Leo Tolstoj
Die Kreutzersonate
Leo Tolstoj

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XXIV

Zwei Tage darauf fuhr ich, nachdem ich in der besten, ruhigsten Stimmung von meiner Frau Abschied genommen, nach der Kreisstadt. Dort gab es stets sehr viel zu tun, ein Leben ganz besonderer Art, eine kleine Welt für sich. Zehn Stunden täglich brachte ich an den beiden Tagen in den verschiedenen Sitzungen zu. Am zweiten Tage brachte man mir in das Amtslokal einen Brief von meiner Frau. Ich las ihn sogleich – sie schrieb von den Kindern, von einem Onkel, von der Kinderfrau, von allerhand Einkäufen und beiläufig, wie von einer ganz alltäglichen Sache, daß Truchatschewskij dagewesen sei und die versprochenen Noten mitgebracht habe, daß er sich erboten habe, noch zu spielen, sie ihm jedoch abgesagt habe. Ich wußte mich nicht zu erinnern, daß er versprochen hätte, uns Noten zu bringen; ich hatte den Eindruck, daß er damals für die Dauer Abschied genommen hatte, und darum berührte mich die Sache eigentümlich. Ich hatte jedoch so viel zu tun, daß ich nicht lange nachdenken konnte, und erst am Abend, in meinem Quartier, las ich den Brief zum zweitenmal mit Aufmerksamkeit durch. Abgesehen davon, daß Truchatschewskij nochmals in meiner Abwesenheit einen Besuch gemacht hatte, erschien mir der ganze Ton des Briefes unverständlich. Das wilde Tier der Eifersucht begann in seinem Käfig zu toben und wollte herausspringen, doch ich hatte Angst vor diesem Tier und sperrte es schleunigst ein. ›Was für ein abscheuliches Gefühl, diese Eifersucht,‹ sagte ich mir, ›und was kann natürlicher sein als das, was sie da schreibt!‹ Und ich legte mich zu Bett und begann über die Amtsgeschäfte nachzudenken, die für morgen vorlagen. Ich hatte immer einen schlechten Schlaf, wenn ich solch eine Sitzung an einem fremden Orte mitzumachen hatte, diesmal jedoch schlief ich sehr bald ein. Da – Sie wissen, wie das so zu sein pflegt: plötzlich geht's wie ein elektrischer Schlag durch den ganzen Menschen, und man erwacht. So erwachte auch ich, mit dem Gedanken an sie, an meine sinnliche Liebe zu ihr, an Truchatschewskij und daran, daß sie beide einig wären. Wut und Entsetzen preßten mir das Herz zusammen. Ich suchte jedoch Vernunft anzunehmen. ›Wie töricht‹, sagte ich mir, ›es liegt doch gar kein Grund vor, gar nichts ist da und gar nichts ist gewesen. Wie kann ich überhaupt sie und mich selbst so tief erniedrigen, indem ich so schreckliche Vermutungen zulasse! Ein hergelaufener Geiger, eine Art Mietling, der allgemein als ein Mensch von schlechten Sitten gilt, und eine geachtete und geschätzte Frau, eine Familienmutter, meine Gattin! Was für ein Unsinn! sagte ich mir auf der einen Seite. ›Und doch – warum sollte es nicht sein?‹ klang es mir von der anderen Seite ins Ohr. ›Warum sollte nicht dasselbe einfache, leicht begreifliche Prinzip, auf Grund dessen ich sie geheiratet und mit ihr zusammengelebt habe, auch hier wirksam gewesen sein? Was ich einzig und allein bei ihr suchte – warum sollten das nicht auch andere, wie zum Beispiel dieser Musikant, bei ihr suchen? Er ist unverheiratet, ist gesund – ich erinnere mich, wie er knirschend in sein Kotelett einhieb und mit den roten Lippen gierig das Weinglas umfing – er ist wohlgenährt, von glatten Manieren und keineswegs ohne Grundsätze, sondern dem einen Grundsatze ergeben: jeden Genuß, der sich ihm darbietet, auszukosten. Das Band, das sie verknüpfte, war die Musik, die raffinierteste Gefühlsvermittlerin. Was sollte ihn zurückhalten? Nichts. Alles muß ihn im Gegenteil zu ihr hinziehen. Und sie? Wer ist sie? Sie war stets ein Rätsel und ist es geblieben. Ich kenne sie nicht. Ich kenne sie nur als Tier. Und für ein Tier gibt es keine Hemmung, darf es keine Hemmung geben.‹ Nun erst erinnerte ich mich ihrer Gesichter an jenem Abend, als sie nach der Kreutzersonate irgendeine leidenschaftliche kleine Sache, ich weiß nicht von wem, spielten, ein Stück von geradezu gemeiner Sinnlichkeit. ›Wie konnte ich nur abreisen?‹ sagte ich mir, als ich mich ihrer Gesichter erinnerte; war es nicht klar, daß an jenem Abend bereits alles zwischen ihnen abgemacht war, und war es nicht zu sehen, daß es schon an jenem Abend nicht nur zwischen ihnen keine Scheidewand mehr gab, sondern daß sie beide, vor allem sie, nach dem, was zwischen ihnen geschehen, ein gewisses Schamgefühl empfanden? Ich erinnerte mich, wie sie sanft, selig und schmachtend lächelte und sich den Schweiß von dem geröteten Gesichte wischte, als ich an das Klavier herantrat. Schon da vermieden sie es, einander anzusehen, und erst beim Abendessen, als er ihr Wasser eingoß, sahen sie einander mit kaum merklichem Lächeln an. Mit Entsetzen erinnerte ich mich jetzt ihres Blickes mit dem kaum merklichen Lächeln. ›Ja, alles ist zu Ende‹, sagte mir eine Stimme, doch sogleich widersprach eine andere Stimme: ›Nicht doch, was fällt dir ein? Das kann ja nicht sein‹, sagte diese zweite Stimme. Es schauerte mich, so im Dunkeln dazuliegen, ich zündete ein Licht an, und es wurde mir seltsam bang zumute in dem kleinen Zimmer mit den gelben Tapeten. Ich zündete mir eine Zigarette an und rauchte, wie man immer zu tun pflegt, wenn man sich in einem Kreise unlöslicher Widersprüche bewegt, rauchte eine Zigarette nach der andern, um mich zu betäuben und die Widersprüche nicht zu sehen. Die ganze Nacht konnte ich nicht einschlafen und um fünf Uhr, nachdem ich zu dem Entschlusse gekommen, daß ich nicht länger in diesem Zustande nervöser Spannung bleiben könne, erhob ich mich, weckte den Kellner, der mich bediente, und schickte ihn nach einem Wagen, da ich sogleich abfahren müsse. In die Kreisversammlung sandte ich eine Zuschrift, ich wäre in einer eiligen Sache nach Moskau berufen und bäte um Vertretung. Um acht Uhr war ich bereits in meinem Reisewagen unterwegs.«


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