Leo Tolstoj
Die Kreutzersonate
Leo Tolstoj

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I

Es war zu Beginn des Frühlings. Wir reisten bereits den zweiten Tag. Für kürzere oder längere Strecken stiegen Passagiere in den Zug ein und stiegen wieder aus, nur drei Reisende waren, ebenso wie ich, schon von der Abgangsstation aus unterwegs: eine Dame, weder hübsch noch jung, die Zigarette im Mund, mit abgespannten Gesichtszügen, in einem halb nach Herrenart zugeschnittenen Paletot und einer Kappe; ein Bekannter der Dame, ein gesprächiger Vierziger, sorgfältig und modern gekleidet; und noch ein Herr von kleinem Wuchse, der sich abseits hielt, jedoch durch seine heftigen Bewegungen auffiel; er war noch nicht alt, sein krauses Haar war augenscheinlich vorzeitig ergraut und seine auffallend glänzenden Augen flitzten rasch von einem Gegenstand zum andern. Er trug einen alten Paletot mit Lammfellkragen, den einstmals ein tüchtiger Schneider angefertigt haben mochte, und eine hohe Lammfellmütze. Wenn er den Paletot aufknöpfte, gewahrte man darunter ein ärmelloses Wams und ein gesticktes russisches Hemd. Eine Eigentümlichkeit dieses Herrn war, daß er von Zeit zu Zeit seltsame Laute ausstieß, die einem Räuspern oder einem eben begonnenen, jedoch plötzlich unterdrückten Lachen glichen.

Dieser Herr hatte während der ganzen Fahrt jede Unterhaltung und Bekanntschaft mit den übrigen Reisenden sorgfältig vermieden. Auf Anreden der Nachbarn gab er kurze, schroffe Antworten, sonst las er oder sah rauchend zum Fenster hinaus oder holte aus einer alten Reisetasche seinen Proviant hervor, trank Tee oder stärkte sich durch einen Imbiß.

Ich hatte den Eindruck, daß seine Vereinsamung ihm lästig sei, und wollte ihn mehrmals ansprechen, aber jedesmal wenn unsere Augen einander begegneten – was häufig geschah, da wir einander schräg gegenübersaßen – wandte er sich ab und nahm sein Buch vor oder blickte zum Fenster hinaus.

Als der Zug am späten Nachmittag des zweiten Tages auf einer großen Station hielt, stieg dieser nervöse Herr aus, um sich siedendes Wasser zu holen, und bereitete sich im Kupee Tee. Der sorgfältig und modern gekleidete Herr – wie ich später erfahren sollte, ein Advokat – war mit seiner Nachbarin, der rauchenden Dame in dem halb nach Herrenart zugeschnittenen Paletot, in den Wartesaal gegangen, um dort Tee zu trinken.

Während der Abwesenheit des Herrn und der Dame stiegen etliche neue Personen ein, darunter auch ein hochgewachsener, glattrasierter Alter mit runzeligem Gesicht, anscheinend ein Kaufmann, in einem Iltispelz und einer Tuchmütze mit mächtigem Schirm. Der Kaufmann nahm gegenüber dem Sitze des Advokaten und der Dame Platz und begann sogleich ein Gespräch mit einem jungen Menschen, dem Aussehen nach einem Handlungsgehilfen, der gleichfalls auf dieser Station eingestiegen war.

Ich saß den beiden gegenüber, und da der Zug stillstand, konnte ich in den kurzen Augenblicken, wenn gerade niemand vorüberging, Bruchstücke ihrer Unterhaltung hören. Der Kaufmann erzählte zunächst, er fahre nach seinem Gute, das nur eine Station weit abliege; dann kamen sie wie gewöhnlich auf die Marktpreise, die Moskauer Geschäftslage und die Nishnij-Nowgoroder Messe zu sprechen. Der Handlungsgehilfe begann von den Orgien zu schwärmen, die ein ihnen bekannter reicher Kaufmann auf der Messe gefeiert habe, der Alte ließ ihn jedoch nicht ausreden, sondern begann selbst von einstigen Zechgelagen in Kunawino, die er mitgemacht hätte, zu erzählen.

Er war offenbar stolz auf seine Teilnahme an jenen Gelagen und berichtete schmunzelnd, wie sie einmal mit eben jenem Bekannten zusammen in Kunawino einen ganz tollen Streich verübt hätten, von dem man nur im Flüstertone reden könne, worauf der Handlungsgehilfe in ein solches Gelächter ausbrach, daß es im ganzen Wagen widerhallte; auch der Alte stimmte in das Lachen ein und ließ seine beiden noch vorhandenen Zähne sichtbar werden.

Ich versprach mir nicht viel Interessantes von der weiteren Unterhaltung der beiden und stand auf, um mich bis zum Abgange des Zuges noch ein wenig auf dem Bahnsteig zu ergehen. In der Tür begegnete ich dem Advokaten mit der Dame, die sich über irgend etwas lebhaft unterhielten.

»Sie werden nicht mehr weit kommen,« sagte der gesprächige Advokat zu mir, »es wird gleich zum zweitenmal geläutet.«

In der Tat hatte ich kaum den letzten Wagen erreicht, als das Glockenzeichen erklang. Ich kehrte in mein Kupee zurück, wo die Dame und der Advokat immer noch ihre lebhafte Unterhaltung fortsetzten, während der alte Kaufmann ihnen schweigend gegenübersaß, streng vor sich hinschaute und von Zeit zu Zeit mißbilligend an den Lippen kaute.

». . . Sie erklärte also ihrem Gatten kurz und bündig,« sagte der Advokat lächelnd, als ich an ihm vorüberging, »daß sie mit ihm nicht zusammenleben könne und wolle, da . . .«

Und er begann irgend etwas zu erzählen, was ich nicht verstand. Hinter mir stiegen noch andere Passagiere ein, dann kam der Zugführer, ein Gepäckträger eilte vorüber und es gab noch eine ganze Weile Trubel und Geräusch, so daß man das Gespräch der beiden nicht hören konnte. Als es endlich still geworden war und ich wieder die Stimme des Advokaten vernahm, war die Unterhaltung zwischen ihm und der Dame anscheinend bereits von dem Sonderfall auf allgemeine Betrachtungen übergegangen.

Der Advokat meinte, daß die Ehescheidungsfrage augenblicklich die öffentliche Meinung in Europa lebhaft beschäftige und daß auch bei uns derartige Fälle immer häufiger vorkämen. Als er merkte, daß alles ringsum schwieg und nur seine Stimme zu vernehmen war, brach er die Unterhaltung mit der Dame ab und wandte sich zu dem Alten.

»In der alten Zeit kamen solche Dinge nicht vor, nicht wahr?« sagte er leutselig lächelnd.

Der Alte wollte etwas erwidern, in diesem Augenblick jedoch setzte sich der Zug in Bewegung und der Alte nahm seine Mütze ab, bekreuzigte sich und begann im Flüstertone zu beten. Der Advokat wandte seinen Blick zur Seite und wartete respektvoll. Als der Alte sein Gebet samt der dreimaligen Bekreuzigung beendet hatte, setzte er seine Mütze gerade und tief in die Stirn, machte es sich auf seinem Platze bequem und nahm dann das Wort:

»Sie kamen auch früher wohl vor, mein Herr,« sagte er, »wenn auch nicht so häufig. Heutzutage kann es ja schließlich nicht anders sein. Die Menschen sind schon gar zu gebildet geworden.«

Der Zug bewegte sich immer rascher und rascher und fuhr donnernd über die Schienenkreuzungen; ich konnte nicht recht hören, was die beiden sprachen, ihre Unterhaltung zog mich jedoch an und so rückte ich näher zu ihnen hin. Mein Gegenüber, der nervöse Herr mit den glänzenden Augen, interessierte sich anscheinend gleichfalls für den Gegenstand des Gespräches und hörte aufmerksam zu, ohne im übrigen seinen Platz zu verlassen.

»Was ist denn an der Bildung so Übles?« fragte die Dame mit kaum merklichem Lächeln. »Ist es vielleicht richtiger, sich so zu verheiraten, wie es in der alten Zeit geschah, als Bräutigam und Braut einander vorher überhaupt nicht zu Gesicht bekamen?« fuhr sie fort, indem sie nach Art vieler Damen nicht auf das eben Gesagte erwiderte, sondern darauf, was ihrer Meinung nach noch gesagt werden könnte.

»Sie wußten nicht, ob sie sich liebten, ob sie sich überhaupt jemals würden lieben können, und sie heirateten den ersten besten, um sich vielleicht ihr ganzes Leben lang zu quälen – ist das etwa nach Ihrer Meinung richtiger?« sagte sie, sich offenbar mehr an mich und an den Advokaten als an den Alten wendend, mit dem sie sich eigentlich unterhielt.

»Gar zu gebildet ist man heute geworden«, wiederholte der Kaufmann, sah die Dame verächtlich an und würdigte sie keiner Antwort.

»Ich wüßte gern, wie Sie den Zusammenhang zwischen der Bildung und der Unverträglichkeit in der Ehe erklären«, sagte kaum merklich lächelnd der Advokat.

Der Kaufmann wollte etwas sagen, doch die Dame fiel ihm ins Wort.

»Nein, die Zeiten sind vorbei«, begann sie und wollte weiterreden, doch der Advokat unterbrach sie.

»Lassen Sie doch, bitte, den Herrn seinen Gedanken klar aussprechen«, sagte er.

»Von der Bildung kommen alle Dummheiten«, sagte der Alte in entschiedenem Tone.

»Erst verheiratet man die jungen Leute miteinander, obwohl sie sich nicht lieben, und dann wundert man sich, daß sie sich nicht vertragen«, beeilte sich die Dame einzuwerfen und sah dabei mich und den Advokaten, ja sogar den Handlungsgehilfen an, der sich von seinem Platze erhoben hatte und, den Ellbogen auf die Rückenlehne gestützt, lächelnd das Gespräch mit anhörte.

»Nur Tiere lassen sich nach dem Willen des Besitzers paaren, während Menschen ihre Neigungen und Sympathien haben«, versetzte die Dame, die den Kaufmann offenbar herauszufordern suchte.

»Sie haben unrecht, wenn sie so reden, meine Gnädige«, erwiderte der Alte. »Ein Tier ist sozusagen ein Stück Vieh, dem Menschen aber ward das Gesetz gegeben.«

»Wie soll man denn aber mit einem Menschen zusammenleben, wenn keine Liebe da ist?« ereiferte sich die Dame, sichtbar bemüht, ihre Anschauungen, die sie anscheinend für sehr neu hielt, in Worte zu kleiden.

»Früher legte man darauf nicht so viel Gewicht«, sagte der Alte in eindringlichem Tone. »Erst in neuerer Zeit ist das Mode geworden. Sobald etwas vorfällt, sagt die Frau gleich: ›Ich verlasse dich.‹ Auch bei den Bauern ist das jetzt so üblich geworden. ›Da,‹ sagt die Frau, ›hier sind deine Hemden und Hosen, ich geh zum Wanjka, der hat schönere Locken als du.‹ Da hilft kein Reden. Ein Weib muß vor allem durch Furcht im Zaum gehalten werden.«

Der Handlungsgehilfe sah erst den Advokaten, darauf die Dame, dann mich an und bezwang sein Lächeln, um die Worte des Kaufmanns zu bespötteln oder gutzuheißen, je nachdem, wie wir sie aufnehmen würden,

»Was für eine Furcht meinen Sie?« fragte die Dame.

»Die Furcht, die die Frau vor ihrem Manne haben soll. Diese Furcht meine ich.«

»Nun Väterchen, diese Zeiten dürften doch ein für allemal vorüber sein«, entgegnete die Dame mit einem gewissen Ingrimm.

»Nein, meine Gnädige, diese Zeiten werden noch lange nicht vorüber sein. Wie Eva, das Weib, aus der Rippe des Mannes geschaffen wurde, so wird es auch bleiben bis ans Ende der Welt«, sagte der Alte und schüttelte dabei so streng und triumphierend sein Haupt, daß der Handlungsgehilfe ihm ohne weiteres den Sieg zuerkannte und laut auflachte.

»Ja, so urteilt ihr Männer«, sagte die Dame, die durchaus nicht nachgeben wollte und uns in der Runde anblickte. »Euch selbst nehmt ihr jede Freiheit, die Frau aber wollt ihr unter Schloß und Riegel halten. Ihr dürft euch natürlich alles erlauben.«

»Wer hat da zu erlauben, nicht darum handelt es sich; durch uns Männer kommt kein Zuwachs ins Haus, aber eine Ehefrau bleibt eine Frau, ein leckes Gefäß«, fuhr der Kaufmann in seiner eindringlichen Weise fort.

Die überzeugende Tonart des Alten brachte die Zuhörer offenkundig auf seine Seite und auch die Dame fühlte sich bereits besiegt, doch gab sie noch immer nicht nach.

»Mag sein, aber ich denke, Sie werden doch zugeben, daß auch die Frau ein Mensch ist und Gefühle hat wie der Mann. Was soll sie nun tun, wenn sie ihren Gatten nicht liebt?«

»Nicht liebt!« wiederholte der Kaufmann finster und zuckte mit den Brauen und Lippen. »Nur keine Angst. Sie wird ihn schon lieben.« Dieses unerwartete Argument gefiel dem Handlungsgehilfen ganz besonders und er stieß einen Laut des Beifalls aus.

»Nein, sie wird ihn nicht lieben,« versetzte die Dame, »und wo keine Liebe ist, da hilft auch kein Zwang.«

»Und wenn die Frau dem Manne untreu wird – was dann?« fragte der Advokat.

»Das darf es nicht geben,« sagte der Kaufmann, »da heißt es eben die Augen offen halten.«

»Und wenn es doch geschieht? Schließlich kommt es doch einmal vor.«

»Bei andern Leuten mag es vorkommen, bei uns kommt es nicht vor«, sagte der Alte.

Alle schwiegen. Der Handlungsgehilfe rückte näher heran, und da er vermutlich hinter den andern nicht zurückstehen wollte, begann er lächelnd:

»Ja, bei einem Kollegen von mir ist auch so ein Skandal passiert. Schwer zu entscheiden, wen die Schuld trifft. Hatte das Pech, sich eine leichtsinnige Frau zu nehmen. Und die machte ihm tolle Streiche. Er war ein gesetzter, gescheiter Mensch. Zuerst ließ sie sich mit dem Buchhalter ein. Ihr Mann redete ihr im guten zu. Sie war nicht zu halten. Allerlei Gemeinheiten trieb sie. Sein Geld stahl sie ihm, da schlug er sie. Doch es wurde nur immer schlimmer mit ihr. Mit einem Ungetauften, einem Juden, mit Verlaub zu sagen, bändelte sie an. Was sollte er tun? Er ließ sie ganz und gar laufen. Unbeweibt lebt er jetzt, sie aber treibt sich herum.«

»Weil er ein Dummkopf ist«, sagte der Alte. »Hätte er sie gleich von Anfang an richtig im Zaume gehalten und ihr nicht nachgegeben, dann wäre sie schon bei ihm geblieben. Man muß von Hause aus die Zügel stramm ziehen. Trau dem Gaul nicht auf dem Felde und der Frau nicht im Hause!«

In diesem Augenblick trat der Schaffner ins Kupee und fragte nach den Fahrkarten zur nächsten Station. Der Alte gab seine Fahrkarte ab.

»Ja, die Weiber muß man bei Zeiten kurz halten, sonst geht die Sache schief!«

»Aber Sie haben doch eben selbst erzählt, wie verheiratete Leute sich auf dem Jahrmarkt in Kunawino belustigen!« platzte ich heraus.

»Das ist eine Sache für sich«, sagte der Kaufmann und versank in Schweigen.

Als das Haltesignal ertönte, erhob sich der Kaufmann, holte seine Reisetasche unter der Bank hervor, schlug die Pelzschöße übereinander, lüftete die Mütze und stieg aus dem Wagen.


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