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Und, wie seltsam: als ich das Zimmer verließ und die gewohnten Räume durchschritt, da lebte in mir von neuem die Hoffnung auf, daß nichts gewesen sei, aber der Geruch dieses ekelhaften Zeugs – Jodoform oder Karbol – schlug mir gar zu penetrant entgegen. Ja, es ist doch alles gewesen. Als ich durch den Korridor am Kinderzimmer vorüberschritt, erblickte ich Lisanjka. Sie sah mich mit erschrockenen Augen an. Es war mir sogar, als ob alle fünf Kinder da wären und mich ansähen. Ich ging zu der Tür, und das Dienstmädchen öffnete mir von innen und kam heraus. Das erste, was mir in die Augen fiel, war ihr hellgraues Kleid auf dem Stuhle, das von Blut ganz schwarz war. Sie lag mit hochgestreckten Knien auf unserem zweischläfrigen Bett, zum Teil sogar auf meinem Bett, zu dem der Zutritt leichter war. Sie lag ganz schräg, auf den bloßen Kissen, in offener Nachtjacke. Dort, wo die Wunde sein mußte, war irgend etwas aufgelegt. Im Zimmer herrschte ein durchdringender Jodoformgeruch. Vor allem erschreckte mich ihr gedunsenes, blau angelaufenes Gesicht, das in der Nasengegend und unter den Augen dunkle Flecke aufwies. Sie rührten von dem Stoße mit dem Ellbogen her, der sie getroffen hatte. Von ihrer Schönheit war keine Spur vorhanden; sie erschien mir vielmehr häßlich. Ich blieb an der Schwelle stehen. ›Tritt doch näher, tritt doch näher heran‹, sprach die Schwester zu mir. – ›Vielleicht will sie bereuen?‹ dachte ich. ›Soll ich verzeihen? Ja, sie stirbt, da kann ich ihr verzeihen‹, dachte ich – ich will recht großmütig sein. Ich trat ganz dicht heran. Sie richtete mit Mühe ihre Augen, von denen das eine ganz verschwollen war, auf mich und sprach mühsam und stockend: ›Nun hast du dein Ziel erreicht, hast mich getötet!‹ – und in ihrem Gesichte spiegelte sich durch die physischen Leiden und die Nähe des Todes hindurch der mir wohlbekannte, kalte, tierische Haß. ›Die Kinder . . . lasse ich dir . . . aber nicht. Sie – die Schwester – wird sie zu sich nehmen!‹ Das, worauf es mir vor allem ankam, ihre Schuld, ihren Verrat, erwähnte sie überhaupt nicht, als ob es sich nicht verlohne, davon zu reden. ›Ja, weide dich an deinem Werke‹, sagte sie, sah nach der Tür und schluchzte auf. In der Tür stand die Schwester mit den Kindern. ›Sieh, was du angerichtet hast!‹ Ich sah auf die Kinder und auf ihr entstelltes Gesicht und vergaß zum erstenmal mich selbst, mein Recht und meinen Stolz und sah zum erstenmal in ihr den Menschen. Und so klein und erbärmlich erschien mir meine Eifersucht und alles das, was mich gekränkt hatte, und für so bedeutsam und furchtbar erachtete ich das, was ich getan, daß ich mein Gesicht zu ihren Händen niedersenken und sie um Verzeihung bitten wollte. Indessen ich wagte es nicht. Sie hatte die Augen geschlossen und schwieg, offenbar war sie nicht mehr imstande zu sprechen. Dann erbebte ihr entstelltes Gesicht und legte sich in Falten. Sie stieß mich leise von sich. ›Warum war das alles? Warum?‹ – ›Verzeih mir!‹ sagte ich, ›verzeih, alles ist Torheit!‹ – ›Wenn ich nur nicht sterbe!‹ schrie sie, richtete sich auf und sah mich mit den fieberhaft glänzenden Augen durchdringend an. ›Du hast dein Ziel erreicht! Ich hasse dich! Oh! Oh!‹ rief sie offenbar im Fieber, vor irgend etwas erschreckend. – ›Nun, töte nur, töte, ich habe keine Angst! . . . Aber töte uns alle, alle, auch ihn. Er ist entflohen, entflohen!‹ Die Fieberphantasien hörten die ganze Zeit nicht auf. Sie erkannte niemanden mehr. Um die Mittagsstunde war sie tot.
Mich hatte man schon vorher, um acht Uhr morgens, auf die Wache und von dort ins Gefängnis gebracht. Dort saß ich, mein Urteil erwartend, elf Monate lang, dachte über mich und meine Vergangenheit nach und begriff beides. Vom dritten Tage an begann ich beides zu begreifen: am dritten Tage führte man mich ›dahin‹.«
Er wollte etwas sagen, hielt jedoch inne, da er sich des Schluchzens nicht enthalten konnte. Als er seine Kräfte wieder gesammelt hatte, fuhr er fort:
»Ich begann erst dann zu begreifen, als ich sie im Sarge erblickte.«
Er schluchzte auf, fuhr jedoch hastig fort:
»Erst als ich ihr totes Antlitz sah, begriff ich alles, was ich getan hatte. Ich begriff, daß ich, ich sie getötet hatte, daß es durch mich geschehen war, daß sie, die bisher gelebt und sich bewegt hatte und voll Wärme gewesen war, nun unbeweglich, wächsern und kalt da lag und daß dies niemals, nirgends und durch kein Mittel geändert werden könne. Wer das nicht selbst erlebt hat, kann es nicht begreifen . . . Oh! oh! oh!« rief er wehklagend aus und verstummte. – –
Wir saßen lange schweigend da. Er schluchzte und saß bebend, ohne ein Wort zu sprechen, vor mir da.
»Nun, verzeihen Sie.« – Er wandte sich von mir ab, streckte sich auf der Bank aus und deckte sich mit seinem Plaid zu.
Auf der Station, auf der ich aussteigen mußte – es war gegen acht Uhr morgens – trat ich an ihn heran, um von ihm Abschied zu nehmen. Ob er schlief oder sich nur schlafend stellte – jedenfalls bewegte er sich nicht. Ich berührte ihn mit der Hand und sah, daß er nicht geschlafen hatte.
»Leben Sie wohl«, sagte ich und reichte ihm die Hand.
Er reichte mir seine Hand und lächelte, jedoch so traurig, daß ich nahe daran war, zu weinen.
»Ja, verzeihen Sie«, wiederholte er nochmals das Wort, mit dem er seine Erzählung geschlossen hatte.
Den 26. August 1889
Ende
Ich erhielt und erhalte noch immer zahlreiche Briefe von mir unbekannten Leuten, die mich bitten, in einfachen und klaren Worten darzulegen, was ich eigentlich über das Thema, den Kern der von mir unter dem Titel »Die Kreutzersonate« veröffentlichten Erzählung denke. Ich will versuchen, dies zu tun, d. h. in Kürze, soweit dies möglich, das Wesen dessen auszudrücken, was ich in dieser Erzählung und den an sie geknüpften Folgerungen zur Darstellung gebracht habe.
Ich wollte erstens sagen, daß in unserer Gesellschaft sich eine feste, allen Ständen gemeinsame und durch eine falsche Wissenschaft gestützte Überzeugung gebildet habe, der Geschlechtsverkehr sei eine für die Gesundheit unentbehrliche Sache, und da die Ehe nicht immer möglich sei, so sei auch der außereheliche Geschlechtsverkehr, der den Mann nur zu einer Geldzahlung verpflichtet, eine völlig natürliche Angelegenheit, die daher auch nur Aufmunterung verdiene.
Diese Überzeugung ist eine in so hohem Maße allgemeine und feste, daß die Eltern auf den Rat der Ärzte ihren Kindern Gelegenheit zur Ausschweifung verschaffen und daß die Regierungen, deren einziger Zweck doch darin besteht, für das sittliche Wohl ihrer Bürger Sorge zu tragen, die Ausschweifung regulieren, d. h. einen ganzen Stand von Frauen organisieren, die körperlich und seelisch zugrunde gehen müssen, um die vermeintlichen Bedürfnisse der Männer zu befriedigen und um den unverheirateten Männern Gelegenheit zu geben, mit vollkommen ruhigem Gewissen der Ausschweifung zu huldigen.
Und nun wollte ich sagen, daß dies nicht gut sei, weil es doch unmöglich in der Ordnung sein könne, daß für den Gesundheitszustand der einen Kategorie von Menschen Körper und Seele einer andern Kategorie zugrunde gerichtet werden; wie es nicht in der Ordnung sein kann, daß, damit die eine Kategorie von Menschen gesund bleibe, sie das Blut einer anderen Menschenkategorie trinke.
Der Schluß, der nach meiner Meinung naturgemäß daraus zu ziehen ist, geht darauf hinaus, daß man sich dieser Verirrung und Täuschung nicht hingeben dürfe. Und um sich ihnen nicht hinzugeben, darf man erstens unsittlichen Lehren, durch welche vermeintlichen Wissenschaften sie auch gestützt werden mögen, keinen Glauben schenken, und muß zweitens begreifen, daß die Unterhaltung eines Geschlechtsverkehrs, bei dem die Geburten absichtlich verhindert werden oder die Sorge für die Kinder auf die Frauen abgewälzt oder die Möglichkeit des Gebärens von vornherein verhindert wird – daß ein solcher Geschlechtsverkehr eine Übertretung der einfachsten Forderung der Sittlichkeit, mithin selbst eine Unsittlichkeit ist, und daß ledige Leute, die nicht unsittlich leben wollen, sich dieses Verkehrs enthalten müssen.
Um nun enthaltsam leben zu können, müssen diese ledigen Leute in jeder Beziehung eine natürliche Lebensführung anstreben, das heißt, sie dürfen nicht trinken, nicht im Übermaß essen, kein Fleisch genießen, nicht der anstrengenden körperlichen Arbeit – die durch keine Gymnastik zu ersetzen ist – aus dem Wege gehen und den Verkehr mit fremden Frauen selbst in Gedanken so wenig wie etwa den Verkehr mit ihren eigenen Müttern, Schwestern, weiblichen Verwandten oder mit den Frauen ihrer Freunde zulassen. Beweise dafür, daß die Enthaltsamkeit möglich und weniger schädlich und gesundheitsgefährlich ist als die Nichtenthaltsamkeit, wird jeder Mann in seinen Kreisen zu Hunderten finden.
Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt ist, daß in unserer Gesellschaft, da man den Liebesverkehr nicht nur als eine notwendige Vorbedingung der Gesundheit und des Genusses, sondern auch als eine poetische Erhöhung des Lebensglücks ansieht, die eheliche Untreue in allen Schichten der Gesellschaft – namentlich, dank dem Soldatentum, auch im Bauernstande – eine ganz gewöhnliche Erscheinung geworden ist.
Und das ist nach meiner Meinung nicht gut.
Der Schluß aber, der daraus zu ziehen ist, lautet, daß man dies eben nicht tun darf.
Damit man dies aber nicht tue, muß die Ansicht vom Wesen der sinnlichen Liebe eine andere werden, müssen Männer und Frauen in den Familien wie durch die öffentliche Meinung so erzogen werden, daß sie vor wie nach der Heirat die Verliebtheit und die damit verbundene sinnliche Liebe nicht als einen poetischen, erhabenen Zustand ansehen, wie sie es jetzt tun, sondern als einen den Menschen erniedrigenden, tierischen Zustand; wie denn auch anzustreben ist, daß die Verletzung des in der Ehe gegebenen Treuegelöbnisses durch die öffentliche Meinung mindestens ebenso gerügt werde wie die Nichterfüllung finanzieller Verpflichtungen und Betrug in Handelssachen, und nicht, wie es jetzt geschieht, die Verletzung der Treue gar noch in Romanen, Gedichten, Liedern, Opern usw. besungen werde.
Das ist der zweite Punkt.
Der dritte Punkt ist, daß in unserer Gesellschaft, gleichfalls infolge der falschen Bedeutung, die man der sinnlichen Liebe beilegt, das Kindergebären seinen ursprünglichen Sinn verloren hat. Statt das Ziel und die Rechtfertigung der ehelichen Beziehungen zu sein, gilt es vielmehr als ein Hindernis für die angenehme Fortsetzung der Liebesbeziehungen.
Außerhalb der Ehe wie in der Ehe ist daher auf den Rat der Diener der ärztlichen Wissenschaft der Gebrauch von Mitteln, die der Frau das Kindergebären unmöglich machen, immer üblicher geworden, oder, was früher nicht Sitte und Brauch war und was in patriarchalisch lebenden Bauernfamilien auch heute noch nicht vorkommt: die ehelichen Beziehungen werden während der Schwangerschaft und Nährzeit fortgesetzt.
Und das ist nach meiner Meinung nicht gut.
Nicht gut ist es, Mittel gegen das Kindergebären anzuwenden, erstens, weil sich die Menschen dadurch von den Sorgen und Mühen um die Kinder befreien, die als eine Sühne der sinnlichen Liebe anzusehen sind, und zweitens, weil dies einer dem menschlichen Gewissen ganz besonders widerstrebenden Handlung, nämlich dem Morde, nahesteht. Nicht gut endlich ist die Nichtenthaltsamkeit zur Schwangerschafts- und Nährzeit, weil durch sie die körperlichen, noch mehr aber die geistigen Kräfte der Frau zugrunde gerichtet werden.
Der Schluß, der sich hieraus ergibt, lautet dahin, daß man dies nicht tun darf. Und um dies nicht zu tun, müssen wir begreifen, daß die Enthaltsamkeit, die schon im ledigen Stande eine unerläßliche Bedingung der menschlichen Würde bildet, in noch höherem Maße im ehelichen Stande zur Pflicht wird.
Das ist der dritte Punkt.
Der vierte Punkt ist der, daß in unserer Gesellschaft, in der die Kinder entweder ein Hindernis des Sinnengenusses oder das Ergebnis eines unglücklichen Zufalls oder eine Elternfreude besonderer Art bilden, falls nämlich die Eltern sich gerade so viel Kinder wünschten, diese Kinder nicht im Hinblick auf jene Aufgaben des menschlichen Lebens erzogen werden, die ihnen als verständigen und liebenden Wesen bevorstehen, sondern lediglich im Hinblick auf die Freuden, die sie ihren Eltern bereiten können. Infolgedessen werden die Kinder der Menschen wie die Kinder der Tiere erzogen, so daß die Hauptsorge der Eltern nicht darin besteht, sie zu einer menschenwürdigen Tätigkeit vorzubereiten, sondern darin, sie möglichst gut zu ernähren, ihr Wachstum zu fördern, sie sauber, weiß, satt und hübsch zu machen, worin die Eltern noch von der verlogenen Wissenschaft, die sich Medizin nennt, unterstützt werden; wenn in den unteren Volksschichten nicht das Gleiche geschieht, so ist dies eine Folge der Not; die Ansichten jedoch sind genau dieselben. Bei den verzärtelten Kindern erwacht dann, wie bei überfütterten Tieren, unnatürlich früh eine unbezwingliche Sinnlichkeit, die diesen Kindern im frühreifen Alter zur Ursache schlimmer Qualen wird. Putzsucht, das Lesen aufregender Bücher, Theaterbesuch, Musik, Tanzvergnügen, Näschereien, allerlei bunte Lebensgewohnheiten von den zierlichen Konfektschachteln bis zu den Romanen, Erzählungen und Gedichten schüren diese Sinnlichkeit noch mehr, und so werden die schrecklichsten geschlechtlichen Laster und Krankheiten die üblichen Begleiterscheinungen der heranwachsenden Jugend beiderlei Geschlechts, die auch im reifen Alter oft nicht schwinden.
Und das ist nach meiner Meinung nicht gut.
Der Schluß, der sich daraus ergibt, lautet, daß man aufhören sollte, die Kinder der Menschen wie die Kinder der Tiere zu erziehen, und daß man für die Erziehung der Menschenkinder andere Ziele aufstellen müsse als den schönen, wohlgepflegten Körper.
Das ist der vierte Punkt.
Der fünfte Punkt ist der, daß in unserer Gesellschaft die Liebelei zwischen einem jungen Manne und einer Frau, die doch im Grunde genommen nur auf die sinnliche Liebe ausgeht, zu einem höheren poetischen Ziel menschlichen Strebens erhoben worden ist, wobei die jungen Männer die beste Zeit ihres Lebens darauf verwenden, sich ein recht vorteilhaftes Liebesverhältnis oder eine recht günstige Heiratspartie zu ergattern, während Frauen und Mädchen ihrerseits darauf aus sind, die Männer in eine mehr oder weniger leichte oder ernste Liaison hineinzulocken.
So werden die besten Kräfte der Menschen nicht nur an unproduktive, sondern an direkt schädliche Zwecke vergeudet. Daher kommt zum größten Teil der törichte Luxus unseres Lebens, daher die Müßigkeit der Männer und die Schamlosigkeit der Frauen, die sich nicht scheuen, nach Modevorbildern, die sie von notorisch verderbten Weibsbildern entnehmen, gewisse die Sinnlichkeit reizende Körperteile offen zur Schau zu stellen.
Und das ist nach meiner Meinung nicht gut.
Es ist darum nicht gut, weil die Erreichung der Vereinigung mit dem Gegenstand der Liebe, sei es in der Ehe oder außer der Ehe, so sehr man diese Vereinigung auch poetisch verklären möge, ein des Menschen unwürdiges Ziel ist, wie es auch kein des Menschen würdiges Ziel ist, was sich viele gleichwohl als das höchste Glück vorstellen: dem Körper so viel süße Speise wie möglich einzuverleiben.
Der Schluß aber, den man daraus ziehen kann, ist, daß man aufhören muß, die sinnliche Liebe als etwas ganz Besonderes, Erhabenes anzusehen, vielmehr begreifen muß, daß die menschenwürdigen Ziele – sei es der Dienst der Menschheit oder des Vaterlandes, der Wissenschaft oder der Kunst, ganz zu schweigen vom Dienste Gottes – soweit sie wirklich edel und menschenwürdig sind, durch die Vereinigung mit dem Gegenstande der Liebe in oder außer der Ehe nicht gefördert werden, daß im Gegenteil die Verliebtheit und die Vereinigung mit dem Gegenstande der Liebe, wie sehr auch die Dichter in Versen und Prosa das Gegenteil zu beweisen suchen, die Erreichung irgendwelcher menschenwürdigen Ziele nie erleichtern, sondern stets erschweren werden.
Das ist der fünfte Punkt.
Dies ist das Wesentliche, was ich zum Ausdruck bringen wollte, und ich glaube es in meiner Erzählung deutlich ausgesprochen zu haben. Ich meinte: man könne wohl darüber disputieren, in welcher Weise das Übel zu beseitigen sei, auf das die von mir aufgestellten Thesen hinweisen, ihnen jedoch nicht zuzustimmen, sei einfach unmöglich.
Ich war der Meinung, daß es unmöglich sei, diesen Thesen nicht zuzustimmen, erstens, weil diese Thesen mit dem Fortschritte der Menschheit, der stets von sittlicher Ungebundenheit zu immer größerer Sittenreinheit strebt, sowie mit dem sittlichen Bewußtsein der Gesellschaft und unserem Gewissen harmonieren, das stets die sittliche Ungebundenheit verurteilt und die Sittenreinheit hochschätzt, und zweitens, weil diese Thesen lediglich die notwendigen Folgerungen aus der Lehre des Evangeliums darstellen, zu dem wir uns entweder offen bekennen oder das wir doch wenigstens, wenn auch nur unbewußt, als Grundlage unserer Begriffe über die Sittlichkeit anerkennen.
Die Wirklichkeit zeigt jedoch ein anderes Bild.
Niemand wird allerdings die Thesen geradezu bestreiten, daß man vor der Ehe nicht ausschweifend leben dürfe, daß man es auch nach Eingehung der Ehe nicht tun dürfe, daß man das Kindergebären nicht künstlich verhindern, aus den Kindern kein Spielzeug machen und die geschlechtliche Vereinigung über alle irdischen Genüsse und Güter stellen dürfe – niemand wird, mit einem Worte, bestreiten, daß die Keuschheit höher stehe als die Ausschweifung. Aber man sagt eben: »Wenn die Ehelosigkeit besser ist als die Ehe, dann sollten doch verständigerweise die Menschen sich an das Bessere halten. Tun sie dies aber, so stirbt das Menschengeschlecht aus, die Ausrottung des Menschengeschlechts kann mithin nicht das Ideal des Menschengeschlechts sein.«
Doch ganz abgesehen davon, daß die Ausrottung des Menschengeschlechts für die Menschen unserer Tage kein neuer Begriff ist, sondern, soweit sie religiös sind, für sie ein Glaubensdogma und, soweit sie wissenschaftlich denken, eine notwendige Folgerung aus der Beobachtung über das Erkalten der Sonne bildet, so liegt in diesem Einwand ein weit verbreitetes, altes Mißverständnis.
Man sagt: »Wenn die Menschen das Ideal vollkommener Keuschheit erreichen, so vernichten sie sich selbst, und darum kann dieses Ideal nicht das rechte sein.« Die aber so sprechen, verwechseln absichtlich oder unabsichtlich zwei verschiedenartige Dinge, nämlich die Verhaltungsmaßregel oder Vorschrift und das Ideal.
Die Keuschheit ist keine Vorschrift oder Verhaltungsmaßregel, sondern ein Ideal oder, genauer gesagt, eine der Vorbedingungen des Ideals.
Ein Ideal ist aber nur dann ein Ideal, wenn seine Verwirklichung nur in der Idee, nur gedanklich möglich ist, wenn es sich nur als in der Unendlichkeit erreichbar darstellt, und wenn daher die Möglichkeit, ihm näherzukommen, eine unendliche ist. Wäre das Ideal nicht nur erreichbar, sondern könnten wir uns seine Verwirklichung vorstellen, so würde es aufhören, ein Ideal zu sein.
So war das Ideal Christi – die Begründung des Reiches Gottes auf Erden – ein Ideal, von dem schon die Propheten voraussagten, daß einst eine Zeit kommen werde, da alle Menschen, der Lehre Gottes folgend, ihre Schwerter in Pflugscharen und ihre Speere in Sicheln umwandeln würden, da der Löwe sich neben dem Lamme lagern würde und alle Wesen in Liebe vereinigt sein würden. Jeglicher Sinn des menschlichen Lebens bewegt sich in der Richtung nach diesem Ideal, und daher schließt das Streben nach dem christlichen Ideal in seiner Ganzheit und Geschlossenheit, wie auch nach der Keuschheit, als einer der Vorbedingungen dieses Ideals, nicht nur die Möglichkeit des Lebens keineswegs aus, vielmehr würde die Abwesenheit dieses christlichen Ideals die Möglichkeit eines Fortschritts und folglich auch des Lebens selbst verneinen.
Behauptungen wie jene, das Menschengeschlecht würde aussterben, wenn die Menschen aus aller Macht die Keuschheit anstreben, stehen auf einer Stufe mit der Äußerung – die man zuweilen auch hören kann –, daß das Menschengeschlecht aussterben würde, wenn die Menschen, statt den Kampf ums Dasein zu führen, aus aller Macht der Verwirklichung der Freundes- und Feindesliebe wie überhaupt der Liebe zu allem Lebenden zustrebten.
Solche Behauptungen haben ihren Ursprung darin, daß der Unterschied zweier abweichender Methoden sittlicher Führung falsch aufgefaßt wird.
Wie es zwei abweichende Methoden gibt, einem nach dem Wege fragenden Wanderer Bescheid zu geben, so gibt es auch zwei abweichende Möglichkeiten sittlicher Wegweisung für den Menschen, der die Wahrheit sucht. Die eine Methode besteht darin, daß man den Wanderer auf die Gegenstände hinweist, denen er begegnen werde, und nach denen er sich zu richten habe, die andere Methode besteht darin, daß man dem Menschen auf Grund des Kompasses, den er in sich trägt und auf dem er stets dieselbe unveränderte Richtung vermerkt findet, nur eben die Richtung angibt, so daß er stets jede Abweichung, die er sich gestattet, selbst feststellen kann.
Die erste Methode sittlicher Führung ist die Methode der Aufstellung äußerlicher Vorschriften und Bestimmungen: man gibt dem Menschen bestimmte Kennzeichen der Handlungen an, die er zu tun oder zu lassen habe.
»Du sollst den Sabbat heiligen; du sollst dich der Beschneidung unterziehen; du sollst nicht stehlen; du sollst keine gegorenen Getränke genießen; du sollst keine lebenden Wesen töten; du sollst den Armen den Zehnten abgeben; du sollst fünfmal täglich Waschungen vornehmen und beten; du sollst dich taufen lassen, sollst zum Abendmahl gehen usw.« So lauten die äußerlichen Gebote der verschiedenen religiösen Lehren, des Brahminismus, Buddhismus, Muhammedanismus, des jüdischen und des kirchlich-orthodoxen, fälschlicherweise als »christlich« bezeichneten Glaubens.
Die zweite Methode ist die, dem Menschen eine ihm nie erreichbare Vollkommenheit zu zeigen, nach der er gleichwohl das Streben in sich fühlt: man zeigt dem Menschen ein Ideal, das ihm stets gestattet, zu sehen, wie weit er selbst von ihm, dem Ideal, entfernt sei.
»Liebe deinen Gott mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele, mit deinem ganzen Vermögen und deinen Nächsten wie dich selbst. Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.«
So lautet die Lehre Christi.
Der Prüfstein für die Erfüllung der äußeren religiösen Vorschriften ist die Übereinstimmung der Handlungen mit den Bestimmungen dieser Lehre, und diese Übereinstimmung liegt in den Grenzen der Erfüllbarkeit.
Der Prüfstein für die Erfüllung der Lehre Christi ist das Bewußtsein des Grades der Nichtübereinstimmung mit der idealen Vollkommenheit. (Der Grad der Annäherung ist nicht sichtbar: sichtbar ist nur die Abweichung von der Vollkommenheit.) Der Mensch, der das äußerliche Gebot bekennt, ist wie ein Mensch, der im Lichte einer Laterne steht, die an einem Pfeiler hängt. Er steht im Lichte dieser Laterne, für ihn ist es hell genug, und er braucht nirgends weiter hinzugehen. Der Mensch dagegen, der die Lehre Christi bekennt, ist wie ein Mensch, der auf einer mehr oder weniger langen Stange eine Laterne vor sich herträgt: das Licht ist stets vor ihm und lockt ihn beständig, ihm zu folgen, und öffnet immer wieder vor ihm einen neuen beleuchteten Raum, der ihn anzieht.
Der Pharisäer dankt Gott dafür, daß er alle Gebote erfüllt. Auch der reiche Jüngling hat alles von Kindheit an erfüllt und begreift nicht, was ihm fehlen könnte. Sie können beide nicht anders denken; vor ihnen ist nichts, dem sie nachstreben könnten. Der Zehnte ist bezahlt; der Sabbat wird gehalten; die Eltern werden geachtet; Ehebruch, Mord, Diebstahl werden nicht begangen. Was verlangt man noch mehr? Für den Bekenner der christlichen Lehre aber ruft die Erreichung jeder neuen Stufe der Vollkommenheit das Bedürfnis des Überganges zu einer höheren Stufe hervor, von der aus eine noch höhere sichtbar wird und so ohne Ende.
Wer das Gesetz Christi bekennt, der befindet sich stets in der Lage des Zöllners. Er fühlt sich immer unvollkommen, da er hinter sich den Weg nicht sieht, den er bereits zurückgelegt hat, sondern stets nur den Weg vor sich, den er zu gehen und den er noch nicht zurückgelegt hat.
Darin liegt der Unterschied der Lehre Christi von allen anderen religiösen Lehren – ein Unterschied, der nicht in der Verschiedenheit der Forderungen liegt, sondern in der Verschiedenheit der Art, die Menschen zu führen.
Christus hat nie irgendwelche Vorschriften für das Leben gegeben; er hat nie irgendwelche Einrichtungen getroffen, noch auch jemals die Ehe eingesetzt. Aber die Menschen, die die Eigentümlichkeit der Lehre Christi nicht begriffen, die an äußerliche Lehren gewöhnt waren und gleich dem Pharisäer sich gerechtfertigt fühlen wollten, machten, entgegen allem Geiste der Lehre Christi, aus ihrem Buchstaben eine äußerliche, aus Vorschriften bestehende Lehre, die sie die kirchliche christliche Lehre nannten, und schoben der wahren christlichen Ideallehre diese ihre Ersatzlehre unter.
Die kirchlichen Lehren, die sich selbst christliche nennen, haben für alle Lebenslagen an Stelle der Lehre des Ideals Christi äußerliche Vorschriften und Verordnungen gegeben, die dem Geiste der Lehre widersprechen. Dies geschah in Hinsicht der Staatsgewalt, des Gerichtes, des Heeres, der Kirche, des Gottesdienstes, und es geschah auch in bezug auf die Ehe: obwohl Christus niemals die Ehe eingesetzt, im Gegenteil, wenn es nach Wortbestimmungen geht, sie eher verworfen hat – »verlasse dein Weib und folge mir nach« – haben die kirchlichen Lehren, die sich christliche nennen, die Ehe als eine christliche Einrichtung eingesetzt, d. h. die äußerlichen Bedingungen bestimmt, unter denen die sinnliche Liebe für einen Christen sündenlos und völlig gesetzlich sein könne.
Da aber in der wahren christlichen Lehre keinerlei Grundlagen zur Einsetzung der Ehe vorhanden sind, so nahm die Sache eine solche Wendung, daß die Menschen unserer Welt von dem einen Ufer abgefahren sind und das andere nicht erreicht haben, d. h. an die kirchliche Festsetzung der Ehe in Wirklichkeit nicht glauben, in dem Gefühl, daß diese Einrichtung in der christlichen Lehre keine Begründung habe, und gleichzeitig das durch die kirchliche Lehre verborgene Ideal Christi – das Streben nach voller Keuschheit – nicht sehen, somit also in bezug auf die Ehe ohne Richtschnur bleiben. Daher rührt die anfangs sonderbar anmutende Erscheinung, daß bei den Juden, Muhammedanern, Lamaisten und anderen Bekenntnissen, deren religiöse Lehren tief unter den christlichen stehen, die aber dafür genaue äußerliche Bestimmungen über die Ehe besitzen, der familiäre Zusammenhang und die Gattentreue unvergleichlich fester eingewurzelt sind als bei den sogenannten Christen. Bei jenen gibt es bestimmte Vorschriften über die Vielweiberei, die in ganz feste Grenzen eingedämmt ist. Bei uns dagegen herrscht volle Zügellosigkeit, Kebsweiberwirtschaft, Vielweiberei, Vielmännerei, die keinen Vorschriften unterliegen und sich hinter dem Schein einer vermeintlichen Einehe verbergen.
Nur weil an einem gewissen Teil der sich verbindenden Paare von der Geistlichkeit gegen Bezahlung die bekannte Zeremonie vollzogen wird, die man als kirchliche Trauung bezeichnet, geben die Leute unserer Kreise, naiv oder heuchlerisch, sich der Vorstellung hin, sie lebten in der Einehe.
Eine christliche Ehe kann es nicht geben und hat es nie gegeben, wie es nie einen christlichen Gottesdienst gegeben hat noch geben kann (Matth. VI, 5–13; Joh. IV, 21), noch auch christliche Lehrer und Kirchenväter (Matth. XXIII, 8–10), noch ein christliches Eigentum, ein christliches Heer, ein christliches Gericht oder einen christlichen Staat.
So wurde das stets von den Christen der ersten und der folgenden Jahrhunderte aufgefaßt.
Das Ideal des Christen ist die Liebe zu Gott und dem Nächsten, ist die Selbstentäußerung im Dienste Gottes und des Nächsten, die sinnliche Liebe aber – die Ehe – ist Dienst am eigenen Ich, sie ist also auf jeden Fall eine Behinderung des Gottes- und Nächstendienstes und mithin vom christlichen Standpunkte gleichbedeutend mit Schuld und Sündenfall.
Die Eheschließung vermag den Gottes- und Menschendienst selbst dann nicht zu fördern, wenn die Eheschließenden die Fortpflanzung des Menschengeschlechtes zum Ziele haben sollten: solche Leute täten, statt zu heiraten und neue Kinderleben hervorzubringen, weit besser daran, die Millionen von Kinderleben zu retten und zu erhalten, die rings um uns aus Mangel an geistiger und materieller Nahrung zugrunde gehen.
Nur dann könnte ein Christ ohne Schuld und Sündenfall in die Ehe eintreten, wenn er sähe und wüßte, daß alle vorhandenen Kinderleben gesichert sind.
Man kann die Lehre Christi, von der unser ganzes Leben durchdrungen ist und auf der unsere gesamte Sittlichkeit sich gründet, verwerfen, man muß jedoch, wenn man sie nicht verwirft, zugeben, daß sie das Ideal völliger Keuschheit vertritt.
Im Evangelium ist klar und ohne die Möglichkeit irgendeiner falschen Auslegung gesagt, erstens, daß der Verheiratete sich von seiner Ehegattin nicht scheiden lassen dürfe, um eine andere zu freien, sondern mit derjenigen leben solle, die er einmal erwählt hat (Matth. V, 31–32, XIX, 8 ff.); zweitens, daß der Mensch im allgemeinen, ob er verheiratet oder unverheiratet ist, eine Sünde begeht, wenn er auf das Weib wie auf einen Gegenstand der Begierde schaut (Matth. V, 28–29); drittens, daß der Unverheiratete besser tut, überhaupt unverheiratet zu bleiben, das heißt in Keuschheit zu leben (Matth. XIX, 10–12).
Tausenden und Abertausenden werden diese Gedanken seltsam, ja sogar widerspruchsvoll erscheinen.
Und sie sind in der Tat voll Widerspruch, jedoch nicht untereinander, sie sind vielmehr voll Widerspruch mit unserem ganzen Leben, und unwillkürlich drängt sich einem die Erkenntnis auf: auf welcher Seite die Wahrheit läge – bei diesen Gedanken oder bei dem Leben der Millionen Menschen, darunter auch dem meinigen?
Eben dieses Gefühl empfand auch ich im stärksten Maße, als ich zu den Überzeugungen gelangt war, die ich jetzt hier ausspreche; ich hatte nie erwartet, daß mein Gedankengang mich dahin führen würde, wohin er mich schließlich geführt hat. Ich war entsetzt über meine Folgerungen, wollte ihnen nicht glauben, mußte es jedoch schließlich tun. Und so sehr auch diese Folgerungen mit dem ganzen Zuschnitt unseres Lebens, mit meinen früheren Gedanken und Äußerungen im Widerspruch standen – ich konnte nicht anders als sie anerkennen.
Doch alles das sind allgemeine Betrachtungen, die auch sonst richtig sein mögen, hier jedoch sich auf die Lehre Christi beziehen und nur für diejenigen bindend sind, die diese Lehre bekennen. Das Leben ist nun aber das Leben, und es geht nicht an, daß man, nachdem man einmal auf das unerreichbare Ideal Christi hingewiesen hat, die Menschen in einer der brennendsten, allgemeinsten und schwerwiegendsten Fragen ohne jeglichen Fingerzeig mit diesem Ideal allein lasse. »Der leidenschaftliche Jüngling wird sich zuerst wohl von dem Ideal hinreißen lassen, aber er wird nicht Kraft genug haben, wird sich von allen Fesseln losmachen und in völlige Ausschweifung verfallen.«
So hört man gewöhnlich urteilen.
»Das Ideal Christi ist unerreichbar, daher kann es uns nicht als Richtschnur im Leben dienen; man kann von ihm wohl reden und schwärmen, aber für das Leben gibt es keinen Maßstab und darum muß man von ihm absehen.«
Wir bedürften nicht eines Ideals, sondern einer Richtschnur, die dem Durchschnittsmaß der sittlichen Kraft unserer Gesellschaft entspräche. Eine kirchliche, ehrbare oder auch nicht ganz ehrbare Ehe, bei der der eine Teil, wie bei uns der Mann, schon mit vielen Frauen Beziehungen unterhalten haben kann, oder eine Ehe mit der Möglichkeit der Scheidung oder wenigstens eine bürgerliche Ehe oder, wenn wir auf demselben Wege fortschreiten, die japanische Ehe auf Zeit – ja, warum dann nicht auch die sogenannten Freudenhäuser?
Man sagt, sie seien dem Laster auf der Straße vorzuziehen . . .
Darin liegt ja aber das Unglück, daß, nachdem man sich gestattet hat, das Ideal der menschlichen Schwäche gemäß herabzusetzen, die Grenze nicht mehr zu finden ist, bei der man Halt zu machen hat.
Diese Art der Beurteilung ist von Anfang an grundfalsch; falsch ist es vor allem zu behaupten, daß das Ideal der unendlichen Vollkommenheit nicht eine Richtschnur im Leben sein könne, daß man es als unbrauchbar erklären und von seiner Anwendung absehen müsse – indem man, mit der Achsel zuckend, erklärt: »Ich werde es nie erreichen, kann es also doch nicht gebrauchen«, oder daß man das Ideal so tief herabdrückt, daß es auf der Stufe der eignen Schwachheit steht.
So handeln, hieße dem Seemann nachahmen, der da sagt: »Da ich nicht in der Linie fahren kann, die der Kompaß mir vorschreibt, will ich den Kompaß ins Wasser werfen, oder ich will nicht mehr nach ihm hinsehen; ich werde das Ideal fortwerfen oder den Kompaßzeiger an der Stelle befestigen, die im gegebenen Augenblick gerade dem Laufe meines Schiffes entspricht, das heißt, ich werde das Ideal zur Stufe meiner Schwachheit herabdrücken.«
Das von Christus aufgestellte Ideal ist kein Traumbild und kein Thema schwungvoller Predigten, sondern vielmehr die unentbehrlichste, allen verständliche Richtschnur des sittlichen Lebens der Menschen, wie der Kompaß das unentbehrlichste, selbstverständlichste Gerät des Seefahrers ist; nur muß man eben an diesen wie an jene glauben.
In welcher Lage sich der Mensch auch befinde, stets genügt das von Christus aufgestellte Ideal, um ihm den richtigsten Hinweis für das zu bieten, was er tun oder lassen solle. Aber man muß dieser Lehre vollen Glauben schenken, und zwar dieser Lehre allein, wie der Seefahrer an den Kompaß glauben und aufhören muß, nach den Ufern auszuschauen und sich von den Gegenständen, die er da sieht, lenken zu lassen.
Man muß verstehen, sich von der christlichen Lehre leiten zu lassen, wie man es verstehen muß, sich als Seefahrer vom Kompaß leiten zu lassen, und darum muß man vor allem seine Lage begreifen und sich nicht scheuen, die Abweichung dieser Lage von der gegebenen idealen Richtung genau festzustellen.
Auf welcher Stufe der Mensch auch stehen mag, stets gibt es für ihn eine Möglichkeit, sich dem Ideal zu nähern; es gibt für ihn keine Lage, in der er sagen könnte, er habe das Ideal erreicht und brauche nicht mehr nach einer größeren Annäherung zu streben.
Von dieser Art ist das Streben des Menschen nach dem christlichen Ideal im allgemeinen und nach der Keuschheit im besondern.
Stellt man sich, was die Geschlechtsfrage angeht, die mannigfachen Lagen der Menschen vor, von der unschuldigen Kindheit bis zur Ehe, in der die Keuschheit nicht beobachtet wird, so wird auf jeder Stufe zwischen diesen beiden Lagen die Lehre Christi mit dem von ihm aufgestellten Ideal stets als klare und bestimmte Richtschnur dafür dienen, was der Mensch auf jeder dieser Stufen tun oder lassen solle.
Was hat der reine Jüngling, das keusche junge Mädchen zu tun? Sie sollen sich rein halten von Verführung, und um alle ihre Kräfte dem Gottes- und Nächstendienst zu widmen, sollen sie nach immer größerer Reinheit der Gedanken und Wünsche streben.
Was soll der Jüngling oder das Mädchen tun, die der Verführung unterlegen sind, die von Gedanken an eine Liebe zu einem unbestimmten Gegenstande oder einer bestimmten Person verzehrt werden und auf diese Weise einen gewissen Teil der Möglichkeit, Gott und den Nächsten zu dienen, verloren haben? – Immer wieder dasselbe: sich vor dem Falle hüten, nicht vergessen, daß Nachgiebigkeit vor dem Falle nicht bewahrt, sondern den Eintritt seiner Möglichkeit verstärkt, und nach wie vor zwecks vollkommeneren Gottes- und Nächstendienstes nach immer größerer und größerer Keuschheit streben.
Was sollen die Menschen tun, wenn sie dem Kampfe nicht gewachsen waren und gefallen sind?
Sie sollen ihren Fall nicht als einen rechtmäßigen Genuß betrachten, wie sie es jetzt tun, wenn der Fall durch die Zeremonie der Ehe gerechtfertigt wird, auch nicht wie einen zufälligen Genuß, den man mit andern wiederholen kann, noch auch als ein Unglück, wenn der Fall mit einer Unebenbürtigen und ohne Zeremonie erfolgte, sondern man soll diesen ersten Fall als den einzigen ansehen, als den Eintritt in eine unlösbare Ehe.
Dieser Eintritt in die Ehe weist durch die Folge, die er mit sich bringt, nämlich die Geburt der Kinder, den Eheschließenden eine neue, begrenztere Form des Gottes- und Nächstendienstes zu. Vor der Ehe konnte der Mensch unmittelbar in allen möglichen Formen Gott und Menschen dienen, die Eheschließung aber beschränkt sein Tätigkeitsgebiet und verlangt von ihm die Aufziehung der aus der Ehe stammenden Nachkommenschaft, die selbst wieder sich dem Dienste Gottes und der Nächsten widmen soll.
Was sollen der Mann und die Frau tun, die in der Ehe leben und durch die Erziehung der Kinder den bescheidenen Teil am Gottes- und Nächstendienst erfüllen, der sich aus ihrer Lage ergibt?
Immer das gleiche: gemeinsam nach der Befreiung von der Verführung streben, nach der Selbstläuterung und nach der Vernichtung der Sünde, an deren Stelle man Beziehungen setzen soll, die einen allgemeinen und persönlichen Gottes- und Nächstendienst ermöglichen, – die reinen Beziehungen von Bruder und Schwester, die von sinnlicher Liebe nichts wissen.
Und darum ist es nicht wahr, daß wir uns von dem Ideale Christi nicht leiten lassen können, weil es so hoch, so vollkommen und unerreichbar ist. Wir vermögen uns nur darum nicht von ihm leiten zu lassen, weil wir uns selbst belügen und betrügen.
Wenn wir nämlich sagen, daß wir leichter erfüllbare Vorschriften haben müßten, als das Ideal Christi es ist, da wir sonst, ohne sein Ideal zu erreichen, in Ausschweifung verfallen, so sagen wir damit nicht eigentlich, daß das Ideal Christi für uns zu hoch sei, sondern nur, daß wir daran nicht glauben und unsere Handlungen nicht nach diesem Ideal bestimmen wollen. Wenn wir beispielsweise sagen, daß wir, einmal gefallen, für immer in Ausschweifung versunken sind, sagen wir damit nur, daß wir schon im voraus darüber im klaren waren, den Fall mit einer Unebenbürtigen nicht als eine Sünde, sondern als eine Belustigung, einen Zeitvertreib anzusehen, den wir nicht unbedingt durch das, was wir Ehe nennen, gutzumachen brauchten. Wenn wir jedoch begreifen, daß der Verlust der Keuschheit auch hier eine Sünde ist, die durch eine unlösbare Ehe und die gesamte Tätigkeit der Erziehung der Kinder, die aus dieser Ehe entspringen, gesühnt werden muß und gesühnt werden kann, so könnte unser Fall für uns nie zur Ursache werden, daß wir für immer in Ausschweifung versinken.
Das wäre schließlich dasselbe, wie wenn der Ackersmann die Saat, die ihm an einer Stelle nicht aufgegangen ist, nicht als Saat betrachtete, sondern an einer zweiten und dritten Stelle säete und als wirkliche Saat nur diejenige betrachtete, die ihm aufgegangen ist. Ein solcher Mensch würde augenscheinlich viel Land und Saat verderben und niemals säen lernen.
Stellt nur die Keuschheit als Ideal hin, und nehmt an, daß jeder Sündenfall eines Menschenpaares die einzige unzerreißbare Ehe darstellt, dann wird klar, daß die von Christus gegebene Richtschnur nicht nur genügt, sondern das einzig mögliche ist.
»Der Mensch ist schwach, man muß ihm eine Aufgabe geben, die seinen Kräften entspricht«, sagen die Leute. Das ist etwa dasselbe, als sagte man: »Meine Hand ist schwach, ich kann keine Linie ziehen, die gerade, das heißt die kürzeste zwischen zwei Punkten ist, ich nehme daher, wenn ich eine Gerade ziehen will, um meine Aufgabe zu erleichtern, eine krumme oder gebrochene Linie zum Vorbild.«
Je schwächer meine Hand ist, desto notwendiger brauche ich ein vollkommenes Vorbild.
Wir dürfen, nachdem wir die christliche Lehre des Ideals kennengelernt haben, uns nicht so stellen, als ob es uns unbekannt wäre, und es durch äußerliche Vorschriften ersetzen.
Die christliche Lehre des Ideals ist der Menschheit eben darum offenbart worden, weil es ihr in ihrer gegenwärtigen Ära die Richtschnur geben kann. Die Menschheit hat bereits die Periode der äußerlichen religiösen Verordnungen hinter sich, und niemand glaubt mehr an sie. Die christliche Lehre des Ideals ist die einzige Lehre, die der Menschheit als Richtschnur zu dienen vermag.
Man kann und darf das Ideal Christi nicht durch äußerliche Vorschriften ersetzen, wir müssen uns vielmehr dieses Ideal in seiner ganzen Reinheit bewahren und uns vor allem den Glauben an dieses Ideal erhalten.
Dem Schwimmer, der nicht weit vom Ufer schwamm, konnte man zuerst zurufen: »Halt' dich an jenen Hügel, an dieses Vorgebirge, diesen Turm usw.« Doch dann kommt die Zeit, wo die Schwimmer sich vom Ufer entfernt haben und nur die unerreichbaren Gestirne sowie der Kompaß, der die Richtung zeigt, ihnen als Lenker dienen können und sollen.
Eines wie das andere ist uns gegeben.
24. April 1900.