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Der Schaffner kam in unsern Wagen, und als er bemerkte, daß unser Licht fast heruntergebrannt war, löschte er es aus, ohne ein neues anzuzünden. Draußen dämmerte es bereits. Während der Anwesenheit des Schaffners schwieg Posdnyschew und seufzte nur schwer. Erst als jener gegangen war, und man in dem halbdunklen Kupee nur das Klirren der Fensterscheiben und das gleichmäßige Schnarchen des Handlungsgehilfen vernahm, setzte Posdnyschew seine Erzählung fort. Im Zwielicht des Morgengrauens konnte ich Posdnyschew gar nicht mehr sehen. Ich vernahm nur seine Stimme, aus der mehr und mehr Leid und Erregung hervorklangen.
»Ich hatte 35 Werst zu Wagen und 8 Stunden mit der Bahn zu fahren. Die Wagenfahrt war wundervoll. Es war ein sonniger Herbsttag mit leichtem Frost – so die Zeit, wissen Sie, wo die Radschienen sich im halbharten Straßenschmutz abdrücken. Die Wege waren glatt, das Licht grell und die Luft erfrischend. Die Fahrt im Reisewagen war wirklich ein Genuß. Als es hell geworden war und ich so dahinfuhr, wurde mir leichter ums Herz. Ich sah die Pferde, die Felder, die Leute, die des Weges daher kamen, und vergaß, wohin ich fuhr. Zuweilen schien es mir, daß ich einfach nur so fuhr, daß nichts von alledem, was meinen Geist beschäftigte, in Wirklichkeit existierte. Dieses Selbstvergessen stimmte mein Gemüt ganz besonders freudig. Wenn ich mich dann erinnerte, wohin ich fuhr, sprach ich zu mir selbst: ›Du wirst schon weitersehen, denk nicht darüber nach.‹ Unterwegs hatte ich überdies ein kleines Erlebnis, das mich stark aufhielt und zugleich zerstreute: die Wagenachse zerbrach und mußte ausgebessert werden. Der Achsenbruch war insofern von Bedeutung, als ich nicht um fünf Uhr, wie ich gedacht, sondern erst um zwölf Uhr in Moskau und um ein Uhr in meiner Wohnung sein konnte, da ich den Kurierzug verpaßte und den Personenzug benutzen mußte. Die Wagenfahrt mit Hindernissen, die Reparatur, die Abrechnung in der Herberge, die Unterhaltung mit den Herbergsleuten – alles das gab mannigfache Zerstreuung. Als die Dämmerung hereinbrach, war alles fertig und ich fuhr weiter. Die Abendfahrt war noch schöner als die Fahrt am Tage. Es war Neumond und der Weg ausgezeichnet; der leichte Frost, die Pferde, der muntere Kutscher – alles war dazu angetan, meine Stimmung zu heben und mich vergessen zu machen, was mich erwartete, oder vielleicht auch mich diese Stimmung auskosten zu lassen, weil ich wußte, was mich erwartete, und daß es sich nun um den Abschied von den Freuden des Lebens handelte. Doch diese ruhige Gemütsverfassung samt der Möglichkeit, meine Gefühle zu bezwingen, fand mit der Wagenfahrt ein Ende. Sobald ich im Zuge saß, nahm alles sogleich ein verändertes Aussehen an. Diese achtstündige Bahnfahrt war für mich etwas Entsetzliches, was ich mein Lebtag nicht vergessen werde. Ob ich mir vielleicht im Zuge lebhafter vorstellte, ich sei bereits zu Hause angekommen, oder ob die Eisenbahnfahrt überhaupt so aufregend auf die Menschen wirkt, jedenfalls war ich von dem Augenblick an, da ich im Zuge saß, nicht mehr Herr meiner Einbildungskraft. Sie begann mir ununterbrochen, mit auffallender Grellheit ganze Reihen von Szenen vorzugaukeln, die meine Eifersucht schürten, Serien von Bildern, eines immer zynischer als das andere, sie alle schilderten den Verrat, den sie dort in meiner Abwesenheit an mir beging. Ich verzehrte mich vor Unwillen, Zorn und einer besonderen Art Lustgefühl angesichts meiner Demütigung bei der Vertiefung in jene Szenen, von denen ich mich nicht loßreißen, nicht befreien, und die ich nicht hervorzaubern konnte. Ja noch mehr: je tiefer ich mich in diese Phantasieszenen versenkte, desto mehr glaubte ich an ihre Wirklichkeit. Die grelle Deutlichkeit, in der ich die Szenen sah, dienten mir gleichsam zum Beweise, daß das, was ich sah, der Wirklichkeit entsprach. Irgendein Teufel ersann da gleichsam wider meinen Willen die scheußlichsten Bilder und schob sie meiner Vorstellung unter. Eine frühere Unterhaltung mit einem Bruder Truchatschewskijs fiel mir ein, und mit wahrer Begeisterung zerriß ich mein Herz in der Erinnerung an jene Unterhaltung, indem ich diese auf Truchatschewskijs Beziehungen zu meiner Gattin übertrug. Es war schon lange her, aber ich hatte mir die Sache wohl gemerkt. Auf meine Frage, ob er öffentliche Häuser besuche, hatte Truchatschewskijs Bruder mir erwidert, daß ein ordentlicher Mensch dies nicht tue, da er dort leicht krank werden könne und Schmutz und Ekel mit in den Kauf nehmen müsse, während er stets eine anständige Frau als Geliebte finden könne. Nun hatte sein Bruder – meine Frau gefunden. Sie stand allerdings nicht mehr in der ersten Jugendblüte, ein Seitenzahn fehlte ihr schon, und die Statur war ein bißchen zu rund, aber schließlich – was blieb einem übrig? Man muß nehmen, was man findet. Es ist am Ende noch ganz schmeichelhaft für sie, daß er ihr die Ehre antut, sie zu seiner Geliebten zu wählen; jedenfalls war sie ungefährlich für seine kostbare Gesundheit. Nein, das ist unmöglich, sprach ich voll Entsetzen zu mir selbst. Es kann, es kann einfach nichts Derartiges geben! Es liegt auch nicht der geringste Anlaß vor, etwas Derartiges anzunehmen. Sagte sie mir nicht, der Gedanke, ich könnte ihretwegen auf den andern eifersüchtig sein, habe für sie etwas Demütigendes? ›Ja, aber sie lügt in einem fort, lügt in einem fort‹, schrie es in mir auf, und die Aufregung begann von neuem. Außer mir waren nur noch zwei Reisende im Wagen, eine alte Frau mit ihrem Gatten, ein mürrisches Paar, das auf einer der nächsten Stationen ausstieg, so daß ich ganz allein im Kupee blieb. Ich saß wie ein wildes Tier im Käfig; bald sprang ich auf, um ans Fenster zu treten, bald begann ich schwankend auf und ab zu gehen, als wollte ich den Waggon zur Eile antreiben – der aber rüttelte und zitterte mit seinen Bänken und Fenstern ganz so wie unserer hier.«
Posdnyschew sprang auf und machte ein paar Schritte, um sich dann wieder zu setzen.
»Ach, diese Eisenbahnwagen!« fuhr er auf – »ich fürchte mich förmlich vor ihnen. Ein Grauen überfällt mich, wenn ich darin sitze. Ich sagte mir: ich will an etwas anderes denken – vielleicht an den Herbergswirt, bei dem ich Tee getrunken hatte. Die Gestalt des langbärtigen Herbergsknechtes und seines Enkels, der in gleichem Alter mit meinem Wassja stehen mochte, tauchte vor mir auf. Mein Wassja! Er muß es nun mit ansehen, wie der Musikant seine Mutter küßt. Was muß in seiner armen Seele vorgehen? Doch was fragt sie danach? Sie liebt . . . Und wieder bäumt sich alles in mir auf. Nein, nein! Ich will lieber an die Besichtigung des Krankenhauses in der Kreisstadt denken – wie der eine Patient sich gestern über den Arzt beklagte, – den Arzt, der den Schnurrbart so trägt wie Truchatschewskij. Wie frech er doch log, als er sagte, daß er von Moskau abreise – überhaupt, wie frech sie mich beide betrogen! Und wieder begann es von vorn. Alles, woran ich nur dachte, hing mit ihm zusammen. Ich litt ganz entsetzlich. Das Schlimmste war, daß ich nicht wußte, woran ich mich halten sollte, daß Zweifel und Ungewißheit, ob ich sie lieben oder hassen sollte, mir die Seele zerrissen. Ich litt so furchtbar, daß mir sogar der Gedanke kam, aus dem Zuge zu springen, mich auf die Schienen zu legen und allem ein Ende zu machen. Dann gab es wenigstens keine Zweifel mehr für mich. Das einzige, was mich abhielt es zu tun, war das Mitleid mit mir selbst, das sogleich wieder durch den Haß, den ich ihr gegenüber empfand, abgelöst wurde. Ihm gegenüber empfand ich ein eigenartiges Gefühl des Neides, ein Bewußtsein meiner Unterlegenheit und seines Sieges, für sie aber hatte ich nichts als einen grenzenlosen Haß. Es geht nicht an, daß ich mit mir ein Ende mache und sie am Leben lasse; sie soll leiden, wenigstens so viel, daß sie begreift, wie furchtbar ich gelitten habe, sagte ich mir. Auf allen Stationen stieg ich aus, um mich zu zerstreuen. Auf einer Station sah ich am Büfett, daß die Leute tranken, und alsbald trank auch ich ein Glas Branntwein. Neben mir stand ein Jude, der gleichfalls trank. Er redete mich an, und um nicht allein in meinem Wagen zu bleiben, stieg ich mit ihm in seinen schmutzigen, verräucherten Wagen dritter Klasse ein, dessen Fußboden ganz von den Schalen zerkauter Sonnenblumenkerne bedeckt war. Dort nahm ich neben ihm Platz, und er begann allerhand Anekdoten zu erzählen. Ich hörte zu, verstand jedoch nicht, was er sagte, da ich in Gedanken stets bei meinen eignen Angelegenheiten verweilte. Er bemerkte das und verlangte von mir mehr Aufmerksamkeit, worauf ich mich erhob und wieder in meinen Wagen zurückging. Ich muß es doch einmal gründlich überlegen, sagte ich mir, ob ich mit meinen Gedanken auch wirklich auf dem richtigen Wege bin und überhaupt einen Grund habe, mich so zu quälen. Ich setzte mich, um ruhig nachzudenken, alsbald jedoch begann statt des ruhigen Nachdenkens wieder die alte Litanei: statt klarer Gedanken – wüste Szenen und Vorstellungen.
›Wie oft habe ich mir schon diese Qualen bereitet‹, sagte ich mir und dachte dabei an die vielen früheren Eifersuchtsanfälle – und schließlich kam nichts dabei heraus. So werde ich sie vielleicht, ja sogar bestimmt, ruhig schlafend antreffen: sie wird erwachen, wird sich freuen, daß ich da bin, und an ihren Worten und ihrem Blicke werde ich fühlen, daß nichts vorgefallen ist und alle meine Vermutungen töricht waren. Oh, wie herrlich wäre das! Doch nein, das ist zu oft gewesen, es kann nicht noch einmal sein, sagte mir irgendeine Stimme, und wieder begann es von neuem. Das ist die wahre Höllenqual! Nicht in ein Syphilishospital würde ich einen jungen Menschen führen, um ihm die Lust am Weibe zu benehmen, sondern in meine eigne Seele in ihrem damaligen Zustande, damit er die Teufel sähe, die sie zerfleischt haben. Empörend war es schon, daß ich mir ein zweifelloses Recht auf ihren Körper anmaßte, als ob es mein Körper wäre, während ich auf der andern Seite fühlte, daß mir ein Eigentum an diesem Körper durchaus nicht zustand, daß er keineswegs mir gehörte, daß sie darüber verfügen dürfe, wie sie will, und wenn sie darüber nicht so verfügt, wie ich es will, so darf ich eben weder ihm noch ihr etwas antun. Er singt, wie Hans der Schließer unterm Galgen, sein Lied – wie er sie auf den süßen Mund geküßt usw., und er hat gewonnenes Spiel. Und gegen sie kann ich noch weniger ausrichten. Wenn sie noch nichts getan hat, aber die böse Absicht hegt, und ich weiß, daß dies der Fall ist: um so schlimmer; dann wäre es schon besser, sie hätte es wirklich getan und ich wüßte es, damit endlich die Ungewißheit aufhöre. Ich hätte nicht sagen können, was ich eigentlich wünschte. Ich wünschte, sie möchte das nicht wollen, was sie ihrerseits wiederum wollen mußte. Es war schon der reine Wahnsinn.