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Die Abwesenheit der Komteß Eveline war nicht von Dauer. Wenige Tage nach Herbrincks Heimkehr holte die gräfliche Equipage auch die junge Dame von der Bahn zurück.
Luckner selbst war mit nach der Station gefahren.
»Nanu, meine Teure,« sagte er, als sie der Beobachtung des neugierigen Sonntagspublikums entzogen waren, »nicht gefallen bei der charmanten Gräfin?«
»Doch, Papa,« antworte sie einsilbig.
»So! Dann hat dich vielleicht die Sehnsucht nach Timmhusen fortgetrieben?«
»Kann sein, Papa.«
Der Graf faßte ihre Verschlossenheit etwas energischer an.
»Hast du mir nichts von der Gräfin zu bestellen?« fragte er.
»Sie hat mir – einen Brief für dich mitgegeben –«
Sie suchte das Schreiben widerstrebend aus einem Handtäschchen hervor.
»Bitte, Papa.«
»Hm – ich will nicht hoffen, daß du im Unfrieden – – bist du etwa?« forschte er drohend.
»Nein, in Freundschaft. Die wurde nicht getrübt, wenn auch – unsere Meinungen – auseinandergingen.«
»So? Gingen auseinander –?« wiederholte Luckner aufhorchend. »Worüber denn, wenn man fragen darf?«
»Sie wird es dir ja schreiben, Papa.«
Er trennte den wappengeschmückten Umschlag von feinem Elfenbeinpapier auf und vertiefte sich in die flüchtig hingeworfenen Zeilen.
»Lieber Graf! Ich bedauere, daß ich meinen jungen Gast nicht länger an mich fesseln kann. Aber es wird wohl der Frühling sein, der sie auf das blühende Land, dessen schönste Zeit angebrochen ist, zurücklockt. Wie ich sie beneide und wie gern ich mich ihr anschließen würde, wenn ich nur abkommen könnte und nicht zwischen meinen vier Wänden und sieben Bäumen (alias Garten) hocken bleiben müßte. Herzlichen Dank, daß Sie mir Ihr liebes Kind wenigstens auf ein paar schöne Tage in meine Einsamkeit geschickt haben! Ich liebe die Jugend, und es regt an, mit einem guten, geweckten Kinde Fragen zu erörtern, aus deren Beurteilung das wägende Alter und die stürmende Jugendfrische in gleicher Weise ihren geistigen Gewinn ziehen. Ihre Eveline hat einen feinen, klugen Kopf, und wenn ich sie nicht ganz zu überzeugen vermocht habe, daß sie Ihren Herrn von Herbrinck – den Sie bestens von mir grüßen wollen! – nach allzu strengen Ehrbegriffen beurteilt – sie wird die empfangene Anregung schon selbst weiter verarbeiten und schließlich doch Ihrer alten Freundin nicht unrecht geben. Diese Angelegenheit Ihres Freundes übrigens regt hier die Gemüter recht auf und hat auch mich des Herrn, den ich vor Jahren kennen zu lernen das Vergnügen hatte, mit teilnehmendem Bedauern gedenken lassen. Es braucht ja nicht gesagt zu werden, daß kein Billigdenkender ihm einen Vorwurf macht; aber erfreulich ist es doch, daß die Stimme der öffentlichen Meinung sich so ganz und entschieden für ihn erklärt. Selbst in den unteren Schichten hat die Intelligenz dem Gekränkten Rächer erstehen lassen, die den intriganten Komödianten den Schauplatz seiner Tätigkeit recht schleunig von Kiel verlegen ließen. Und den geistig berufenen Führern, die sich zu einer lebhaften Agitation gegen die zutage getretene Gesetzeslücke gesammelt haben, werden ja gewiß auch Sie sich beigesellen. Lieber Graf, nochmals herzlichen Dank für den Besuch Ihres lieben Kindes! Und wenn Sie einmal selbst wieder unsere schöne Hafenstadt beehren, dann vergessen Sie nicht
Ihre alte Freundin Margarete v. Soden.
Nachschrift! Natürlich auch die liebe Jüngste grüße ich vielmals.«
Luckner betrachtete seine Tochter mit widerstreitenden Empfindungen. Eine leise Hoffnung, daß die in diesem Falle über Erwarten verständige Gräfin eine Bresche in das Vorurteil des Mädchens gelegt haben könnte, kämpfte mit der Befürchtung, daß die Meinungsverschiedenheit die Tochter im Trotz hatte scheiden lassen.
»Lies!« forderte er grollend.
Komteß Eveline gehorchte wortlos, und stumm gab sie das Schreiben zurück.
»Nun –?« drängte der Graf.
»Ich passe nirgends hin,« entgegnete sie mit vibrierender Stimme. Sie starrte aus dem Wagen, und der Graf beobachtete, wie ein Zucken in ihren verschlossenen Zügen das Ringen ihrer Empfindungen wiederspiegelte. Luckner schwieg nachsichtig.
Plötzlich stürzten ihr die Tränen in die Augen.
»Papa, ich muß Zeit haben!« sagte sie fast schreiend.
»Es ist gut, mein Kind.«
Nach einer Weile fügte er hinzu:
»Deine Aversion datiert zurück. Sie ist nicht mit einem Male auszurotten. Aber gehe mit dir zu Rat. Dein gesunder Verstand muß doch endlich der Voreingenommenheit die verletzende Spitze abbrechen können. Schicke dich in die Schätzung, daß unser Freund ein uns gleich berechtigter Ehrenmann, nicht unser Diener und auch nicht der Träger eines dauernden Makels ist. Was er fehlte, war verzeihlich.«
Und kurz vor dem Gute eindringlich:
»Ich werde der Gräfin Soden noch heute für ihre Liebenswürdigkeit danken. Ich habe sie einmal – nicht ganz zutreffend beurteilt. Das kommt vor. Und es macht nichts, wenn die spätere Einsicht ausgleicht ... Wenn du Herbrinck begegnest: erinnere dich deiner alten Gönnerin und ihrer Anschauung. Die Gräfin ist stolz, aber auch gerecht. Und das sind die Eigenschaften eines Charakters von Vornehmheit und Tüchtigkeit. Stolz ohne Gerechtigkeit ist eine Schwäche an Gehalt ... Ich werde nicht nötig haben, dir das ins Gedächtnis zu rufen ... Aha, Lene steht schon ungeduldig unten. Die hat das Lachen, das aus den: glücklichen Innern kommt. Die schöpft das Beglücken aus einer Ueberfülle ... Tag, mein Engel!«
Die Herzlichkeit der jungen Komteß berührte auch die Schwester anheimelnd, und mit einem in der nachwirkenden Erregung zögernden, widerstrebenden und doch dankbaren Kusse erwiderte sie ihre Zärtlichkeit.
Lange hielt es sie aber mit der Jüngeren nicht zusammen, und als der Graf sich in sein Arbeitskabinett begeben hatte, suchte Eveline die Einsamkeit ihres Boudoirs.
Der goldene Schein der Maiensonne lockte die Komtesse Helene in den Park, und sie gesellte sich freundlich zu Herbrinck, als sie diesen im Schatten der dichtbelaubten Buchen lustwandelnd traf.
»Schade, daß der Nettelsee ein Stückchen entfernt liegt,« meinte Herbrinck, »und daß wir ihn nicht gegen das Ackerland umtauschen können. Wald und Wasser, Wiesenland und ein altes Schloß, das ist das vollkommene Idyll.«
»Sind Sie unzufrieden?« fragte die Komteß lächelnd. »Vom oberen Stockwerk des Schlosses sieht man auch den Spiegel des Sees, und er ist mir bald wie ein lachendes, bald wie ein weinendes Erdenauge vorgekommen.«
»Wie ein weinendes, Komteß?«
»Ja, auch,« erwiderte sie stockend.
»Ich kann verstehen: wenn die Freude das eigene Auge glänzen läßt, dann spiegelt die Umgebung, die dem Blicke erschlossen ist, den Glanz zurück. Und so mag es ähnlich sein, wenn die Träne auf Leid deutet. Aber Leid in Ihrem Sonnenschein, Komteß?«
»Ich bin nicht undankbar, Herr von Herbrinck. Und ich beschwere mich nicht, wenn den langen Jahren einer heiteren Kindheit Stunden und – Tage gefolgt sind, die auch mich einen Wechsel erkennen ließen, der trübe stimmte.«
»Sie hätten gelitten, Komteß?«
»Wir wollen darüber nicht sprechen,« erwiderte sie leise. »Es ist vorüber. Das Leid hat mich gnädig behandelt und mich nur gestreift. Aber Sie – welche Pein müssen Sie ausgestanden haben!«
Eine zitternde Innigkeit, die Herbrincks Herz jäh höher schlagen ließ, lag in der schlichten Aeußerung.
»Komteß,« entgegnete er mit gewaltsam gedämpfter Wallung, »das Schicksal hat es trotz allem gut mit mir gemeint, denn zur gleichen Zeit, in der es mich schlug, brachte es mir die Erlösung. Komteß, ich habe die Scholle, auf der mich die Liebe der Eltern umhegte, mit schwerem Herzen verlassen. Aber der Druck der Schuld hat mich fortgetrieben und hat mich in Unrast gehalten und mir das höchste Glück des Lebens versagt, nach dem ich die Hand nicht auszustrecken wagen durfte. Ich wollte mich abfinden, wollte bescheiden untertauchen. Nun bin ich frei. Gottlob: frei!«
Mit einem Jubellaut entrang es sich seiner Brust.
»Komteß, doppelt frei!« fuhr er fort. »Auch von der zweiten Fessel, die ich mir selbst aufgelegt hatte, die mir Schutz gewähren sollte gegen ein Herzenswünschen, das unerfüllbar schien. Die Liebe zu einer Anderen, Edlen im tiefsten Herzensschrein, so schloß ich den ungleichen Bund, der mir vorübergehend selbst den treuesten Freund, Ihren Vater, zu entfremden drohte und den zu begreifen wohl niemand ganz imstande war. Gottlob, daß sie selbst mir das Wort zurückgegeben hat, das ich nicht hätte brechen können, sondern mit meinem Leben hatte bezahlen müssen. Ich wollte nicht spielen mit ihr, wahrlich nicht; ich wollte die Zufriedenheit für sie und für mich. Nicht die jauchzende Liebe konnte ich ihr geben und von ihr erbitten, aber einen bescheidenen Abglanz davon wollte ich in meine Resignation hinüberretten. Und die ich liebte, die sollte glücklich werden mit einem Besseren, mit dem Edelsten, den ich für sie herbeiträumte.«
Er sah seine Begleiterin erblassen und Wanken und unterbrach sich bestürzt.
»Komteß, was ist Ihnen?«
»Nichts,« antwortete sie tonlos.
Sein Blick umfing sie voll Sorge und Zärtlichkeit.
»Komteß, ich habe meine Liebe von klein auf erblühen sehen. Das Kind war mir teuer, und die Jungfrau bete ich an. Lassen Sie mich reden, lassen Sie mich fragen. Stellen Sie sich vor, Ihre schwesterliche Güte solle mir antworten. Ihre Schwester ist mir nicht zugetan, und sie ist vor meiner Rückkehr und vor der Berührung mit mir geflohen. Für sie besteht der Schatten aus meiner Jugend weiter. Komteß, ist meine Ehre in Ihren Augen fleckenlos?«
Sie nickte in tiefer Befangenheit.
»Ach, wie können Sie zweifeln?« kam es stockend über ihre Lippen.
»Komteß, Dank, heißen Dank!« stammelte er. »Und – ahnen Sie – – wollen Sie wissen, wen ich liebe – immer geliebt habe?«
Er blieb stehen, und die Erregung lohte ihm glühend und fiebernd über die offenen, männlichen Züge. Und wie ein Sturzbach über seine Ufer, so quoll ihm das Geständnis über seine Lippen:
»Komteß, Sie! Sie über alles!«
Sie verlor den Halt und mußte sich an ihn lehnen. Die Tränen flössen über ihre Wangen und ein krampfhaftes Schluchzen erschütterte sie.
In trunkener Freude legte er die Arme um sie und drückte den Mund auf ihr duftendes Blondhaar.
»Helene?« ein bebender Frageton – »Helene!« laut und voll strömender Seligkeit.
Er beugte sich zu ihr hinab und suchte ihren Mund.
»Mein Glück – mein Herzensweib!«
Und der erste Kuß der Liebe ließ sie durch Tränen lächeln und erschauern zugleich.
»O Gott, das ist zu viel des Glücks! – Du liebst mich, liebst mich!« – stammelte sie, und die Sonne küßte den Tränentau ihrer glühenden Wangen, und der Maiwind strich lächelnd und kosend über den goldig schimmernden Scheitel und die junge, reine Stirn.
»Ja, ich liebe dich, Helene,« flüsterte er in tiefer Zärtlichkeit zurück, »und mein Arm soll stark sein, dich treu und sicher zu tragen. Helene, dein herrlicher Vater hat mich lange durch seine große, übergütige Freundschaft beglückt, er hat mit seinem treuen Mannesmut mich rein und frei gemacht – komm, wir wollen zu ihm, wir wollen ihn bitten, und der beste, treueste Mensch wird uns sein segnendes Ja nicht vorenthalten. Komm, mein teures, einziges Lieb!«
»Ja, mein Hans.«
Sie hing sich schwer an seinen Arm, und er fühlte noch ihr Beben. Aber glücklich lachte sie mit den überströmenden Augen zu ihm auf.
Sie betraten das Schloß vom Park aus, öffneten leise die Tür zum Arbeitszimmer des Grafen und traten Arm in Arm über die Schwelle.
»Papa!«
Helenes zagender Ruf ließ den Grafen sich umwenden und dem Paar ahnungslos entgegenblicken.
Er schob sich ernst und voll Würde.
»Was – soll das heißen?« fragte er in unsäglicher Ueberraschung.
Aber schon flog das Mädchen auf ihn zu.
»Papa, Papa, er liebt mich!«
Sie schlang weinend die Arme um seinen Hals, und der Vater sah fest und erstaunt auf den Freund.
Herbrinck folgte der Geliebten, und Auge in Auge, gerade und ehrlich sprach er seine Werbung aus.
»Luckner, ja, ich liebe dein Kind, solange ich denken kann. Ich wollte ihr entsagen und schob die andere zwischen sie und mich, weil ich mich nicht würdig dünkte mit meinem Fehl. Deine Großmut und Liebe hat mich freigesprochen, und nun komme ich und sage: Vater, gib mir dein Kind als mein angebetetes Weib – mein Herzblut gehört ihm bis zu meinem letzten Atemzuge!«
Luckner konnte sich so rasch nicht zurechtfinden.
»Und du, mein Kind?« fragte er tastend.
Ein flehendes Bitten auch von ihrem bebenden Munde.
Luckner schob die Hand dem Freunde entgegen.
»Herbrinck – –«
Die Starre in seinen Zügen begann sich weich zu lösen.
»Hans von Herbrinck, mein liebstes Kind –«
Er stockte.
»Mein Junge – –«
Ein siegendes Lächeln gab ihm eine bezaubernde Kraft und Freudigkeit.
»Mein Freund, ich habe dir kein Wort zu viel gesagt, ich bin dir ergeben gewesen in ehrlichem Dank, und ich habe um dich gesorgt und geworben mit meiner Achtung und Liebe. Mein Wort war echt – – halte du das deine! Ja, mein Junge – ja, mein Kind – und wenn's mich auch überrascht hat – ich bin doch glücklich mit euch!«
Er zog Herbrinck an sich und legte dann die Hände der Glücklichen ineinander.
»Nun auch noch mein Sohn,« sagte er sinnend. »Timmhusen wird unter der guten Hand weiter gedeihen. Mein Sohn,« wiederholte er lächelnd und nickend. Er wies auf ein Manuskript, das auf seinem Schreibtische lag und das er eben aus dem Entwurf ins Reine übertragen hatte. »Die zweite Buße ist ungerecht, habe ich da geschrieben. Und kein Deuteln kann die Wahrheit abschwächen, daß sie es ist. Aber die deine ist dir zur freundlichen Befreierin geworden, mein Sohn; möge sie zum Segen auch für das deutsche Recht werden!«
Ende.