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Wenn man am Ufer der Moskwa entlangritt, konnte man über den Zaun hinweg in Morosoffs Garten blicken.
Blühende Linden beschatteten einen hellen Teich, der dem Bojaren zur Fastenzeit ausreichende Nahrung lieferte. Weiterhin grünten Apfel-, Kirsch- und Pflaumenbäume. Durch den noch ungemähten Rasen schlängelten sich kleine Pfade. Der Tag war glühend heiß. Über den leuchtend roten Blüten der Heckenrosen kreisten unzählige goldene Käfer; in den Linden summten die Bienen; im hohen Grase zirpten die Grillen; über die schon von weitem rot schimmernden Johannisbeersträucher hinweg reckten große Sonnenblumen stolz ihre Köpfe empor und schienen sich nur allzugern von der heißen Sonne liebkosen zu lassen.
Der Bojar Morosoff ruhte wohl schon eine Stunde lang in seinem Sommergemach; Jelena aber saß mit ihren Mädchen unter einer blühenden Linde im Garten auf einer Rasenbank direkt am Zaun. Sie war in ein Sommergewand aus lichtblauem Seidensammet gekleidet, das mit kostbaren Rubinknöpfen verziert war. Die weiten, in feine Falten gelegten Musselinärmel waren oberhalb des Ellenbogens durch kostbare diamantbesetzte Armreifen zusammengehalten. Ebensolche Ohrgeschmeide fielen bis auf die Schultern herab; den Kopf schmückte ein mit echten Perlen bestickter Kokoschnik, Ein Kopfschmuck, den die verheirateten russischen Frauen zu tragen pflegten. und an den Stiefeletten aus feinstem Saffianleder glänzte Goldstickerei.
Jelena schien heiterer Stimmung zu sein. Sie lachte und scherzte fröhlich mit ihren Mädchen.
»Bojarinja!« sagte eines derselben, »nun mußt du noch diese Armspangen anlegen, sie heben sich so gut ab!«
»Ach, ihr mit eurem Herausputzen!« neckte Jelena, »eine geschlagene Stunde putzt ihr wohl schon an mir herum, nun bin ich aber wirklich bald schön genug!«
»Ja, aber diese Perlenschnur hier müssen wir noch anprobieren, ach ja, Bojarinja, nur das noch! Dann siehst du aber wirklich aus wie ein Heiligenbild in goldenem Rahmen!«
»Aber Paschenjka! Du solltest dich schämen, so etwas zu sagen!«
»Nun, Bojarinja, wenn wir dich nicht weiter schmücken sollen, könnten wir vielleicht etwas spielen, Greifen oder das Steinchenspiel? Oder magst du die Fische füttern oder wollen wir schaukeln? Oder sollen wir dir vielleicht etwas vorsingen?«
»Ach ja, Paschenjka, singt mir etwas vor, und zwar das Lied, das ihr neulich gesungen habt, als ihr Beeren pflücktet!«
»Ach, liebe Bojarinja, was ist schon an jenem Liede besonderes? Es ist so traurig, gar nicht für einen frohen Feiertag wie heute geeignet!«
»Das schadet nichts, sing mir's doch, Paschenjka!«
»Wie du bestimmst, Bojarinja, nur mach' mir nachher keine Vorwürfe, wenn dir traurig zumute wird! Gefährtinnen, kommt, singt den Kehrreim!«
Die Mädchen bildeten einen Kreis um Paschenjka, die mit klagender Stimme begann:
»Ach, wenn der Frost nicht zu den Blumen käme,
Sie würden auch im Winter voller Blüten stehen,
Wenn nicht der Gram das Herz in Fesseln nähme,
Dann würdet ihr mich nicht so klagend sehen:
Am Fenster sitzend mit gestützter Hand
Und starrend in das weite, ferne Land ...
Selbst nachts verfolgen mich die bangen Träume,
Ich irre durch die Räume, meine neuen Räume,
Besorgt raff' ich den Mantel, der sich bauscht,
Daß nicht verräterisch mein Pelz am Boden rauscht,
Und gar die Knöpfe durch ihr Klingen
Den Schwiegervater aus dem Schlummer bringen
Und er am Morgen es dem Sohn erzählt,
Ihm, der mich – ach – zur Gattin auserwählt.«
Paschenjka blickte die Bojarinja an; Tränen standen in ihren Augen.
»Ach, ich törichtes Mädchen!« rief Paschenjka erschreckt aus. »Was hab' ich da nur angerichtet! Weshalb mußte ich auch der Bojarinja den Willen tun! Was fangen wir nun an! Wenn Druschina Andrejewitsch die verweinten Äuglein der Bojarinja sieht, dann wird er uns schelten! ›Ihr dummen Dinger!‹ wird er sagen, ›nicht einmal unterhalten könnt ihr sie!‹«
»Ach, ihr lieben Herzen, kommt, weint mit mir!« sagte plötzlich Jelena, Paschenjka umschlingend.
»Was ist dir nur, Bojarinja?« Was hat dich denn plötzlich so traurig gestimmt?«
»Nicht plötzlich, liebe Mädchen! Schon vom Morgen an ist mir so traurig zumute! Als heute zur Frühmesse geläutet wurde und ich das Volk Gottes froh in die Kirchen strömen sah, wurde es mir so schwer ums Herz, und auch jetzt könnte mir das Herz schier brechen! Und nun ist der Tag so hell und strahlend, und dann der viele Putz, mit dem ihr mich geschmückt habt! Nehmt mir die Armspangen wieder fort, Mädchen, setzt mir auch den Kokoschnik ab und flechtet mir einen Zopf, wie ihr ihn als Mädchen tragt!«
»Um Gottes willen, Bojarinja, das wäre ja Sünde! Dir einen Zopf zu flechten, wie ihn Mädchen tragen! Wenn das Druschina Andrejewitsch erführe!«
»Er wird es ja nicht erfahren, liebe Mädchen. Ich kann ja nachher gleich wieder den Kokoschnik aufsetzen!«
»Nein, Bojarinja! Du hast wohl über uns zu bestimmen, aber das geht nicht. Solch eine Sünde können wir nicht auf uns laden!«
›Ist es denn schon Sünde, sich allein an Vergangenes zu erinnern?‹ dachte Jelena. – »Nun gut«, sagte sie, »dann will ich den Kokoschnik nicht ablegen, aber Paschenjka, komm du zu mir her, ich will dir das Haar flechten, wie auch ich es einst trug!«
Rot vor Freude kniete Paschenjka vor ihrer Herrin nieder. Jelena löste ihr das Haar, teilte es in gleiche Strähnen und begann aus neunzig gleichen Teilen einen breiten, goldblonden Zopf zu flechten. Viel Geschick gehörte dazu, denn das Geflecht mußte zuerst möglichst lose sein, damit der Zopf einem weitmaschigen Netzwerk gleich den Nacken überspannte und sich dann allmählich verengend, über den ganzen Rücken herabfiel. Jelena machte sich emsig an die Arbeit, fügte geschickt Strähne um Strähne ineinander und flocht zwischendurch Perlenschnüre mit hinein. Endlich war das kunstvolle Werk fertig. Um das Ende wurde ein dreiteiliges Band geschlungen und daran wieder kostbare Ringe befestigt.
»Fertig, Paschenjka!« sagte Jelena. »So, nun laß dich bewundern! Seht doch, Mädchen, ist diese Flechte nicht viel, viel schöner als mein Kokoschnik?«
»Alles zu seiner Zeit, Bojarinja!« erwiderten die Mädchen lachend. »Dunjascha zum Beispiel wäre gar nicht abgeneigt, den Kokoschnik zu tragen!«
»Ihr solltet euch schämen, ihr Lästermäuler!« antwortete Dunjascha beleidigt. »Mir liegt nichts daran, wenn ich auch mein Lebtag den Zopf nicht aufzustecken brauche. Ich kenne aber wohl einige, die das Auge nicht wenden können vom Hofmeister des Bojaren!«
Die Mädchen brachen in lautes Gekicher aus; einige aber wurden verlegen und rot. Der Hofmeister schien also wirklich ein schmucker Bursche zu sein.
»Bücke dich ein bißchen, Paschenjka, ich will dir noch ein Band mit Perlenfransen einbinden! Ach, heute ist ja übrigens Johanni, da flechten auch die Nixen Zöpfe.«
»Nein, heute nicht, Bojarinja, sondern am Ssemik Siebenter Donnerstag nach Ostern. und am Pfingstsonntage, da flechten sie Zöpfe, zu Johanni aber laufen sie mit offenem Haar umher und locken die Menschen vom Farnkraut fort, damit es keinem gelingt, seine Blüte zu finden!«
»Der Himmel möge uns vor ihnen bewahren!« sagte Paschenjka furchtsam, »am Johannistage da trägt sich überhaupt so manches zu. Daß man sie nur ja nicht zu Gesichte bekommt!«
»Fürchtest du dich denn so vor den Nixen, Paschenjka?«
»Wie sollte man sich nicht vor ihnen fürchten. Es ist unheimlich, allein in den Wald zu gehen, ganz gleich ob zu Pfingsten oder in der Nixenwoche. Woche vor Ostern. Die Mädchen plagen sie schier zu Tode, und die Burschen quälen sie mit unglücklicher Liebe!«
»Ach, du redest so viel und weißt doch nichts Rechtes davon!« unterbrach sie ein anderes Mädchen. »Was für Nixen gibt's denn schon hier direkt bei Moskau. Ja, in der Ukraine, da ist es etwas anderes! Da gibt es Nixen in Unmenge. Hat man sie nur ein einziges Mal gesehen, so sehnt man sich zu Tode nach ihnen; der Ehemann verläßt Weib und Kind, der ledige Bursche vergißt sein Liebchen!«
Jelena war nachdenklich geworden.
»Mädchen!« meinte sie nach längerem Schweigen, »sagt einmal, gibt es in Litauen auch Nixen?«
»Aber gewiß, Bojarinja. Dort ist ihre eigentliche Heimat! Ukraine und Litauen sind in dieser Beziehung so ziemlich dasselbe!«
Jelena seufzte. In diesem Augenblick ertönten Pferdehufe, und eine weiße Mütze tauchte oberhalb des Gartenzaunes auf.
Als Jelena einen Mann gewahrte, wollte sie forteilen, aber nachdem sie schärfer hingeblickt hatte, blieb sie wie versteinert sitzen. Der Fürst hatte sein Roß angehalten. Er wollte seinen Augen nicht trauen. Tausend widersprechende Gedanken jagten durch sein Hirn. Er sah sie vor sich, Jelena, die Tochter des Pleschtschejeff Otschin, sie – die er liebte und die ihm vor fünf Jahren die Treue geschworen hatte. Aber wie um alles in der Welt kam sie in den Garten Morosoffs?
Plötzlich erblickte er den perlengeschmückten Kokoschnik auf ihrem Haupt. – Sein Herz erstarrte.
Also war sie verheiratet!
›Bin ich bei Sinnen?‹ dachte er, einen entsetzten Blick auf die Bojarinja werfend. ›Oder ist das alles nur ein häßlicher Traum?‹
»Mädchen!« sagte Jelena, »laßt mich einen Augenblick allein, ich rufe euch nachher wieder.« – »Heilige Mutter Gottes!« flüsterte sie. »Steh mir bei! Was fange ich an, was sage ich ihm nur?«
Sserebrjanyi hatte sich inzwischen etwas gefaßt.
»Jelena Dmitrijewna!« sprach er mit fester Stimme, »antworte mit einem einzigen Wort: Bist du verheiratet? Ist das keine Täuschung, kein Scherz? Bist du wirklich verheiratet?«
Jelena rang mühsam nach Worten.
»Sprich, Jelena Dmitrijewna, peinige mich nicht länger!«
»Ach, höre mich an, Nikita Romanyitsch!« flüsterte Jelena kaum vernehmlich.
Der Fürst zuckte zusammen.
»Was ist da anzuhören!« sagte er hart, »ich habe alles begriffen. Wir haben keine unnützen Worte zu verlieren! Leb' wohl, Bojarinja!«
Er wollte sein Pferd jäh zurückreißen.
»Nikita Romanyitsch! Ich flehe dich im Namen Christi und der Mutter Gottes an, höre mir doch erst zu! Töte mich nachher, aber laß mich erst ausreden!«
Unfähig ein Wort weiter zu sprechen, sank sie vor der Rasenbank nieder und streckte flehend die Hände nach ihm aus.
Der Fürst zitterte an allen Gliedern, aber Mitleid rührte ihn. Er hielt sein Pferd zurück. Jelena berichtete ihm stockend, mit tränenerstickter Stimme, wie sie Wjasemskij verfolgt, wie sich dann der Zar selbst für ihn ins Mittel gelegt, um sie mit seinem Günstling zu vereinen, und wie sie in der Verzweiflung dem alten Morosoff die Hand gereicht hätte. Schluchzen unterbrach oft ihre Worte; sie klagte sich an, ihm die Treue gebrochen zu haben und verfluchte ihren Kleinmut.
»Du darfst mich nicht mehr lieben, Fürst«, sagte sie schließlich, »es war uns kein Glück beschieden, aber versprich mir, daß du mich wenigstens nicht verfluchen willst in meiner großen Schuld!«
Der Fürst hatte mit gerunzelter Stirn zugehört, ohne sie ein einziges Mal zu unterbrechen.
»Nikita Romanyitsch!« flehte Jelena, »um Christi willen, sprich doch ein Wort!«
Ein heftiger Kampf ging in Sserebrjanyi vor.
»Bojarinja!« sagte er endlich mit bebender Stimme, »es muß wohl so Gottes Wille gewesen sein ..., und deine Schuld ist nicht so groß ... nein, nein, du hast keine Schuld ... Ich verfluche dich nicht, welche Schuld hätte ich dir auch zu vergeben ... nein, Gott sieht es ... ich fluche dir nicht, nein, ich ... ich liebe dich nach wie vor!«
Wider Willen hatten sich diese Worte seiner gequälten Seele entrungen.
Ohne es zu wissen war Jelena zum Zaune geeilt und stürzte schluchzend zu ihm hin. Im selben Augenblick richtete sich der Fürst im Sattel hoch und beugte sich über den Zaun. Von der anderen Seite stand Jelena schon auf der Bank. Ohne Überlegung, ohne sich Rechenschaft zu geben, umschlangen sie einander und ihre Lippen berührten sich.