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Acht Tage später hielt Alonzo, auf einem Maultier sitzend, auf einem von Myrten und Lorbeerbüschen bewachsenen Hügel und sah staunenden Blickes in die weite Ebene, die sich vor seinen Augen ausbreitete. Hier, er wußte es, hatte er schon früher gestanden, in jener kaum noch vorstellbaren Zeit, da er ein Kind, da die Welt voller Sonne und Heiterkeit war. Sein entzückter Blick glitt weithin über die hier und da von kleinen Gehölzen unterbrochene, mit Gras, Blumen und niedrigen Gebüschen bedeckte Fläche, bis hin zum fernen Horizont, wo alles in violettem Schimmer verschwand und Himmel und Erde sich zu berühren schienen. Vogelstimmen tönten an sein Ohr, Schmetterlinge umgaukelten ihn; die Welt war wunderbar.
Es war das Land seiner Träume, in das er da hineinsah; es war das Bild, das er auf der Höhe der Anden, inmitten grausamer Wilder, so oft vor Augen gehabt. Es waren die Llanos, die so lange und so inbrünstig ersehnten.
Alonzo fühlte sich wohl und glücklich wie selten zuvor. Die durch Hunger und Überanstrengung hervorgerufene Schwäche war bei guter Ernährung rasch gewichen, die kranken Füße waren in der Ruhe bald geheilt. Von den Bergen herabsteigend, hatte der Junge in den Ansiedlungen der Montaneros freundliche Aufnahme gefunden. Man hatte ihm Nahrung, Kleider und ein Maultier gegeben. Und so war er denn hinabgeritten zu den Llanos, immer nur von der Sehnsucht getrieben, zu Menschen seiner Art und seiner Herkunft zu gelangen.
Langsam ließ Alonzo das Tier jetzt den Hügel hinabschreiten. Still und einsam lag das schöne Land. Er war eine Zeitlang in stummem Sinnen geritten, da kreuzte ein Reiter seinen Weg. Alonzo sah auf einem guten Pferd eine hochgewachsene Gestalt, die in einen blaugestreiften Poncho gehüllt war. Das Gesicht des Mannes, das vom breiten Rand des Sombrero beschattet wurde, war wenig vertrauenerweckend, doch fiel das dem an die finsteren und grausamen Gesichter der Aimaràs gewöhnten Alonzo nicht auf. Das scharf gezeichnete Profil des hageren Gesichtes, die Adlernase, die stechenden Augen und der dunkle Bart ergaben für ihn das Gesicht eines Weißen. Und mußte nicht jeder Weiße ein Freund sein?
Der Reiter, der eine Büchse auf dem Rücken trug, maß die jugendliche Erscheinung Alonzos mit abschätzenden Blicken. Als der Junge ihm nähergekommen war, verhielt er sein Pferd und fragte: »Bist du hier zu Hause, Señorito?«
Mit der Vorsicht, die ihm in der Gefangenschaft zur zweiten Natur geworden war, antwortete Alonzo: »Nein, Señor, in den Bergen, nicht hier.«
»Weißt du, ob ich hier auf dem Weg zur Calugaschlucht bin?«
»Weiß es nicht, Señor.«
Der Mann murmelte etwas, das wie eine Verwünschung klang, und ritt grußlos weiter, ohne dem Jungen weiter Beachtung zu schenken.
Alonzo setzte seinen Weg fort. Als er auf eine kleine Lichtung gelangte, die von einem Bach durchflossen wurde, stieg er ab, pflockte sein Tier an und ließ sich unter einer Gruppe schattenspendender Ceibabäume nieder.
Es war nun wohl gut, sich zu überlegen, was weiter zu tun sei. Bisher hatte der Jüngling an die Gestaltung seiner nächsten Zukunft keinen Gedanken verschwendet. Nun aber, da die Freiheit, die ersehnte, da war und der erste Glücksrausch im Abklingen, schien es an der Zeit, sich dem Kommenden zuzuwenden. Alonzo beschwor die Bilder der Vergangenheit, die, ewig unverlierbar, vor seiner Seele standen. Er sah sich in den prächtig geschmückten Zimmern eines großen Hauses in der Stadt Bogotá. Er sah den Vater, die Mutter, die Geschwister. Er wußte gut, daß sein Vater
einen hochangesehenen Namen trug. Damals – damals – wie lange lag das zurück!
Er suchte in seiner Erinnerung, mühte sich, die Zeit seiner Gefangenschaft zu messen. Es mußten fünf, es konnten auch sechs Jahre vergangen sein seit jenem schrecklichen Tag. Die Vergangenheit – er fühlte es dumpf – war tot, tot, wie der Vater, die Mutter, die Geschwister. Sollte er nach Bogotá gehen?
Er hatte das oft gedacht, früher, wenn er in der Abgeschlossenheit der indianischen Bergwelt an seiner Zukunft baute. Er hatte sich vorgenommen, seinen Onkel aufzusuchen, von dem er wußte, daß er Don Miquel hieß. Aber lebte der Onkel noch? War er seinerzeit dem großen Zusammenbruch entgangen? Alonzo wußte nichts von Politik; er war damals ein Kind gewesen, er ahnte nichts von den Zusammenhängen, die seinem Vater und seiner Familie zum Schicksal geworden waren. Aber er wußte, daß sein Vater sehr mächtige Feinde gehabt hatte, daß er schließlich dem tödlichen Haß dieser Feinde erlegen war. Er wußte, daß der Haß der Familie galt. War Don Miquel ihm entgangen? Und mußte er selber nicht fürchten, von einer Gefahr in die andere, eine vielleicht noch schrecklichere, zu geraten? Damals war er ein Kind; vielleicht hatten die Feinde ihn für tot gehalten, hielten ihn noch für tot. Was würde geschehen, wenn er nun plötzlich hervortrat: Da bin ich, den Wilden entronnen, der Sohn meines Vaters: Alonzo d'Alcantara.
Ja, er kannte seinen Namen, er hatte ihn jahrelang in den Tiefen seiner Seele bewahrt; er ahnte mehr, als er wußte, daß es gefährlich war, diesen Namen zu führen. Seine indianische Vorsicht, bei den Aimaràs anerzogen und täglich aufs Neue genährt, hatte ihn gehindert, ihn selbst Don Fernando und Don Antonio gegenüber preiszugeben.
Nein, er konnte wohl nicht nach Bogotá gehen. Noch nicht. Er konnte auch seinen Namen nicht nennen, so lange wenigstens nicht, bis er die gegenwärtigen Umstände erkundet und vor allem ermittelt hatte, wer von seinen Verwandten noch lebte. Sein Lebensunterhalt machte ihm wenig Sorge. Er war an Entbehrungen aller Art hinreichend gewöhnt, war gesund und stark, ein erfahrener Jäger und ein geübter Schütze. Seine Nahrung lebte im Wald, die Llanos gaben Futter für sein Maultier, der Himmel war sein Dach.
Ach, er wußte so wenig von der Welt, der einsame Junge, so wenig von ihren mannigfachen Tücken und Gefahren; er ahnte nichts von den Veränderungen und Zerstörungen, die die Bürgerkriege unter Menschen und Dingen hervorgerufen hatten. Er sah nur den blauen Himmel, die lichtgrünen Wälder, den strahlenden Tag. Es würde sich alles fügen.
Seinen Gedanken und Empfindungen hingegeben, vernahm Alonzo zu seinem nicht geringen Erstaunen plötzlich irgendwoher ein helles, silbernes Lachen. Er lauschte – es kam von jenseits des kleinen Baches. Er erhob sich, durchschritt das seichte Wasser, teilte die Büsche, die es umsäumten und sah vor sich ein wundersames Bild:
Auf einer Waldblöße, ähnlich der, die er soeben verlassen hatte, spielte ein junges, hell gekleidetes Mädchen mit einem kleinen Hund. Und abermals war es dem Jungen, als blicke er in eine andere Welt; er entsann sich nicht, dergleichen jemals gesehen zu haben. Wie bezaubert, unfähig, ein Glied zu rühren, sah er auf das friedliche Bild. Das Mädchen warf dem Hund einen Ball zu, rief: »Such, Mignon«, und verschwand zwischen Büschen. Der Hund lief dem Ball nach und haschte ihn. Plötzlich schnellte vom Ast eines nahen Baumes ein Jaguar herab; ein kurzer, blitzschneller Prankenschlag, der Hund brach aufheulend zusammen.
»Mignon!« ertönte es wieder, ängstlich jetzt; gleich darauf trat das Mädchen zwischen den Bäumen hervor und stand, von jähem Schreck wie erstarrt, als es das Raubtier erblickte. Die gewaltige Katze zog sich vor der hellgekleideten Gestalt knurrend zurück, ihre Beute verlassend, kauerte nieder und schlug mit dem langen Schweif die Erde, während ihre grünlichen Lichter unheimlich funkelnd auf das Mädchen gerichtet waren. Offenbar maß das Tier die Sprunglänge.
Alonzo, eiskalt plötzlich, hob die Büchse und schoß. Die Bestie sprang auf und fiel gleich darauf, durch den Kopf getroffen, zuckend zusammen. Ein krampfhaftes Zittern durchlief ihren Leib.
Ein männlicher Schreckensruf ließ sich hören; aus dem Gebüsch heraus kam mit schnellen Schritten ein alter Herr. Er trug einen Anzug, wie ihn die wohlhabenden Hazienderos des Landes zu tragen pflegten. Er kam eben zur rechten Zeit, um das tödlich erschrockene Mädchen vor dem Umsinken zu bewahren. Sein Blick fiel auf die Wildkatze, die sich nicht mehr regte, dann auf das bleiche Antlitz des Mädchens. Er rief um Hilfe, um Wasser; gleich darauf kamen zwei Peons herbeigeeilt, die mit nicht geringem Erstaunen den toten Jaguar sahen.
Alonzo, der Jägerregel folgend, lud seine Büchse und trat dann aus dem Buschwerk heraus, so nahe, daß er des Mädchens Antlitz sehen konnte, das bleich, mit geschlossenen Augen, an der Brust des alten Mannes ruhte. Niemand achtete seiner, denn alle Aufmerksamkeit galt der Ohnmächtigen. Alonzo, die Augen unverwandt auf das blasse Antlitz gerichtet, meinte einen Engel zu sehen.
Da öffnete das Mädchen die Augen; ihr Blick traf auf den des Jungen, der sie bewundernd anstarrte, doch schlossen sie sich gleich wieder. Die Peons liefen nach Wasser, eine ältere Señorita und ein jüngeres Mädchen, eine Mulattin, eilten herbei; alle umdrängten das schöne Kind in den Armen des alten Mannes.
Alonzo, um den sich niemand kümmerte, warf noch einen Blick auf das Mädchen, nahm die Büchse in den Arm, ging zu seinem Maultier zurück, stieg in den Sattel und ritt langsam, ein glückliches Lächeln auf den Lippen, in nördlicher Richtung davon. Ein Zeltlager, das er gleich darauf bemerkte, sagte ihm, daß hier offenbar eine vornehme Familie die Waldeinsamkeit gesucht hatte.
Er war einige Zeit geritten, da hörte er hinter sich den Galopp eines Pferdes; gleich darauf erschien einer der Peons, die er eben gesehen hatte.
»Warte doch Bursche«, rief der Mann; »was, zum Teufel, reitest du so schnell?«
Alonzo hielt und wandte dem Peon sein verschlossenes Gesicht zu.
»Vorwärts, zurück, mein Freund«, rief der Mann; »der Señor will dir danken. Beeile dich, Bursche, man läßt keinen Señor warten.«
Alonzo maß den Reiter mit stolzen Blick. »Sage deinem Señor, daß er mir keinen Dank schuldig ist«, versetzte er, »und daß ich ihm rate, künftig höflichere Boten auszusenden.«
Nun hatte der Jüngling außer seinem stolzen und edlen Gesicht gewiß nichts von einem vornehmen Herrn an sich. Sein zerrissener Poncho, der vom Regen schwer mitgenommene Sombrero und die rauhe Fußbekleidung deuteten eher auf einen Bettler denn auf einen Caballero. Deshalb erwiderte der verblüffte Peon: »Bist du verrückt, du Estupido?« Es traf ihn ein zornsprühender Blick aus den Augen des Jungen, daß er unwillkürlich sein Pferd zurücknahm. Alonzo aber sagte:
»Empfehle mich der Señorita. Ich mache ihr das Jaguarfell zum Geschenk. – Fort!« herrschte er gleich darauf den Diener an, da dieser noch zögerte. Eingeschüchtert wandte der sein Roß und sprengte zurück.
Alonzo aber ritt weiter, immerfort an das schöne Mädchen denkend. Er rastete während der Mittagshitze und setzte dann seinen Weg nach Norden fort, bis sich die Sonne zu senken begann. Er betrat ein Tal, lieblich und lauschig gelegen. Malerische Felsgruppen engten es ein, auf denen Wachs- und Fächerpalmen wuchsen; in der Mitte standen einige mächtige Ceiba- und Terebinthenbäume, eine schattige Gruppe bildend. Blühende Sträucher standen ringsum, auf denen Kolibris und Schmetterlinge gaukelten.
Staunend, fast erschrocken, hielt er an. Er blickte sich um – an drei Stellen der felsigen Einfassung rauschte in kleinen Kaskaden silberhell das Wasser der Berge herab.
Es verschlug ihm den Atem; unwillkürlich suchte er nach einer Stütze. Hier, hier war es gewesen. Er kannte die Stelle wieder. Hier waren die Seinen unter den Messern der Mörder gefallen. Er war im Tal der drei Quellen. Er stieg vom Maultier herab und sank unwillkürlich in die Knie. Seine Lippen formten Gebete, die alten, nie vergessenen; das Schluchzen würgte ihm in der Kehle.
Doch beruhigte er sich schnell. Er hatte soviel Bitteres, soviel Düsteres erlebt in den vergangenen Jahren; die Erinnerung an jenen fernen Tag kam nicht dagegen auf. Er beschloß, die Nacht an diesem Ort zuzubringen, der ihm in der Erinnerung wie geweiht vorkam. Er nahm sein Maultier am Zügel und sah sich nach einer Lagerstatt um. Während er noch so da stand, ritt ein Mann, der offenbar aus den Bergen kam, langsam durch das Tal der Ebene zu. Er war jenseits der Gruppe von Ceibabäumen hervorgekommen und sah Alonzo nicht. Plötzlich ertönte irgendwoher ein Schuß; der Schall brach sich an den Felswänden, der Mann aber wankte; sein Oberkörper neigte sich nach vorn und sackte über dem Hals seines Pferdes zusammen.
Das alles war so schnell gekommen, daß Alonzo kaum einen Gedanken zu fassen vermochte. Gleichwohl suchte sein Blick automatisch die Stelle, von der aus der Schuß gefallen war. Er sah Pulverdampf aufwallen und glaubte für einen Augenblick eine Gestalt in blaugestreiftem Poncho zu erkennen. Ohne sich zu besinnen, griff er zur Büchse und lief auf den verwundeten Mann zu, der sich nur mühsam im Sattel hielt. Während er ihn mit der linken Hand zu stützen suchte, richtete er die Büchse auf die Stelle, wo er die Gestalt im gestreiften Poncho gesehen hatte. Doch nichts rührte sich dort.
»Seid Ihr verletzt?« fragte er den Mann, dessen zerfurchtes, graubärtiges Antlitz sich über ihn neigte.
»Ja«, flüsterte der, »ich glaube, es ist genug für dieses Leben.«
»Das möge Gott verhüten«, stammelte der Junge.
»Fort«, stöhnte der Mann, »oder wir bekommen einen zweiten Schuß.«
In diesem Augenblick glaubte Alonzo wieder eine Bewegung in den Büschen wahrzunehmen, hinter denen der Schütze gestanden haben mußte; er zielte kurz und schoß. Eine stärkere Bewegung verriet ihm, daß der Schütze noch da sei.
»Hast du gesehen? Getroffen? Wer war es?« fragte der Verwundete.
»Ich weiß es nicht, Señor. Gebt mir Eure Büchse.« Er nahm sie und sah dabei, daß des Mannes Hemd in Höhe des Schulterblattes gerötet war. Die Büchse schußfertig in der Hand, führte Alonzo, rückwärts schreitend, das Pferd, an dessen Hals sich der Verwundete anklammerte, aus dem Bereich des Waldes heraus. Als sie einige einsam in der Ebene stehende Palmen erreichten, half er dem Mann aus dem Sattel. »Erlaubt, daß ich nach Eurer Wunde sehe«, sagte er und war schon dabei, das Hemd zu öffnen.
»Blutet sie stark?« fragte der Fremde.
»Ich kann wenig Blut sehen.«
»Ich habe Heftpflaster hier« – der Mann trug eine Tasche am Gürtel – »lege es darüber.« Alonzo verband die Wunde sorgfältig.
Der Mann stöhnte. »Es ist gut«, flüsterte er, »die Kugel sitzt in der Brust, die holt kein Mensch mehr heraus. Lange mache ich es nicht mehr.« Er seufzte und schloß die Augen. »Ich hätte diesen Ort des Unheils vermeiden sollen«, sagte er nach einer Weile. Dann sah er seinen Helfer genauer an und fragte: »Wer bist du? Wie kommt es, daß du Worte der Aimaràsprache in deine Rede mischst?« Alonzo war in der Erregung mehr in die ihm geläufige Indianermundart gefallen, als ihm selber bewußt war.
»Ich komme direkt von den Aimaràs«, sagte er, »ich war jahrelang bei ihnen gefangen. Auch für mich war dies Tal hier einst ein Ort des Unheils. Von hier aus haben sie mich damals in die Berge geschleppt.« Er sah genauer auf den Verwundeten, und erst jetzt fielen ihm die harten, wenig vertrauenerweckenden Züge des Antlitzes auf. Nach seinen letzten Worten stand in den Augen des Mannes ein Ausdruck, der fast dem des Entsetzens glich. Er starrte Alonzo an und schien offenbar nach Worten zu suchen.
»So wärest du – Don Pedros Sohn?« fragte er schließlich; seine Stimme klang heiser und zitterte vor Erregung.
Alonzo, von der Frage jäh überrascht, zögerte einen Augenblick, aber dann sagte er: »Mein Vater hieß Don Pedro. Ich bin sein Erstgeborener, der einzige, der damals den Tag des Schreckens überlebte.« Der Mann barg sein Gesicht in der rechten Hand; eine Erschütterung ging durch seinen Körper. »Wunder, es geschehen noch Wunder!« stammelte er schließlich.
Der Junge, im tiefsten aufgewühlt, suchte in seinen Augen zu lesen.
»Sie wissen von diesen Dingen, Señor?« fragte er leise.
Ein Stöhnen antwortete ihm.
»Ja, ja, ich weiß – ich weiß. Und du bist Pedro d'Alcantaras Erstgeborener – du?«
Plötzlich stand ein Ausdruck ängstlicher Scheu in seinem verzerrten Gesicht, ein Zittern durchlief seinen Leib. »Pedro d'Alcantaras Sohn«, wiederholte er.
»Sie haben meinen Vater gekannt? Bitte, bitte, antworten Sie doch.«
Aber der Mann antwortete nicht mehr; er lag mit geschlossenen Augen. Plötzlich richtete er sich auf. »Hilf mir aufs Pferd«, stöhnte er, »bring mich nach Hause – ich wohne nicht weit – ich muß noch ein paar Stunden leben – hab' noch etwas auf der Welt zu tun – eine Kleinigkeit. Komm – hilf mir.«
Alonzo zögerte; es war Wahnsinn, der Schwerwunde konnte nicht reiten. Aber der gab nicht nach; er stand schon auf den Beinen, torkelte. Alonzo, wieder im Vollbesitz seiner jugendlichen Kraft, half ihm in den Sattel. Der Mann klammerte sich am Sattelknopf fest. »Steig auf dein Maultier«, sagte er; »reite neben mir, stütze mich.«
Sie ritten im Schritt; es war wahrhaftig nicht einfach. Der Verwundete stieß von Zeit zu Zeit leise Klagelaute aus, aber er hielt sich mit einer eisernen Willensstärke im Sattel.
Sie kamen nur langsam vorwärts, etwa nach einer Stunde erreichten sie ein kleines Haus am Ufer eines Flusses.
Eine alte Negerin erschien in der Tür. Sie ließ ein lautes Klagegeschrei ertönen, als sie vernahm, daß ihr Herr verwundet sei. Gemeinsam mit ihr trug Alonzo den Schwerwunden auf sein Lager.
»Wasser!« stöhnte der Mann.
Man brachte es ihm. Eine Zeitlang lag er schweigend, zu Tode ermattet. Endlich sagte er, mit einer Stimme, die kräftiger klang, als man erwarten konnte:
»Reite zur Hazienda des Señor Vivanda! Nimm meinen Rappen, er ist schneller als dein Maultier. Hole mir den Cura von dort. Rahel wird dir den Weg zeigen. Der Cura ist der Bruder des Señors. Sage ihm, Enriques Gomez liege im Sterben und wolle beichten. Sage ihm, es sei wichtig für den Staat und für viele Menschen, daß er meine Beichte höre und aufschreibe. Er soll Papier und Tinte gleich mitbringen.«
»Oh, beides ist hier, Señor«, sagte die Negerin.
»Dann schnell, schnell, her damit – noch vermag ich die rechte Hand zu gebrauchen. Reite, reite, mein Junge, laß mich nicht ohne Beichte und Absolution sterben.«
Der erschütterte Alonzo versprach, sein Bestes zu tun.
»Noch eins«, flüsterte der Verwundete, »wenn du mich nicht mehr lebend treffen solltest – nenne deinen Namen nicht, niemand, keinem Menschen! Hüte dich – vor de Valla! Er trachtet dir nach dem Leben! Reite, reite!«
Alonzo, im Innersten aufgewühlt, ging hinaus. Die Negerin zeigte ihm den angepflockten Rappen. Alonzo sattelte ihn, nahm seine wieder geladene Büchse und stieg auf. »In welcher Richtung liegt die Hazienda, Madrecilla?« fragte er.
Sie wies auf einen glänzenden Stern am Himmel. »Auf den reite zu, Söhnchen«, sagte sie, »bald, wenn der Boden ansteigt, wirst du die Lichter von Otoño sehen. Der Rappe kennt die Llanos auch bei Nacht, du reitest sicher.«
Alonzo, auf den Stern zu haltend, nötigte das Pferd zu schärfster Gangart. Schattenhaft sausten Sträucher, Büsche und Bäume an ihm vorbei; das Pferd, des Weges offenbar sicher, hatte einen ruhigen Gang.
Nach einem scharfen Ritt, dessen Dauer er nicht bemessen hatte, sah er vor sich, in der Tiefe liegend, einige Lichter; er ließ das Pferd verschnaufen und jagte weiter. Bald ritt er zwischen Feldern auf gebahnten Wegen, und gleich darauf hielt er vor der Veranda eines hell erleuchteten Hauses.
Er stieg ab und fragte, eintretend, nach dem Cura. Man wies ihn in ein Zimmer zu ebener Erde; dort traf er einen älteren würdigen Mann im Priesterrock. Dem teilte er den Wunsch des schwerverwundeten Mannes mit.
Sehr ernst hörte der Geistliche ihm zu, dann sagte er kurz entschlossen: »Ich reite mit dir.« Er klingelte, bestellte sein Maultier, befahl, daß ein Peon mit einer Fackel vorausreiten sollte, packte, während seine Befehle ausgeführt wurden, Papier und Schreibzeug in eine Tasche, eine Flasche Wein dazu, und bald darauf ritt er an Alonzos Seite, der Fackel des Peons folgend, dem Haus des verwundeten Gomez zu. Dieser, der glücklicherweise bis jetzt nur leichtes Wundfieber hatte, zeigte sich hoch erfreut, als er die Ankömmlinge erblickte. Er befahl, daß alle das Haus verlassen und sich draußen halten sollten und blieb mit dem Geistlichen allein.
Erst nach längerer Zeit wurden Alonzo und die Haushälterin wieder hereingerufen. Der Geistliche war noch ernster als vorher; er betrachtete Alonzos Züge mit großer Aufmerksamkeit. Mit dem Kranken war indessen eine große Veränderung vor sich gegangen; er trug nun unverkennbar das Zeichen des Todes im blassen Gesicht. Lange blickte er auf den Jungen. »Reiche einem Sterbenden die Hand, mein Kind«, sagte er.
Alonzo, mit Mühe seine Bewegung verbergend, reichte ihm die Rechte.
»Was ich tun konnte, deinen ferneren Lebensweg zu ebnen, habe ich getan, mein Junge«, sagte der Sterbende. »Vertraue dem ehrwürdigen Cura hier und folge ihm getrost. Er ist dein Freund und weiß alles.«
Die Stimme des Mannes wurde schwächer; über seiner Stirn lagen fahle Schatten, seine Augen irrten immer wieder über Alonzos Gesicht und glitten wieder ab. »Hast mir beigestanden in der Not – Sohn Don Pedros«, stammelte er, »Gott segne dich – sei glücklich – glücklich – verzeih!«. Er schloß die Augen und lag nun da wie ein Toter. Plötzlich hob er noch einmal den Kopf, öffnete die bereits glanzlosen Augen und sagte, die Worte mit äußerster Anstrengung hervorwürgend: »Cura, die Briefe – die Briefe – von ihm – die Brie –«; er sank aufseufzend zurück; seine Augen wurden starr. Es war zu Ende.
Der Cura lag auf den Knien und betete. »Mag Gott ihm ein gnädiger Richter sein«, sagte er dann und schloß dem Toten die Augen. Die Negerin weinte.
»Don Sancho hat dir sein Eigentum hinterlassen, Rahel«, sagte der Cura. »Morgen wollen wir ihn der Erde übergeben. Komm mit mir, Alonzo, zur Hazienda«, wandte er sich an den Jungen, »du bist mir anvertraut, ich werde das in mich gesetzte Vertrauen nicht enttäuschen.«
»Ich folge dir, Cura«, sagte der Junge.
Den Weg zur Hazienda legten sie schweigend zurück. Alonzo wies man ein Zimmer an, nachdem man ihn reichlich bewirtet hatte.
Am anderen Tage wurde Sancho Gomez der Erde übergeben. Der Cura durchsuchte seine Wohnung nach Briefen, von denen der Sterbende in seinen letzten Augenblicken geredet hatte, aber er fand nichts.
Als sie zur Hazienda zurückkehrten, war der Haziendero Señor Vincente Vivanda, der ältere Bruder des Geistlichen, der mit seiner Tochter eine Fahrt in die Berge gemacht hatte, soeben angelangt.
Eine helle Mädchenstimme sagte jubelnd: »Das ist er, Vater, das ist er, der Junge, der mich vor dem Jaguar rettete.« Mit jäh emporschießender Freude sah sich Alonzo dem Mädchen gegenüber, das er im Tal der drei Quellen vor dem Ansprung der Raubkatze bewahrte. Er wußte vor Glück und Staunen kein Wort zu sagen.