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Längst war jene denkwürdige Epoche vorüber. Gefechte hatten auch in jenen Gegenden stattgefunden, das Schloß Grundmanns war geplündert worden und dann abgebrannt. Er selbst, meist aus Verdruß und Gram um die Flucht seiner Gattin, war bald nach dem Abschluß des Friedens gestorben. Ferdinand Ambach war nach der Residenz versetzt worden, wo ihm ein größerer Wirkungskreis wurde. Seine ausgezeichneten Dienste und die Liebe seines Fürsten machten ihn bald zum Geheimen Rathe und erwarben ihm den Adel, und nach dem Verlauf vieler Jahre sah er sich jetzt als Minister und Chef der Polizei von allen Ständen geachtet, vom Regenten belobt und von allen Unredlichen gefürchtet, denn seine strenge Tugend verschonte den Verbrecher und Nichtswürdigen niemals. Er hatte früh seine Gattin verloren, die ihm keine Kinder hinterließ, und er konnte sich zu keiner zweiten Ehe entschließen. Einen Pflegesohn, Wilhelm Eichler, erzog er fast wie sein eignes Kind, und er hätte diesem jungen Menschen wohl die ganze Zärtlichkeit eines Vaters gewidmet, wenn dieser nicht wild und ausgelassen ihm vielfachen Kummer und Verdruß verursachte, statt ihm Freude zu machen.
Von Martin Sendling oder dem Capitain Geoffroy hatte man niemals wieder etwas vernommen, ein ungewisser 348 Bericht sagte ihn in einer der Schlachten des Befreiungskrieges getödtet, nach einer andern Nachricht war er in einem Lazareth gestorben, auch seine Entführte war durchaus verschollen, so viele Nachforschungen der Geheime Rath Ambach auch angestellt, so viele verschlagene Kundschafter er auch nach ihr ausgesendet hatte.
Die Julius-Revolution zitterte, wie ein starkes Erdbeben, in allen deutschen Staaten nach, auch die ruhigste Gegend merkte etwas von dieser Bewegung. Ambach war nicht leicht zu erschüttern, aber er verdoppelte in dieser Krisis, die so leicht von Böswilligen gemißbraucht werden konnte, seine Wachsamkeit. Einer, den er zwar nicht zu fürchten Ursache hatte, der ihm aber vielen Aerger erregte, war in diesem Zeitraum sein Pflegesohn Wilhelm, welcher nichts weniger als den Umsturz aller Regierungen in Deutschland erwartete. Die Unbesonnenheit des leichtsinnigen Jünglings ging so weit, daß der Geheime Rath für dessen Wohlfahrt besorgt zu werden Ursache hatte.
Wilhelm war in Projekten, die ganze Welt zu verbessern, unerschöpflich, und wenn der Pflegevater alle diese Chimären belachen konnte, so war es ihm doch empfindlich, daß der junge Mann, welchem er so viele Liebe und Sorgfalt widmete, schon in der ganzen Stadt seinen guten Ruf eingebüßt hatte, alle Rechtlichen vermieden seinen Umgang, der Zutritt zu einigen Familien war ihm untersagt, und die älteren Leute rechneten ihn schon zu jenen unverbesserlichen Wüstlingen, die in Schulden, Krankheit und Schmach untergehen müssen. Manche ernste Greise verdachten es dem Geheimen Rath, daß er nicht längst von dem verlornen Sohn seine Hand abgezogen, oder ihn in einer entlegenen Stadt unter strenge Aufsicht gestellt habe. Deshalb waren auch Einige der Meinung, der Minister beschütze nur einen eigenen Sohn 349 durch zu große Nachsicht, und der junge Mensch benutzte auch nicht selten das Ansehn seines Pflegevaters, um sich von Gläubigern loszumachen, auf den Credit des alten angesehenen Mannes neue Wechsel zu schreiben, sich aus schlimmen Händeln zu wickeln und recht böse noch ärger ineinander zu schlingen.
Unter den berüchtigten Häusern der großen Stadt stand das der Witwe Blanchard oben an. Sie war eine Französin, bejahrt, schien gut erzogen und war mit manchem Vornehmen in geheimer Verbindung, weil ihre Einrichtung einen eleganten Anschein hatte und bei ihren theuern Soupers schöne und reizende Mädchen figurirten, die oft mit neuen abwechselten, so daß mancher junge Mann, da zuweilen auch noch oben ein gespielt wurde, große Summen in diesen Zimmern ließ und seine besseren Gefühle allgemach vernichtete. Der Minister hatte manche Häuser dieser Art schon aufgehoben oder beschränkt, aber mit diesem, welches von Vornehmen insgeheim und vom Gesetz öffentlich geduldet und beschützt wurde, vermochte er nichts. Wie empfindlich mußte es ihm daher seyn, daß grade in diesem Hause sein Pflegesohn fast zu allen Tageszeiten gesehen ward, und daß seine Ermahnungen gar nichts fruchteten und ein strenges Verbot nur verlacht wurde.
Es war an einem heitern Vormittag, als Wilhelm wieder in das Haus trat und gleich zum Zimmer der alten Witwe Blanchard eilte. Die starke, wohlgenährte Frau trat ihm verdrüßlich entgegen, indem sie fragte: Was will Er, leichtsinniger Patron, schon wieder bei mir? Seine Schulden wachsen immer höher an, Sein Credit ist todt, hier mag Ihn auch Niemand, und meinem Auge, junger Freund, ist Er geradezu verhaßt.
Mütterchen, sagte der Jüngling außerordentlich 350 freundlich, setze Dich zu mir und laß uns mit einander kosen und sprechen. Du kennst ja mein Herz, das gut und edel ist, so verdorben mich auch immer die selbst verdorbene Welt schelten mag. Und was macht Charlotte? Wie denkt sie über mich?
Beide setzten sich nieder und die Alte sagte: Junger Freund, ich kenne Sie ganz genau, und gewiß besser als Ihr eigener Vater. Sie sind gutmüthig, junger Herr, Sie verschwenden, und wenn ein Bekannter oder Nothleidender Sie anspricht, so geben Sie Ihr Letztes. Das möchte man loben. Aber nun wieder schämen Sie sich auch nicht, Schulden zu machen unter den ehrlosesten Bedingungen. Erinnerst Du Dich, Freundchen, wie Du, als Du noch Credit hattest, die Uhren ausnahmst und beim Hofjuden die Juwelen, um sie an demselben Tage um die Hälfte der Preise zu verkaufen? Sehn Sie, Herr von Eichler, der Streich, da die Sache gleich darauf bekannt wurde, hat Ihnen am allermeisten geschadet.
Mütterchen, sagte der Jüngling, ihr die Hände streichelnd, was vorüber ist, ist vorüber. Diese weißen Händchen sind noch so sauber, rundlich und lieblich anzufassen, daß es zu verwundern ist. Mutter, was Du in der Jugend mußt schön gewesen seyn!
Damit gewinnt Er bei mir Nichts, antwortete sie lächelnd: bringe Er diese Redensarten dort in Seinen vornehmen Häusern zu Markte. Ich kenne Sie ja ganz genau, gutes Kind, und kann am besten nachrechnen, wie Sie Ihre Jugend verdorben und aufgeopfert haben.
Aber Du weißt ja auch, keine so gut, als Du, daß ich mich gebessert habe. Glaube mir, ich werde ganz ordentlich, tugendhaft, großartig werden. Mehr als alle Deine Schönheiten liegen mir jetzt auch die Freiheitsgedanken und 351 großen patriotischen Bewegungen am Herzen. Da mitzuwirken, die großen, unausbleiblichen Schicksale mit umschwingen zu helfen, das ist jetzt mein Ehrgeiz und meine Leidenschaft.
Er kann wirklich schon wieder roth werden, sagte die Alte laut lachend und ihm die blassen Wangen anrührend, über die sich eine seine Röthe ergoß. Nun freilich, fuhr sie fort, man muß keinen Menschen ganz aufgeben, Gott thut es nicht, und auch der nicht, welcher die Menschen kennt.
Aber, fuhr er fort, damit ich ganz und wahrhaft ein Mann werde und edel und frei, ist mir die Liebe der Charlotte unentbehrlich. O, Himmel! Ich habe selbst nicht gewußt, was eine Leidenschaft bedeutet, die so ganz unsere Kräfte aufregt und den Menschen in allen Tiefen erschüttert. Hier muß nun aber auch Erhörung, Erfüllung stattfinden, oder Geist und Gemüth werden vernichtet und ein Schlimmeres als der Tod tritt ein. Es muß eine Verzweiflung geben, für welche wohl keine Sprache unter dem Monde hinreicht, um sie nur irgend anzudeuten.
Die Alte wandte ihr Gesicht ab. Als sie wieder umblickte, sah sie den jungen Mann so starr und ernsthaft an, daß er vor diesem Blicke erschrack. Du bist noch zu jung, sagte sie dann, um schon viel erlebt zu haben, Du sprichst wie ein junger Thor, der weder die Welt noch die Menschen kennt. Es giebt eine Wandlung, – eine Fügung, – oder, wie soll ich sagen? – Ach, du barmherziger oder du grausamer Himmel, so muß es nun kommen, daß dieser da, der junge unflügge Taugenichts, der erschöpfte Bruder Liederlich, der Greis von zwanzig Jahren, der Liebhaber meiner Tochter ist! – Nicht wahr, zu diesem großen, unaussprechlichen Glück muß sie sich gratuliren? – Ach, das Leben ist eine gräßliche Erfindung!
352 Der schlanke Jüngling erwiederte: Seid nicht unbillig, Frau; ganz so schlimm stehen die Dinge niemals, wie man sie sich in einem kränklichen Zustand denkt. Und krank seid Ihr ebenfalls, nur auf eine andere Art, als ich. – Ich muß aber erst mein Herz beruhigt haben, um groß handeln zu können.
Was wollt Ihr denn eigentlich thun? fragte sie.
An der ungeheuern Bewegung Theil nehmen, die jetzt durch ganz Europa geht. Was jedem Einzelnen vorgeschrieben seyn mag, gestaltet sich erst, wenn die Opposition deutlicher hervorgetreten seyn wird. Denn daß man den Geist der Freiheit wird hemmen wollen, leidet keinen Zweifel. Schon sind viele junge Geister mit mir verbündet, und immer neue werden geworben: wir haben an Journalen Theil und werden einige stiften. Wer sich uns und unserm Streben widersetzt, wird als Feind behandelt. Das Alte stürzt und wir sind die Stifter der Freiheit.
Ei ja, sagte die Alte mit bitterm Lächeln, da Alles so klar und deutlich ist, da es euresgleichen nicht an der Einsicht mangelt, so wird der Erfolg auch ein glänzender seyn.
Sprechen wir nicht weiter davon, brach er ab, Ihr versteht mich nicht. Aber laßt doch Charlotten zu uns kommen.
Kind! rief die Alte, indem sich ihr Blick entflammte und ihre gleichgültige Freundlichkeit sich in Wildheit verwandelte, Junge! ich bin ein verächtliches Wesen, das vergesse ich in keinem einzigen Augenblicke, wenn ich auch weiß, daß viele der geachteten Weiber nicht besser sind als ich; mit mir mag der Mensch, der Gewaltige oder der Bösewicht, anfangen, was er will, er mag mich mit Füßen treten, mich mißhandeln, mich auf der Folter zerreißen, mir allen ersinnlichen Hohn beweisen. ich werde nicht zucken, denn ich weiß, wer ich bin: was mit der Welt, mit den Menschen, den 353 Bekannten, was mit Dir geschieht, ist mir völlig gleichgültig; – aber in einem Theil meines Wesens dünke ich mich so viel, wie es nur der größte Monarch auf Erden kann, oder der heiligste Priester und tugendhafteste Held: – das ist meine Tochter. Wer dies arme Kind nur mit einem falschen, verächtlichen Blicke angreift, der ist mein tödlichster Feind. Ich bin im Leben und durch meine Verhältnisse schlecht geworden, aber sie soll gut und tugendhaft bleiben. Zur Raserei würde es mich bringen, wenn ein Bösewicht sie verführte, und da sie jetzt gut und keusch ist, so fühle ich mich tausendmal in Gegenwart des Kindes beschämt. So ist es aber, wenn man liebt, und Mutterliebe mag wohl das innigste und allmächtigste aller Gefühle seyn. Denn mich kann ich der Hölle, der Bosheit und Gemeinheit preisgeben, an mir ist nichts mehr zu verderben und zu verlieren, aber der liebe, klare, blasse Engel soll nur das Himmlische, das Edle in seinem zarten Herzen empfinden. Auf Rosen möcht' ich sie betten, und noch weiß ich keinen Mann, dem ich es gönnte, daß er sie lieben dürfte, oder der gar von ihr geliebt werden könnte. Betrachte ich dann meinen verworfenen Stand und daß nur die Schlechten zu mir kommen, vor denen ich mein Kleinod wie vor Räubern verbergen und verschließen muß, fällt mir dann ein, daß die Einzige mein Gewerbe kennt und verachtet, so liege ich in Gram auf meinem Lager und kann mich oft die ganze lange Winternacht am Weinen nicht ersättigen.
Gute Alte, sagte Wilhelm, ich habe ja nichts Arges gegen Deine Tochter im Sinne.
Das wollte ich Dir auch gerathen haben! rief sie mit Heftigkeit aus; sieh', nur ein unanständiges Wort, nur so ein witziger Einfall nach Deiner Art, und ich könnte Dich vergiften.
354 Vergiften, Du böses Weib? Woher wirst Du Gift haben?
Sie schloß ein Schränkchen auf und zeigte eine kleine Flasche. Da müßte man, sagte sie, keine Bekanntschaften unter Aerzten, Apothekern und Medicinalräthen haben: die geben mir es freilich auf meine Vorstellung zu anderm Gebrauch.
Du bist ja gräßlich, rief der junge Mann, eine Medea.
Darum hüte Dich, antwortete sie, ich bin zu Allem fähig. Du willst besser werden? Man sollte es fast glauben; Mund und Stirne nehmen einen Anlauf zum Edeln, aber die verdammten Augen sehn noch so falsch und lügenhaft, so sinnlich und ermüdet aus wie immer.
Laß nur Lottchen zu uns kommen, bat er wieder, ich bleibe dann hier zum Essen und stärke mich im Gespräch mit dem schönen Kinde. Auch habe ich Dir schon oft gesagt, daß ich sie heirathen will und werde, daß das bei mir eine beschlossene Sache ist.
Und der Geheime Rath?
Dem sage ich es noch heut oder morgen, und will mein Alter nicht, so wird er auch nicht weiter gefragt.
Da ist der Graf Mindelberg, fing sie wieder an, der stellt auch schon lange meinem Kinde nach; wenn Du ihn triffst, so sage ihm nur, er soll sich vor mir in Acht nehmen. Er verachtet eine alte Frau, wie ich bin, und denkt, mit unser Einem brauche er keine Umstände zu machen.
Ich breche ihm den Hals, rief Wilhelm, wenn er Lottchen irgend etwas thut, oder sie zu gewinnen sucht.
Ich will meine Tochter rufen, sagte die Alte, und es wird dem Herrn ein haut goût seyn, das kann ich mir wohl denken, einmal züchtig zu sprechen und sich wie ein tugendhafter Mensch zu betragen.
355 Sie ging hinaus und kam bald darauf mit der Tochter zurück. Diese war ein feingewachsenes Mädchen, groß und schlank, und von so edelm Betragen, daß Wilhelm vor dem leichenblassen Gesicht und den dunkelschwarzen Augen scheu zurückfuhr, indem sie zur Thür hereintrat. Sie verneigte sich stumm und ernst und nahm dann im Sofa neben ihrer Mutter Platz. Sie sprach nur wenig und vermied es, soviel sie mit Schicklichkeit konnte, den jungen Menschen, der sehr eifrig redete, anzublicken. Dann wurde gegessen und Wilhelm trug fast allein die Kosten der Unterhaltung. Er war nach seiner Meinung witzig und beredt, doch wenn auch die Mutter auf viele Gegenstände einging, von welchen die Rede war, so nahm Charlotte doch fast gar keinen Antheil am Gespräch. Wie aber Wilhelm immer heftiger und eindringlicher wurde, konnte sie es nicht unterlassen. ihn von Zeit zu Zeit mit schwermüthigen Blicken zu betrachten, in welchen sich das tiefste Mitleiden und Erbarmen malte.
Als er sich endlich wieder entfernte, sagte sie, indem sie ihre Thränen nicht länger zurückhielt: Ach! der arme, der verlorne Mensch! Was er sich von sich einbildet, welche Tugenden und Kräfte er sich zutraut! Und nicht einmal der Zunge kann er gebieten, daß sie nicht unbesonnenes Zeug herausschwatze. Er ist so schwach, daß jeder kleine Gedanke, jeder Einfall mit ihm gleichsam fortläuft, er ist so durch und durch krank, daß er sich nicht einmal mehr erinnern kann, wie dem Gesunden zu Muthe ist, und diese Zertrümmerung, daß er sich nun ohne Noth über Alles erhitzt und wie ein Strohfeuer schnell auflodert, nennt er Genie. Ach, der arme, arme Mensch!
Könntest Du ihn lieb haben? fragte die Mutter.
Ich weiß nicht, antwortete Charlotte, was mich nur bewegen kann, ein so eigenes, ein so tiefes Mitleiden mit ihm 356 zu haben. Ich sage mir oft, er ist ein verlornes Wesen, er ist lange schlecht gewesen, sein Vorsatz, sich zu bessern, ist auch nur Kränklichkeit; denke ich an so Manches, was er gethan und gesprochen, so verabscheue ich ihn recht in meinem Innersten – und dann wacht wieder eine Empfindung in einer dunkeln Gegend meines Herzens auf, daß mir ist, als wäre er noch zu retten und als könnte ich etwas dazu beitragen.
Du siehst ja auch, sagte die Mutter, daß er immer die Rolle spielt, als solltest Du seine Heilige seyn und ihn bekehren. Es mag wohl sein Ernst seyn. Oft aber betrügen mit diesem Vorwand die schlechten Männer auch die klügsten und besten Weiber. Auch für die Tugendhaften ist es ein Reiz, wenn ihnen ein Wüstling huldigt; oft lassen sie sich sogar bethören und von ihm die Meinung beibringen, sie seien dazu berufen, ihn fromm und gut zu machen. An dieser feinen und raffinirten Eitelkeit ist schon manche Spröde zu Grunde gegangen, und der Bösewicht lacht dann mit seinen Gesellen um so schadenfroher über diesen Triumph. Doch glaube ich wirklich, daß es diesem Wilhelm Ernst ist. Wenn er durch Dich wirklich ein ordentlicher Mensch würde, könntest Du ihn lieben, Lottchen? Möchtest Du ihn zum Mann? Wir leben in so wunderlichen Zeiten, daß die Schwierigkeiten, die die Sache unmöglich zu machen scheinen, sich doch vielleicht aus dem Wege räumen ließen.
Nein! nein! liebe Mutter, rief die blasse Tochter in der größten Aufregung, in dem Gedanken liegt Grauen und die Hölle. Wie könnte der auch mein Mann heißen, der in mir so inniges Erbarmen erregt? Aus diesem Mitleid, das mir so schneidende Schmerzen macht, mich ihm aufopfern? O, das wäre ja doch der heilloseste Mißverstand. Den Liebsten kann man bemitleiden, wenn er krank oder unglücklich ist, aus liebendem Mitleid könnte das Mädchen dann gewiß 357 tausend Opfer bringen; aber wen man lieben soll, wen man sich als Gatten denken mag, da muß eine gewisse Ehrfurcht, eine hohe Achtung, ein inniges Zutrauen mit in diesem Gefühl der Liebe seyn. Und wenn ich mein Mitleid für diesen Wilhelm auslösche, so bleibt nur eine schlichte Verachtung, eine wegwerfende Geringschätzung übrig.
Die Mutter sah die Tochter an und sagte dann: So hast Du noch nie zu mir gesprochen. Du bist aufgeregt, wie ich Dich noch nie gesehn habe. Lottchen, schenke mir Dein ganzes Vertrauen, liebst Du vielleicht?
Die Tochter umarmte die Mutter und wechselte mit Blässe und Röthe, die Augen leuchteten in ihrem Dunkel. Es kann seyn, sagte sie dann, daß es Liebe ist, was mein Herz zerreißt. – Im Frühling gingen wir einigemal nach dem schönen Garten draußen in der Vorstadt, nachher spazierte ich mit der Magd dorthin. Von der Laube übersieht man die Blumenbeete, und der kleine Brunnen rieselt so angenehm. Wenn ich recht traurig war, wurde ich hier von dem springenden Wasser und dem Dufte der Blumen wieder getröstet. Wir waren das erstemal durch den Garten gegangen, als ich nachdenkend auf der Bank sitzen blieb; da kam ein junger, freundlicher Mensch, überreichte mir ein Bouquet von Blumen und entfernte sich wieder rasch, ohne nur meinen Dank abzuwarten. Am folgenden Nachmittag war ich wieder allein; das Mädchen war fortgegangen. Er kam von der Arbeit, er schien nur ein Gesell dort. Wir sprachen mit einander und, wie mir dünkt, ziemlich lange. O, liebe Mutter, so viel Redlichkeit, heitre Gesundheit, so ein gutes Herz habe ich noch niemals gesehn; es giebt gewiß keinen zweiten jungen Mann mehr von dieser Art.
Ein Gartenknecht? ein Gesell? fragte die Alte mit einem sonderbaren Ton.
358 Fällt Ihnen das so auf, liebe Mutter? erwiederte die Tochter; ich hörte, er sei der Sohn eines Gärtners aus einer kleinen Stadt und sei hergekommen, um mehr zu lernen und künftig sein Gewerbe zu erweitern. – Ach Gott! er hat mir so unendlich wohl gefallen, in seiner Nähe war ich so glückselig, und ich war, wie er schwur, sein Abgott; – er hat etwas Vermögen, – er wollte mit Ihnen sprechen – und –
Nun – und?
Heut habe ich dies Billet von ihm erhalten, sagte die Tochter, gab der Mutter das Blatt und verhüllte weinend ihr Haupt im Sopha. – Die Mutter las. »Ach, wie weh ist mir, mein theures Mädchen! Ich war so glücklich, als ich in meiner arbeitsamen Stille hier Deine Bekanntschaft machte. Mir war, als sei ein Engel sichtbar zu uns Menschen herabgestiegen, daß wir Glauben fassen und uns selbst vertrauen sollten. Und nun mir vorzustellen, daß ein so himmlisches Wesen in meine kleine Hütte eingehn könne, meine Eltern begrüßen, unsere Wirthschaft führen und mich durch Liebe beglücken solle: o, die Vorstellung dieser Seligkeit, – ja, ich gestehe Ihnen, ich habe Thränen vergießen müssen, wenn ich mir dies so recht lebhaft dachte. Ist Ihr Antlitz und Ihre Gestalt nicht einer silberweißen Lilie zu vergleichen? So edel, wie diese Blume sich im Sommerwinde leicht bewegt, ist Ihre Bewegung, Gang und Stellung. Wie Du nun so freundlich und so nachdenklich mit mir sprachst und mir gestandest, daß Du mich lieben könntest: ach, es war, als wenn nach langer drückender Hitze ein sanfter Sommerregen in mein schmachtendes Herz mit seinen großen Tropfen fiele. Wenn ich in der Nacht von meinem Bette aus durch das kleine Fenster den Mond betrachtete und nicht schlafen mochte, weil ich ohne das gestärkt genug war, so sah ich Dich auf den lichten, klaren Wölkchen der goldnen Scheibe 359 vorüberschweben. Alles, Alles ist nun vorüber! Wie hast Du mich so grausam täuschen können! Ja, alles ist nur Maske und Lüge und ich verzweifle an mir selber. Um nicht krank zu werden, arbeite ich mehr und schwerer als sonst, sodaß ich vor Müdigkeit nicht zum Nachdenken kommen kann. O, hätte ich nie erfahren, wer Ihre Mutter ist, oder hätten Sie es mir früh genug gesagt, um jede Hoffnung, Achtung und Gefühl der Liebe in mir niederzuschlagen.«
Die Alte klemmte das Blatt krampfhaft in ihrer zitternden Hand und stampfte dann heftig mit dem Fuß. Verwünschtes Volk! rief sie mit blitzenden Augen, auch solcher Gartenknecht nimmt sich heraus, uns zu verachten! – Sie schloß dann die Tochter in die Arme und brach in Thränen aus. O, meine Einzige, meine Geliebte, o, Du Beste auf Erden, daß Du eine solche Mutter haben mußt! Und weshalb bin ich denn nun Die, die ich bin? Weil ich die Menschen früher verachtete, ehe sie mich noch verachteten, und weil ich keinen Entschluß fassen kann. Ja, wir wollen die Stadt hier verlassen, mit meinem Wenigen will ich mich mit Dir irgendwo in einem Winkel der Erde verbergen, wo kein Mensch mich kennt. Mit Niemand wollen wir dann Gesellschaft machen, denn die Menschen verdienen es nicht, daß man ihren Umgang oder ihre Freundschaft sucht. Ja, wir wollen uns entschließen, Kind, wenn wir auch fern irgendwo in einer Hütte ganz armselig leben müssen. Was ist das Leben denn überhaupt? Ich sehne mich schon längst nach dem Tode, und es wäre Dir auch wohl besser, Lottchen, nicht mehr lange hier im Schmutz und in dem lasterhaften Tollhause zu verweilen. Auch fürchte ich die gemeine Wuth des jungen Grafen Mindelberg, der sich ebenfalls für Deinen Liebhaber ausgegeben hat. Ja, ja, so wird es am besten seyn, und Du, Lottchen, mußt Dich über diesen elenden Gartenknecht 360 trösten, der Dich nicht verdient, da er sich herausnimmt, so Dir aufzusagen, ohne daß er die Umstände kennt, ganz wie die gemeinen Pharisäer alle. Denn was kannst Du dafür, daß ich Deine Mutter bin? O, über das elende Wesen der Welt und der Menschen! Seelen wollen sie besitzen, sie pochen auf ihre Unsterblichkeit, und sind doch meist nur Maschinen und leblose Puppen.
Auf einen Wink von ihr begab sich Charlotte in ihr Zimmer. Die Arme war seit lange schon mit ihrem feinen Gefühl und richtigen Sinn eins der unglücklichsten Wesen. Die Mutter hatte an ihrer Erziehung nichts fehlen lassen; auf ihrem Zimmer prangte ein vortreffliches Fortepiano aus England, kostbare Möbeln und Kupferstiche zierten den Aufenthalt, sie ward wie eine Dame bedient, keiner ihrer bescheidenen Wünsche ward ihr versagt, – und welch Gefühl bemeisterte sich ihrer, als sie erwachte und nun durch ihren zunehmenden Verstand erfuhr und erkannte, welchem Gewerbe sie alle diese Güter zu verdanken hatte. Sie sah und fühlte, wie die Mutter sie liebte, ja vergötterte, denn diese Leidenschaft war ja nur die Ursache, weshalb das Kind in ihrem Hause und in der Stadt wohnen mußte, sie wollte sie immerdar sehn und sprechen, sie in jeder Stunde unter Augen haben und zitterte vor dem Gedanken, daß sie ihr könnte abtrünnig gemacht und verdorben werden. Denn sonst war es natürlicher, sie irgendwo, in einer andern Stadt, oder auf dem Lande, unter einem fremden Namen aufwachsen zu lassen. Charlotte mußte, trotz aller widerstrebenden Gefühle, auch diese Mutter lieben; sie machte sich oft Vorwürfe, daß sie ihr Leben sündhaft finde, und dennoch konnte sie es nicht unterdrücken, daß sie sich nicht ihrer schämte, wenn sie mit ihr über die Straße ging. So war ihr Herz früh erkrankt und weder Bücher, Musik, noch Natur konnten ihr eine reine 361 Freude gewähren, weil sie zu allen Erhebungen des Geistes das quälende Bewußtsein ihres Standes mitschleppte. Zum erstenmal im Leben war ihr in Gesellschaft des jungen Gärtnerburschen ganz wohl geworden, sie hoffte, er, in einem niedrigen Stande erzogen, solle sie so stark lieben und so fest an sie glauben, daß ihm das Wesen der Mutter, wenn sie ihm einmal Alles entdeckte, gleichgültig und unverfänglich erschiene, – und nun war auch dieser Stab, auf welchen sie sich lehnte, zerbrochen.
Die Mutter hatte sich eingeschlossen und saß nachrechnend über ihren Büchern. Sie wollte ihr Haus schnell, wenn auch unter dem Preise, verkaufen, die überflüssigen Mobilien zu Geld machen und sich mit der mäßigen Summe, die sie dann besaß, auf das Land zurückziehen, am liebsten in eine einsame Berggegend, von der großen Heerstraße entfernt, damit ihr niemals wieder ein ehemaliger Bekannter unter die Augen träte. Sie verabschiedete schon jetzt, damit sie nicht klagen könnten, mit reichlichen Geschenken ihre Kostgängerinnen und dachte nach, wohin sie sich, bis sie die Stadt auf immer verließe, einmiethen könne.
Oft treten tugendhafte Entschlüsse zu spät ein, und diese Erfahrung machte jetzt auch die berüchtigte Madame Blanchard.