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Nach einigen Wochen war der Vater mit seiner Tochter wieder auf der Reise. Beide hatten es gefühlt. wie sie für einige Zeit sich entfernen müßten, denn die Stadt, deren Einwohner, am meisten aber ihre Bekannten und unter diesen vorzüglich ihre ehemaligen Freunde, waren ihnen unerträglich geworden. Diesmal wendeten sie sich nach Paris, um sich in dieser großen Stadt zu zerstreuen. Es gelang auch in so weit, daß Emmeline ihre ehemalige Munterkeit zum Theil wiedererhielt, der alte Mann aber verfiel sichtlich, denn der vielfache Verdruß, die Vorwürfe, die er sich selber über seinen Mangel an Charakter und Festigkeit machte, zehrten an seiner Gesundheit.
Einen neuen Schlag gab ihm die Nachricht, daß ein großes Handelshaus, mit welchem er seit Jahren in Verbindung stand, gefallen war. Man sendete ihm aus seiner Heimath seinen Vetter, den jungen Friedheim nach, welcher ihm die genauen Berichte übergab und mit welchen er nun überlegte und arbeitete, um den Schlag, der ihn treffen sollte, wenn auch nicht ganz abzulenken, was unmöglich schien, doch wenigstens zu schwächen.
Friedheim war in den Geschäften viel brauchbarer geworden, er hatte gelernt und sich angestrengt, um der Handlung seines Verwandten nützlich zu werden. Der Alte war auch jetzt viel milder gegen ihn als ehemals und schenkte ihm nach und nach ein größeres Vertrauen. Dadurch ward der 323 junge Mann in alle Verhältnisse eingeweiht und konnte, so gestellt, dem Alten auch erst wahrhaft nützlich werden. In den Freistunden machte er sich eben so ein angelegentliches Geschäft daraus, Emmeline mit seinen gewöhnlichen Possen aufzuheitern und zu zerstreuen. Wenn sie spazieren, oder in die Theater ging, spielte er den dienenden Cavalier, ebenso begleitete er sie in Gesellschaften. Sie war mit ihm sehr zufrieden, denn schmiegsam, wie er war, fügte er sich in alle ihre Launen, und wenn sie verdrüßlich war, ließ er sich, als wäre er ein gewöhnlicher Diener, alles von ihr bieten. So war er denn der Ableiter ihres Zornes und aller jener eigensinnigen Störungen, die vormals oft den Vater trafen, und deshalb sah dieser es nicht ungern, wenn Emmeline Alles, was sie kaufen wollte, ihm auftrug, wenn er eben sowohl Gesellschafter, Vertrauter, wie Diener und Spaßmacher war. Auf diese Art, sagte der Alte zu sich, mag wol mancher Günstling die hohe Staffel seines Glücks erstiegen haben, indem er ohne Aengstlichkeit Alles ausrichtete, was man ihm auftrug, nichts übel nahm, ohne Gewissen und Ehre niemals eine Würde behaupten wollte, und niemals gestört war, wenn er immerwährend, im Geheim wie öffentlich, verachtet wurde und man ihm diese Verachtung auch in keiner Minute verhehlte. Eines solchen Vertrauten bedarf mancher Hochgestellte, weil er mit allen eignen Fehlern seiner Creatur gegenüber sich noch der Achtung würdig fühlt. Daß aber mein nichtsnutziger Vetter dies alles so erträgt, und daß meine Tochter so mit ihm die Fürstin spielt, ist wahrlich bejammernswürdig.
Doch bemerkte er, wie Emmeline ernster und gesetzter wurde. Ihre Launen wechselten nicht mehr so schnell und gewaltsam, er fand sie oft nachdenkend, oder in einem ernsthaften Buche lesend, und wußte nicht, ob er sich über diese 324 Aenderung freuen, oder sie auch nur für Krankheitsanzeige halten solle. Die Verwicklung seiner Verhältnisse trat aber bald darauf in eine so entscheidende Krisis, daß er nicht mehr Zeit und Stimmung hatte, um dergleichen Dingen nachzusinnen. Es war nöthig, den Vetter mit einer unumschränkten Vollmacht nach Brüssel zu senden, um dort nach eigner Willkür und nach seinem Befinden der Umstände zu verfahren. Er würde selber diese Reise gemacht haben, wenn er sich nicht zu schwach gefühlt hätte. So durfte der Vetter also dort nach seiner Einsicht Summen aufnehmen, Schulden tilgen und Alles schnell und bestimmt leiten und abschließen, wie er es für die Wohlfahrt und die Ehre seines Patrons am besten fand. An Kenntniß, an Einsicht fehlt es Dir nicht, sagte der Vater, als er den jungen Mann zu seiner Reise beurlaubte, Du kennst alle Verhältnisse meines Hauses, mein ganzer Glücksstand, alles liegt klar vor Dir. Es ist auch Dein eigner Vortheil, wenn Du Alles zum Besten wendest, und schnell und besonnen; denn ich werde Dir Deine guten Dienste niemals vergessen, und wie ich Dich belohnen soll, darfst Du bei Deiner Rückkehr nur selbst bestimmen.
Vielleicht, sagte der Abreisende, daß uns alsdann ein näheres Band verbindet. Er küßte mit diesen Worten, was er noch niemals gethan hatte, die Hand seines Beschützers. Der Alte war verlegen, und als er sich nach der Tochter umblickte, sah er, daß diese glühend roth geworden war. Was geschehn soll, wird sich finden, antwortete er fast stotternd, nur schnell hin und zurück, denn jeder Augenblick kann große Summen verschlingen.
Sei ruhig, mein Kind, sagte der Vater, als Friedheim das Zimmer verlassen hatte, um den Wagen zu besteigen. Diese Unverschämtheit des jungen Sausewinds muß Dich nicht ärgern oder betrüben; er ist durch Deine Güte und 325 vertrauliche Herablassung so dreist geworden, aber er wird zufrieden seyn, auch auf andre Weise bezahlt zu werden.
Ach, lieber Vater, sagte sie mit einem schweren Seufzer, wir sind unglücklich, und ich fürchte, ein großer Theil davon fällt auf mein Haupt als meine Schuld zurück. Dir habe ich schon vielen Kummer gemacht; dies Gefühl hat meinen Stolz gebrochen, und so bin ich über diese seine Anmaßung nicht so empört, wie Du es scheinst.
Das wäre ein trefflicher Schluß Deines Lebenslaufes, sagte der Alte, mit einem solchen verbunden zu seyn. Aus dem gesunden, redlichen Martin konnte alles werden, wenn ihr euch nicht Beide einer unbegreiflichen Thorheit überlassen hättet. Verliere nicht den Muth, mein Kind, unser Schicksal wird wieder eine bessere Wendung nehmen. Du bist jetzt immer so ernst, die Röthe Deiner Wangen verschwindet, die Augen werden matt. Ueberlaß Dich nicht dem Gram, auch ich werde Lebenslust und Heiterkeit wiederfinden. Das scheint wohl ausgemacht, daß ich den besten und frohesten Theil meines Daseins schon hinter mir habe, aber mit Dir ist es ein andres; Du mußt erst noch recht zu leben anfangen.
Ich habe allen Muth verloren, sagte sie. Mag Friedheim seyn, wie er will, war seine Abreise auch unvermeidlich, mir wird er fehlen. Wer soll mich jetzt führen? Wer alles für mich besorgen? Viel kann freilich die Baronesse Duval thun, die mir einige ihrer jungen oder ältern Cavaliere abtreten muß.
Diese leichtsinnige, ja ausgelassene Witwe, sagte der Vater, sehe ich nur ungern so oft mit Dir, sie ist Deines Vertrauens unwerth; auch ist ihr Ruf, selbst hier, wo man darüber anders denkt als bei uns, so schlecht, daß es mich ängstigt, Dich viel in diesem Hause zu wissen.
326 Ruf? Name? rief die Tochter? was können die beweisen! Die besten Menschen sind in der Regel am meisten verleumdet. Folgte man jenen Moralisirenden, so wäre das Leben gar nichts werth, und man endete damit, alle Menschen zu verachten.
Der Vater verließ sie mit einem mißbilligenden Kopfschütteln, und sie fuhr zur Witwe, um sich zu trösten und zu zerstreuen.
Der Alte hatte nicht ähnliche Mittel, sich über seinen Kummer zu erheben. Er sah mit der größten Spannung und fast in einem fieberhaften Zustande den Briefen seines Geschäftsträgers entgegen. Dieser schrieb gleich von Brüssel, die Sachen ständen schlimmer, als sie Beide hätten erwarten können. Er thue das Mögliche und sei gezwungen, bei Gerichten und Advokaten Hülfe zu suchen. Der kranke Vater wurde durch diese Nachricht noch schwächer und war schon im Begriff, obgleich es fast unmöglich schien, die Reise nach den Niederlanden selbst zu unternehmen. Hin und her schwankend, Anstalten treffend und vom Doktor wieder überredet, zu bleiben, wurde er bald durch eine erschreckliche Nachricht aus diesem Zustand der Ungewißheit gerissen.
Zitternd, bleich und entstellt wie ein Sterbender, trat er in das Zimmer der Tochter, die er in einem Fieberanfalle traf. Er konnte ihre Krankheit aber jetzt nicht beachten; auch mochte sie ihm, den sie mit Entsetzen betrachten mußte, nicht mit ihren gewöhnlichen Klagen entgegenkommen. Der Vater stürzte schreiend an die Brust der Tochter, seine Arme und Hände umklammerten sie in krampfhaftem Druck. Er schien die Sprache verloren zu haben. Wenn ich nicht auf der Stelle sterben soll, rief Emmeline, so sprich, Vater. – Was ist es? was ist vorgefallen?
Ein Brief war angekommen. Nicht von Brüssel selbst, 327 sondern aus der Heimath. Diesen hielt der Vater noch in der Hand. Wisse, rief er, der Elende, der ehrlose Friedheim –
Um Gottes willen! warum nennst Du ihn so?
Er hat meine Vollmacht gemißbraucht – alle Gelder, so viel er konnte, in meinem Namen aufgenommen – hat alle Gläubiger unbefriedigt gelassen, mit keinem nur gesprochen – und ist als Dieb mit meinem ganzen Vermögen nach Amerika entflohn!
Fast ohnmächtig setzte sich der alte kranke Mann in den Sopha neben seine Tochter. Beide sahen sich stumm an. Endlich sagte sie: Also so ist es gemeint? So ist die Entwickelung? Nicht wahr, Vater, es ist entsetzlich?
Furchtbar und gräßlich ist unser Schicksal, sagte der Alte. O ich weicher leichtsinniger Thor, daß ich einem Verworfenen so unbedingt trauen konnte! Wir sind Bettler, und ehrlose Bettler; denn ich kann die Schulden in Brüssel nicht bezahlen.
O, das ist noch lange nicht alles, sagte die Tochter jetzt mit lautem Lachen der Verzweiflung: wäre er hier, der ehrlose Dieb, der als infam gebrandmarkte, ich würde mich im Staube zu seinen Füßen winden, daß er barmherzig seyn, sich so erniedrigen möchte, mich zu seinem Weibe zu nehmen. Schon bei seiner Abreise war dies der stolzeste Wunsch meines Herzens.
Der Alte sprang auf. Wie? schrie er mit einer entsetzlichen Stimme. Ungerathene! Verworfene! was sagst Du mir da?
Emmeline rannte durch das Zimmer, bleich und entsetzt, dann fiel sie zu seinen Füßen nieder und sagte: Ja, ich bin Mutter von diesem verworfnen Elenden.
Der Alte hob den Fuß auf, um sie fortzustoßen, doch besann er sich und trat, vor sich selber schaudernd, zurück. 328 Nein, rief die Verzweifelte, stoßen Sie mich, vernichten Sie mich, Zärtlichster, Großmüthigster aller Menschen. Ich bin eine Verworfene und nur zu Ihrem Unglück zur Welt geboren. Mir bleibt nichts als Tod und Vernichtung.
Ja, ich fluche Dir, rief der Alte, den die Wuth von Neuem übernommen hatte; stirb! vergehe! werde ein Nichts, und alle meine Liebe für Dich, meine übergroße, wahnsinnige Zärtlichkeit, meine verruchte, verächtliche Schwäche sei auch verflucht, mit hundert tausend Flüchen, Alles, was ich war, dachte und wollte, mein Stolz auf Dich und Deine Schönheit sei mir in der Erinnerung Raserei und Hohngelächter.
So sei es, sagte sie erschöpft, ich fühle, daß ich alles dies, daß ich noch mehr verdiene. Ich will fort, und durch die Welt mit meiner Schande betteln gehn.
Sie wand sich auf dem Boden, wie ein Gewürm, und der Alte ging im Zimmer händeringend auf und ab. Dann ging er auf sie zu, hob sie vom Boden auf und sagte heftig weinend: Nein, komm, Du bist und bleibst doch mein Kind. Was wäre das Vaterherz, wenn es sich nicht erbarmen, wenn es nicht die schwersten Vergehen auch verzeihen könnte? Flehen Mörder und Räuber zum unsichtbaren Gott und hoffen auf Barmherzigkeit, so darf das Kind mit noch mehr Vertrauen zum leiblichen Vater aufschauen und das ganze Herz in seinen liebenden Busen ausschütten.
Er nahm die ganz erschöpfte Tochter auf seinen Schooß, liebkoste sie und trocknete ihre Thränen. Nimm die Haare aus dem Gesicht, sagte er dann, und mache mir es mir begreiflich, wie Du grade an diesen Menschen, den ich von jetzt an nicht wieder schimpfen will, verloren gehen konntest.
Eben weil ich ihn verachtete, antwortete sie mit bebender Stimme. Die Natur, die Heiligkeit der Ehe, die Würde und Weihe des Menschen, alles rächt sich jetzt an mir, weil ich 329 alles dies verspotten konnte. Er war in meinen Augen der letzte aller Menschen, und darum glaubte ich auch, daß er sich jede Vertraulichkeit erlauben dürfe. Die Witwe Duval nahm ihn ebenfalls in ihren Schutz, und es mochte wohl ein Complott von beiden seyn, mich durch meinen Leichtsinn und diese aberwitzige Sicherheit zu verderben. Sie lachte über alles, was geschah; sie sprach mit leichter Zunge die größten Frevel aus, und mein verkehrter Sinn ergötzte sich an diesem Witz, wie ich das Schandbare nannte. So, mich selbst und die Menschheit erniedrigend, wurde ich zu jener Abscheulichkeit geführt, die mir, vom Aberwitz trunken gemacht, als gleichgültig erschien. Als ich nun der abscheulichen Französin meinen Zustand bekannte und Hülfe von ihr begehrte, sagte sie mir mit schadenfroher Kälte, ich solle mich nicht verwundern, wenn sie sich jetzt meinem Umgang entzöge und mir ihr Haus verschlösse, denn dies sei sie sich und ihrem Rufe schuldig.
Armes, liebes Kind, sagte der Alte hierauf mit leisen Tönen: laß uns beisammen bleiben, so lange der Himmel uns noch unser Leben schenkt, wir wollen uns gegenseitig trösten und erheitern. Wir sind Bettler und ganz unglücklich, das wollen wir uns gestehn. Deinen Schmuck, meine Equipage und was wir sonst Werthvolles und Ueberflüssiges besitzen, wollen wir zu Gelde machen, uns mit der kleinen Summe in eine stille Einsamkeit, ein wohlfeiles Oertchen zurückziehn und die ganze übrige Welt vergessen, um nur uns zu leben, um uns zu lieben, so lange das Leben, oder das kleine Capital ausreicht. Nicht wahr, mein Kind?
Sie war mit allem zufrieden, so zerbrochen und gedemüthigt, wie sie sich in allen ihren Kräften fühlte; sie hatte nur noch so viel Energie, um mit gerührter Dankbarkeit die Großmuth und Liebe des väterlichen Herzens zu empfinden.
330 Schon dachte am Nachmittage der kränkelnde Alte daran, die Projekte in Wirklichkeit zu setzen, als ein freundliches Schicksal plötzlich alles anders wendete. Der Großmüthigste aller Freunde hatte schon in der Heimath, sowie die Abscheulichkeit Friedheim's nur kund geworden war, die Handlung und die Ehre Runde's gerettet; mit seinem ganzen unermeßlichen Vermögen war er eingetreten, hatte alle Gläubiger befriedigt und alle fälligen Wechsel bezahlt, und so war der Credit des angesehenen und berühmten Hauses unerschüttert geblieben. Jetzt war er selbst im Fluge nach Paris geeilt und nach einigen Tagen reisete Emmeline als die Gattin Grundmann's mit diesem und ihrem Vater in die Bäder von Barèges.