmütigstes Gesicht.
Maxtla hatte seine Ruhe zurück. Don Alonzo lebte. Es war gut. Es ging nicht mehr um Rache. Es ging um die Rettung, die Befreiung des Gefangenen. Der Indio betrachtete mit gespannter Aufmerksamkeit seine Umgebung. Es war möglich, an jenen Baum zu gelangen, es war nicht einmal sonderlich schwierig. Schon wollte er sich in Bewegung setzen, da vernahm er Stimmen in seiner unmittelbaren Nähe. Er ließ sich fallen und verschwand in dem hohen Gras.
»Wenn ich nur wüßte, was du mit dem Kerl willst?«, knurrte eine tiefe Männerstimme. »Welch ein Unsinn, uns mit solchen Geschichten zu belasten.«
»Du kennst die Hintergründe nicht, Capitano«, antwortete ein anderer. Maxtla hatte den Zutreiber in Naëva nur einmal sprechen gehört, aber er erkannte schon nach den ersten Lauten: dies war der Mann; er lauschte angestrengt. »Der Kerl ist gut und gerne seine fünfzigtausend Pesos wert«, fuhr der Pirat fort. »Señor de Valla nämlich, dem allmächtigen Herrn Minister. Ich habe mir das sehr genau erzählen lassen und mich wohl gehütet, ein solches Kapital in den Fluß zu werfen. Ich verwette meinen Kopf: De Valla kauft ihn uns ab; seine ganze politische Existenz hängt daran und wahrscheinlich noch mehr.«
»Fünfzigtausend Pesos? Bist du verrückt?« Der Capitano, von der Höhe der genannten Summe überrascht, schien immerhin mißtrauisch.
»Ich sende morgen früh sichere Boten ab«, sagte der Mann aus Naëva. »Sind in zehn Tagen nicht fünfzigtausend Pesos in guten Wertpapieren in Cabuyaro an sicherer Stelle deponiert, kannst du den Burschen in den Orinoko tauchen, es sei denn, er löst sich selbst aus. Und es könnte sein, daß auch das nicht viel weniger einbringt.«
»Worauf er geschwind unseren Aufenthalt verraten würde.«
»Kaum möglich«, sagte der andere. »Er hat keine Ahnung, wo er ist. Während der ganzen Reise lag er mit verbundenem Kopf tief im Boot. Nein, verraten wird er uns nicht, wenn er auch möchte. Und er möchte wahrscheinlich, denn er sieht so aus. Der Kerl, der mich veranlaßte, mich seiner Person anzunehmen, war ein Idiot. Offenbar hatte er keine Ahnung, was sein Opfer wert war, sonst hätte er ihn sicherlich teurer verkauft. Nun, ich habe mein Versprechen gehalten, ich habe den Mann "beseitigt". Aber ich sehe nicht ein, warum wir Geld, das auf der Straße liegt, nicht aufnehmen sollen.«
»Gut«, erwiderte der Capitano, »warten wir es ab. Grundsätzlich noch einmal: du weißt, daß ich nicht für Gefangene auf dieser Insel bin.«
Die beiden entfernten sich von dem Baum, den sie aufgesucht haben mochten, um von den anderen nicht gehört zu werden; der mit der tiefen Stimme, der Capitano, war, wie Maxtla bei vorsichtiger Hebung des Kopfes erkannt hatte, ein Zambo.
Der Indio überlegte, ob er sofort einen Befreiungsversuch unternehmen solle. Vor allem, fand er, müsse der Gefangene von seiner Anwesenheit unterrichtet werden; er mußte wissen, daß ein Freund in der Nähe war, schon, um den Befreiungsversuch unterstützen zu können.
Er hätte gern gewußt, wieviel Leute auf der Insel waren; bisher war das nicht einmal mutmaßlich festzustellen gewesen. Zu sehen waren nur wenige, aber er wußte ja nicht, wieviele sich noch in dem Haus und den Hütten aufhielten. Vorsicht war jedenfalls geboten. Huatl hatte er bisher nicht zu sehen bekommen.
Durch Büsche und Farne gedeckt, kroch Maxtla weiter und gelangte allmählich in die Nähe des Gefangenen, dessen Gesicht einer steinernen Maske glich. Der Indio war hier nicht nur durch Buschwerk und Sträucher, sondern auch durch die Dunkelheit gedeckt. Er hatte von hier aus einen freien Überblick über den nicht sehr weiten Raum, der von einigen schwachen Feuern beleuchtet und von den unter Bäumen stehenden Hütten umgrenzt war.
An einem der Feuer saßen mehrere Farbige, ein riesenhafter Neger darunter. Die Männer ließen eine Rumflasche kreisen; offensichtlich waren sie schon nicht mehr ganz nüchtern. In einer der Hütten, deren Inneres erleuchtet war, schien gespielt zu werden; der Lauscher vernahm einige Ausrufe, die darauf schließen ließen. An einem anderen Feuer saßen ein paar Weiße, tranken und rauchten.
Der Capitano und der Mann aus Naëva waren nicht mehr zu erblicken, und auch den Chibcha Huatl hatte Maxtla noch immer nicht ausfindig machen können. Wachen waren nirgendwo ausgestellt; die Leute schienen sich hier völlig sicher zu fühlen; auch den Gefangenen, der freilich durch den Lasso gebunden war, beachtete niemand.
Ich werde es wagen, dachte Maxtla, wer weiß, ob sich eine gleich günstige Gelegenheit wiederholt. Er war schon im Begriff, sich kriechend weiter auf den Baum zu zu bewegen, als er Huatls ansichtig wurde, der langsam an seinem Versteck vorbeischlenderte. Maxtla ahmte das Zischen der Feldnatter nach; der Chibcha zuckte merklich zusammen, und sein Auge richtete sich auf den Busch, hinter dem Maxtla lag. Nach einigem Zögern ließ er sich lautlos zu Boden gleiten, kroch auf den Busch zu und ließ sich zwanglos dort nieder, Maxtla den Rücken zukehrend. Kein Mensch sonst war in der Nähe; die hockende Gestalt des Indios kaum schattenhaft wahrzunehmen.
»Huatl hörte den Adlerschrei?« fragte Maxtla leise; der andere neigte bejahend den Kopf.
»Maxtla will den Gefangenen befreien; er ist der Sohn seines Freundes«, raunte der hinter dem Busch.
Huatl schwieg einen Augenblick und sah sich lauernd um. Als er sich überzeugt hatte, daß er von niemand beobachtet wurde, zischte er: »Maxtla ist kühn. Er wird sein Leben verlieren und den Gefangenen nicht befreien.«
»Huatl wird seinem Bruder helfen«, raunte Maxtla. »Er sehnt sich nach den Bergen; er soll sie wiedersehen. Der Gefangene ist ein mächtiger Caudillo; er wird Huatl helfen, zu den Seinen zu kommen. Er wird ihm schöne Waffen schenken, wird ihm Ponchos, Mulos und Pferde geben.«
»Was soll Huatl tun?« flüsterte der Mann. Er schien tief beeindruckt, lag aber im Kampf mit der Angst.
»Huatl wird dahin gehen, wo die Canoas liegen. Er wird sich in Maxtlas Canoa legen und wird es bereit halten, wenn Maxtla mit dem Gefangenen kommt. Er wird ihm helfen, über den Strom zu setzen. Dann wird Huatl mit Maxtla gehen; er soll nicht länger bei den Piratas bleiben.«
»Sie haben auch Canoas und sind sehr geschickt auf dem Wasser«, warnte der Chibcha.
»Wir werden sie blind machen. Sie werden nichts sehen. Huatl wird mit uns kommen und dann in seine Berge gehen.«
Es war eine ganze Weile Schweigen, dann sagte der Chibcha: »Huatl wird tun, was Maxtla sagt.« Er erhob sich und schritt langsam den Hütten zu. Die Männer an den Feuern saßen noch; sie schienen alle angetrunken, man hörte es an dem Lallen ihrer Stimmen. Der Lärm aus der erleuchteten Hütte dauerte an.
Mit unendlicher Vorsicht schlich sich Maxtla an den Baum heran, an den Alonzo gefesselt war. Der Gefangene fuhr heftig zusammen, als er das Zischen der Bergnatter vernahm, die hier in der Niederung nicht heimisch war. Sein Herz begann rasend zu schlagen, als gleich darauf Laute in der Chibchasprache an sein Ohr drangen; er lauschte angestrengt. Sollte Maxtla – nein, es war nicht möglich. Da raunte es dicht hinter ihm: »Hörst du mich?«
Das war wie ein Schlag. Kein Zweifel, es war Maxtlas Stimme. Er hätte brüllen mögen, aber er bezwang sich gut. »Ich höre dich«, flüsterte er.
»Kann Don Alonzo die Glieder bewegen?« kam es aus dem Dunkel.
Der Gefangene bewegte vorsichtig die Fuß- und Handgelenke, die lange gefesselt waren; oh, es würde schon gehen. »Ich kann«, raunte er. Vorsichtig blickte er sich um. Er wußte ungefähr, in welcher Richtung der Hafen liegen mußte, und er zweifelte auch nicht daran, sich auf einer Insel zu befinden. Bei der Sorglosigkeit, mit der die Räuber ihn behandelten, war kaum ein anderer Schluß möglich. Er sah die zechenden Weißen und Farbigen an ihren Feuern; gerade dort würde man vorüber müssen, wenn man dahin wollte, von woher man ihn an Land gebracht hatte. Aber diese Kerle waren betrunken, sie würden kaum noch stehen können.
Wie kommt Maxtla hierher? dachte er. Da er hier ist, muß auch die Flucht möglich sein. Die Vorstellung belebte ihn und weckte seine Spannkraft. »Was soll ich tun?« flüsterte er.
»Im Hafen liegt mein Canoa«, antwortete Maxtla, »wir müssen es zu erreichen suchen.« Er hatte kaum ausgesprochen, da versank er lautlos im Gras. Der Capitano näherte sich, dem ein Neger folgte. Alonzo sah starr vor sich hin.
»Sie werden diesem Mann folgen; er wird Sie in eines der Häuser führen«, wandte sich der Capitano an den Gefangenen. Der Neger löste den Lasso vom Baum. Alonzo erhob sich; er schwankte, hielt sich nur mühsam auf den Beinen. Der Neger hatte eine blanke Machete in der Hand.
In diesem Augenblick erhob sich in der erleuchteten Hütte wüstes Geschrei; zur Tür heraus flog gleich einem Ballen ein Mann. Die Männer an den Feuern richteten ihre Blicke nach dem Haus; sie glotzten und waren augenscheinlich nicht mehr in der Lage, aufzunehmen, was da vor sich ging. Und auch der Neger, der Alonzo am Lasso hielt, wandte sich dem Hause zu. Im gleichen Augenblick traf ihn Alonzos Faust mit so furchtbarer Wucht zwischen beide Augen, daß der Schwarze lautlos wie ein Klotz zusammenbrach. Mit einem Sprung war Alonzo hinter dem Baum und streifte den Lasso ab. »Maxtla?« flüsterte er.
»Hier! Mir nach!« raunte es hinter ihm.
Oh, Alonzo konnte gehen, er mußte und er konnte auch. Sie erreichten den Hafen und fanden das Canoa. Der wilde Lärm auf der Insel dauerte an.
Sie sahen sich um und wollten eben das Fahrzeug besteigen, da schrie hinter ihnen eine gellende Stimme: »El prisonero!«
»Vorwärts!« zischte Maxtla. Er half Alonzo in das kleine Gefährt, da erschien der Capitano zwischen den Büschen. Offenbar hatte er als einziger von allen Leuten auf der Insel soviel Besinnung bewahrt, um sofort nach entdeckter Flucht nach dem Hafen zu laufen. Mit äußerster Kraft stieß Maxtla das leichte Gefährt vom Ufer ab, rief dem im Boot hockenden Huatl zu: »Rette ihn!« und wandte sich gegen den Zambo. Gegen den Willen Alonzos, der zurück ans Land wollte, tauchte Huatl das Ruder ins Wasser. Sekunden später hatte das Boot die erste Biegung schon hinter sich. Hier hielt Huatl.
»Zurück! Sofort zurück!« schrie Alonzo.
Der andere wehrte ab: »Ruhig, Señor, Maxtla ist ein Chibcha!« Und tatsächlich rauschte es gleich darauf im Wasser; Maxtla kam herangeschwommen. »Gott sei Dank!« flüsterte Alonzo. Es war gar nicht einfach, den triefenden Indio in das schwankende Fahrzeug zu bringen, aber es gelang. »Fort!« flüsterte Maxtla.
»Und der Bandit?« fragte Alonzo aufgeregt.
»Wird niemand mehr gefährlich«, knurrte der Indio.
»Man wird uns folgen.«
»Nein«, sagte Huatl.
»Señor verstehen«, grinste Maxtla, »Huatl Chichba. Hat alle Boote versenkt. Piratas können nicht folgen.« Maxtla hatte, als er ans Ufer kam, sofort gesehen, daß die Boote gesunken waren; es war klar, daß Huatl die Zeit genützt hatte.
Von der Landungsstelle tönte wütendes Geschrei herüber. »Schreit nur«, lachte Maxtla, der sich nicht zu fassen wußte vor Glück, Alonzo gerettet zu sehen; »kein Schreien zaubert euch Canoas herbei.« Sie traten bald darauf in den Strom ein und waren nunmehr in Sicherheit.
Maxtla steuerte auf das linke Ufer zu; hier, in ruhig fließendem Wasser trieben die beiden Indios – Huatl hatte für ein zweites Ruder gesorgt – das leichte Canoa eine große Strecke stromauf, bis der Chibcha es für richtig hielt, an einer geeigneten Stelle zu landen. Sie durchquerten den Schilfsaum und hatten bald festen Boden unter den Füßen. Hier ließen sie sich nieder, und Maxtla entzündete ein Feuer. Dann richteten sie sich nach Jägerart aus Gras und Baumrinde eine Ruhestätte.
Alonzo hielt lange Maxtlas Hand. »Zum zweiten Male danke ich dir mein Leben«, sagte er, »wie vergelte ich dir das nur?«
Der Indio schüttelte den Kopf. »Nichts vergelten«, flüsterte er. »Du Don Pedros Sohn! Alles vergolten. Da« – er wies auf seinen Gefährten, »Huatl vergelten. Armer Indio. Will in die Berge. Don Alonzo da helfen.«
»Wahrhaftig, das werde ich«, sagte der Befreite. »Alles, was ich vermag.«