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Der Winter kehrte nach sonnigen Tagen hartnäckig zurück, und die Wochen schlichen in dem eintönigen Kampfe zwischen dem entthronten Herrscher und seinem siegessicheren Nachfolger nur langsam dahin. Von der Mitte des März ab gewann aber Jüngling Lenz über seinen bärbeißigen Nebenbuhler die Oberhand, und wenn er auch noch in den Nächten von dem alten Gegner geplagt wurde, am Tage lenkte er siegreich den Sonnenwagen über die wintermüde Erde und weckte mit Licht und Wärme neu verjüngtes Leben.
»Sechzehn Grad Réaumur über Null?« fragte Luckner zu Ausgang des Monats, als er mit Herbrinck zur Hauptverhandlung gegen den Brandstifter am frühen Morgen nach Kiel fahren wollte. »Und das im März?« rief er staunend. »Das ist lange nicht vorgekommen; ich besinne mich kaum auf einen ähnlichen Fall. Aber wehe, wenn der April sich von seiner schlechten Seite zeigt, dann kann uns das Stück vorweg genommenen Sommers teuer zu stehen kommen.«
»Allerdings,« pflichtete Herbrinck bei. »Und ich traue dem Frieden nicht. Mir ist gerade zumute, als ob ein Unheil bereits in der Luft liege.«
»Na, so eine Unglücksmiene ist mir an dir in der letzten Zeit nicht neu, Herbrinck – leider. Hoffentlich behältst du Unrecht, und der April fällt in den Anfang Mai. Ich habe Hertling geschrieben, daß er den Entwurf für heute fertig haben soll. Ist die Verhandlung vorüber, suchen wir ihn auf und können dann gleich beraten, wenn noch was zu wünschen ist.«
Hertling war ein Kieler Architekt, der vom Grafen mit dem Bau des Verwalterhauses beauftragt worden war.
»Ich habe flüchtig mit ihm gesprochen.« entgegnete Herbrinck, »neulich, als ich zur Vernehmung vor den Untersuchungsrichter geladen war.«
»Das hat er mir mitgeteilt, auch« – Luckner blinzelte vergnügt – »daß deine Hochwohlgeboren zu möglichster Einfachheit gemahnt hat. Ich habe aber nicht hinter dem Berge gehalten, sondern mit gutem Recht auf meinen Anordnungen bestanden. Punktum, mein Lieber! Da hätten wir glücklich vorgebeugt, und jetzt wirst du nicht mehr viel verderben können – mit deiner Knickrigkeit.«
»Es soll doch ein Dienstgebäude werden, lieber Graf –«
»Nee, soll es gar nicht. Ist für die zweite Herrschaft bestimmt ... Na, fertig? Der Wagen steht auch da.«
Komteß Helene schaute vom Fenster aus auf den Hof und verbeugte sich bei der Abfahrt grüßend.
»Die Kleine ist merkwürdig still geworden,« plauderte Luckner ahnungslos. »Sollte der auch irgend ein Aprilunwetter schwanen?« scherzte er.
»Eine laute Art habe ich nie an ihr beobachtet,« flocht Herbrinck ein.
»Nee, nee. Aber so – so lurig, möchte ich sagen, ist die sonst auch nicht gewesen, so seestill, so ganz wellenlos –«
»War sie nicht schon als Kind in sich gekehrt, lieber Graf?«
»Gewiß, wenigstens kein Sausewind. Ich kann mich ja auch irren. Aber mitunter meine ich doch, daß hinter ihrer weißen Stirn ein Sinnen ist, das sie nicht gerade beglückt. Und ihre Farbe gefällt mir auch nicht. Ja, das wollte ich schon immer mal fragen: findest du nicht auch, daß sie etwas treibhausmäßig zart geworden ist?«
Luckner wartete gespannt auf die Antwort.
»Nein,« erwiderte Herbrinck, fast gegen seinen Willen und jedenfalls ohne rechte Ueberzeugung. Er suchte nach einer allgemeinen Begründung. »Sie zählt achtzehn Jahre, und in diesem Alter starker körperlicher Entwickelung unterliegen die äußere Erscheinung und die seelische Stimmung mannigfachem Wechsel –«
»Bah, ein Landkind wie die, und sieht aus wie eine Stadtjungfer, die nie recht in Luft und Sonnenschein hinausgekommen ist!«
»Daran hat's vielleicht auch bei der Komtesse gefehlt. Sie hat sich zu sehr ans Haus gebunden ... Lockt die schöne Jahreszeit sie wieder hinaus, werden ihre Wangen sich auch wieder höher färben. Ich – bin ohne Sorge – –«
»Das freut mich sehr, Herbrinck. Du bist doch auch Menschenkenner und hast die Kleine von Kind auf gern gehabt. Wenn dir nun nichts aufgefallen ist, habe ich gewiß zu viel gesehen. Ja, ja, so wird's sein, und ich danke dir, daß du mich beruhigt hast. Was die Herren vom Gericht übrigens von mir wollen, ist mir nicht ganz klar. Du kannst doch allein die erschöpfende Auskunft geben ...«
Herbrinck dachte sich, daß auch die Peitschenaffaire in Verbindung mit der Tat des Burschen zur Sprache kommen könnte und vielleicht die Verteidigung versuchen würde, aus der Aufreizung des jugendlichen Verbrechers auf eine mildere Beurteilung des Vergehens hinzuwirken. Er wußte aber selbst nichts Genaueres und wollte eine bloße Mutmaßung nicht zum besten geben.
»Ich bin nicht nur über die Tat, sondern auch über den Leumund des Burschen befragt worden,« erklärte er, »und über den letzteren könntest Wohl auch du gehört werden.«
»Na, wir werden ja sehen. Uebrigens viel zu viel Umstände um den verdrehten Bengel. Eine Tracht Prügel würde kürzer und empfehlenswerter sein.«
»Ihm wird sein Recht werden,« warf Herbrinck still hin. – »Geheuer – mag ihm nicht sein.«
»Von mir hat er keine Schonung zu verlangen,« sagte Luckner nachdrücklich. »Ich werde dem verdammten Kerl die Leviten lesen, daß er und die Richter sich's hinter die Ohren schreiben sollen. Halloh – Morgen – Tönndorp!«
Tönndorp wollte gerade vom Hofe biegen, als die Nachbarn vorüberkamen. Er lenkte seinen Schweißfuchs um den Wagen und ritt ein Stück Weges mit.
»Nach Kiel?« fragte er. »Na, sagt mir heute abend Bescheid, was dem Brenner aufgebrannt ist ...«
»Dein Schwager, Herbrinck, gefällt mir. Der Kern ersetzt, was an Schliff fehlt. Brauchen ja auch keinen Weltmann auf unserem Timmhusen. Auch geladen?«
Herbrinck bestätigte.
»Er ist schon gestern abend gefahren. Mit der Bahn. Wesentliches wird er auch nicht zu bekunden haben.«
Herbrinck knöpfte sich den Ueberrock auf. Es war ihm unbehaglich warm.
An dem Drehkreuz eines Feldsteiges, neben dem Wege, stand hemdärmelig ein Stromer und klopfte sich mit dem Knotenstock den über das Kreuz gehängten Rock aus. Die Pferde scheuten, und eines von ihnen schlug über den Strang, so daß der Kutscher halten mußte. Luckner sprang vom Wagen mit einer Wendung auf den Stromer zu, der eiligst querfeldein Reißaus nahm.
»Laß den armen Teufel laufen,« bat Herbrinck freundlich, und brachte den Strang in Ordnung.
»Gesindel!« knurrte Luckner, war aber bald besänftigt. »Uebrigens kein schlechtes Genrebild: gestörte Morgentoilette,« scherzte er schon wieder.
Vor einer Dorfschmiede mußte noch einmal gehalten werden, weil das Leitpferd ein Eisen verloren hatte.
»Donnerwetter, bedeutet das nu Aerger?« fragte Luckner. »Lieber hätte ich eins gefunden, wenn ich auch nicht abergläubisch bin. Hast du etwa doch mit dem Baumeister – – hinter meinem Rücken – – –? Den verehrten Herrn würde ich schön anfahren.«
Die verlorene Viertelstunde konnte gerade noch eingeholt werden, und wenige Minuten vor dem angesetzten Beginne der Verhandlung hielt der Wagen vor dem Gerichtsgebäude.
Der ältere Kruse drückte sich auf dem langen Korridor scheu in eine Fensternische, als er des Grafen und seines Begleiters ansichtig wurde. Der ›Lindwurm‹ aber, der gleichfalls zugegen war, stemmte den Arm in die Seite, warf den Kopf auf und musterte die Herren mit suffisantem Hohne.
Luckner blieb sekundenlang zornig stehen, und Detlev Kruse posierte weiter.
»Hier ist neutraler Boden,« näselte er höhnisch.
In Luckner kochte es, aber er besann sich und würdigte den Aufdringling keiner Antwort. Seine Verachtung in Blick und Geberde sagte genug. Stolz ging er weiter und wandte sich an einen Gerichtsdiener.
»Zeugenzimmer?« fragte er lakonisch.
Der Diener wies höflich zurecht.
»Herbrinck, die gleiche Luft mit der Fratze ist mir unerträglich,« sagte er, als sie allein waren. »Wenn du länger aufgehalten wirst als ich – suche mich im Hotel. Und gehe du dahin voraus, wenn du zuerst an die Reihe kommst.«
In der Liste der aufgerufenen Zeugen fehlte Detlev Kruse; bei flüchtigem Umsehen bemerkte ihn Herbrinck aber in der vordersten Sitzreihe des Zuhörerraumes, und es war ihm, als ob ein boshaftes Grinsen des Artisten ihm gelten solle. Angewidert wandte er sich ab.
Die Zeugen mußten den Saal nun wieder verlassen und der Graf und Herbrinck sich in Geduld fassen. Erst nach nahezu zwei Stunden rief ein Gerichtsdiener geschäftsmäßig in das Wartezimmer: »Herr Graf von Luckner.«
Alle Augen richteten sich auf den aristokratischen Zeugen, der soldatisch schlicht und doch in vornehmer Sicherheit den Gerichtshof und die Geschworenen mit verbindlichem Neigen des ergrauten Charakterkopfes grüßte.
Die Personalfragen des Vorsitzenden und die Beeidigung des Zeugen gingen rasch von statten.
Der Präsident bezeichnete den Gegenstand der Untersuchung und die Person des Beschuldigten und stellte darauf nach den Bestimmungen der Strafprozeßordnung und fast genau mit ihren Worten das Ersuchen, dasjenige, was dem Zeugen von dem Beschuldigten und seiner Tat bekannt sei, im Zusammenhang anzugeben.
Luckner legte knapp und bestimmt dar, was er von dem Brande wußte.
»Ist nach Ihrer Meinung Selbstentstehung des Feuers ausgeschlossen?« fragte der Vorsitzende.
»Unbedingt.«
»Konnte das Feuer durch eine Fahrlässigkeit – ein weggeworfenes Zündholz, einen Zigarrenrest – hervorgerufen sein?«
»Nein.«
»Wollen Sie das begründen?«
»Die Außenflächen des Feimens waren verschneit und vereist. Der Brandstoff muß tief in das trockene Stroh eingeführt worden sein.«
»Sie nehmen also vorsätzliche Brandstiftung an?«
»Unter allen Umständen.«
»Halten Sie den Angeklagten für den Urheber?«
»Ja.«
»Welche Beweise haben Sie?«
»Sein Verweilen in der Nähe des Tatortes und sein Geständnis.«
»Konnte er nicht zufällig nachts unterwegs sein?«
»Herr Präsident, die Leute arbeiten den Tag über und benutzen die Nacht zum Schlafen.«
»Der Angeklagte behauptet, er habe nicht schlafen können und sich herumgetrieben. Das Geständnis widerruft er.«
»Die Aussage des Herrn von Herbrinck stellt es für mich außer Frage.«
»Herr von Herbrinck soll ihn geschlagen und das Geständnis von ihm erpreßt haben.«
»Die Schuld hat es erpreßt.«
»Welchen Grund sollte der Angeklagte zu seiner Tat gehabt haben?«
»Haß gegen mich,« antwortete der Graf kurz.
»Hatten Sie ihn gereizt?«
»Ja.«
Luckner erzählte von der Peitschengeschichte.
»Eine Selbstjustiz, deren Berechtigung unerörtert bleiben mag. Hat sie sich wiederholt?«
»Nein.«
»Finden Sie noch einen anderen Grund für die Gereiztheit des Angeklagten?«
»Daß ich nicht wüßte.«
»Haben Sie nicht die Angehörigen des Angeklagten plötzlich entlassen und fortgewiesen?«
»Ah so! Ja!« Luckner begründete die energische Maßregelung. »Auf meinem eigenen Grund und Boden befehle ich. Widerspruch dulde ich nicht, Verhöhnungen – und wenn es gesungene sind – auch nicht.«
»Ging Ihre Anordnung nicht zu weit?«
»Herr Präsident, ich bin ein alter Soldat. Die Disziplin ist mir zur Natur geworden. Ich verlange sie geachtet, wie ich sie selbst respektiere.«
»Sie sollen hart und heftig zu Ihren Leuten sein?«
»Meine linke Hand, meine rechte, Herbrinck, gleicht reichlich aus. Ungerecht will auch ich nicht sein.«
»Haben Sie den Angeklagten selbst in der Nähe des Brandplatzes gesehen?«
»Nein.«
»Hat der Angeklagte früher Anlaß zu Ausstellungen gegeben?«
»Er war faul und schlotterig.«
»War er ehrlich?«
»Ich weiß nichts vom Gegenteil.«
»Ich danke.« Der Vorsitzende wandte sich an den Saaldiener. »Der Zeuge von Herbrinck.«
Luckner blieb noch stehen.
»Herr Präsident, bin ich entlassen?«
Staatsanwalt und Verteidigung hatten keine Fragen zu stellen.
»Der Herr Zeuge ist entlassen,« erklärte der Vorsitzende in höflichem Amtstone.
»Danke gehorsamst.«
An der Tür begegnete Luckner dem Vertrauten.
»Auf nachher,« sagte er kurz und freundlich.
Gleich darauf stand Herbrinck an seiner Stelle, und der Vorsitzende begann die Personalfeststellung von neuem. »– – evangelisch, Landwirt, wohnhaft zu Timmhusen, mit dem Beschuldigten nicht verwandt,« schloß er eintönig und ließ die Beeidigung mit kühler Gleichförmigkeit folgen.
Nach dem eingehenden Berichte Herbrincks stellte der Vorsitzende eine Reihe von Fragen, die er zumeist auch an den Grafen gerichtet hatte. Die Selbstentzündung des Feimens verneinte auch Herbrinck und ebenso eine Entstehung des Feuers durch Fahrlässigkeit.
»Von Neurader Arbeitern, die von Ihnen als Zeugen vorgeschlagen sind,« führte der Präsident aus, »haben wir gehört, daß der Angeklagte Drohungen gegen den Grafen ausgestoßen hat. Haben Sie diesen eine Bedeutung beigemessen?«
»Ich habe sie – zu Unrecht – für Ruhmredereien gehalten.«
»Sie trauten also dem Angeklagten ein Verbrechen nicht zu?«
»Nein.«
»Wie war der Leumund des Angeklagten?«
»Kruse war nachlässig und indifferent. Ich taxierte ihn auf einen wenig intelligenten Menschen, der aus Stumpfheit und Beschränktheit über seine eigenen Füße fallen konnte. Eine männliche Reife fehlte ihm auch in ihren ersten Ansätzen.«
»Können die Eltern infolge ihrer Entlassung von Timmhusen aufreizend auf ihn eingewirkt haben?«
»Das halte ich nicht für wahrscheinlich, wenn sie auch verstimmt sein mochten. Unser Arbeiterschlag ist im ganzen ernst und besonnen.«
»Weshalb erfolgte die Entlassung der Kruseschen Eheleute?«
Der Befragte erzählte.
»War das Spottlied aufreizend?«
»In gewissem Sinne und für einen unreifen Menschen vielleicht. Ich besitze die Verse und bedauere, daß ich keine Abschrift zu den Akten gegeben oder mitgebracht habe.«
»Bestand unter der Arbeiterschaft eine feindliche Stimmung gegen den Gutsherrn?«
»Wohl kaum eine ernstliche. Der Herr Graf ist durch sein rasches Naturell vor Fehlgriffen nicht geschützt; er ist aber von Grund aus rechtlich und echt vornehm, und dauernden Schaden hat durch ihn niemand erlitten.«
»Billigen Sie die Züchtigung, die der Angeklagte von ihm erhalten hat?«
»Nein. Ich entschuldige sie aber.«
Der Präsident ging einen rascheren Schritt vorwärts.
»Wie kamen Sie darauf, den mutmaßlichen Täter in der Richtung nach Neurade zu verfolgen?«
»Der Verdacht fiel auf Kruse infolge seiner Drohungen.«
»Der Angeklagte hat Ihnen dann ein Geständnis abgelegt?«
»Ja.«
»Haben Sie ihn geschlagen?«
»Ich bestreite es nicht. Es geschah in der Erregung. Herr Präsident, das Unglück hätte groß werden können.«
»Hat er unumwunden zugestanden?«
»Mit der naiven Zusicherung, es ›nicht wieder tun‹ zu wollen.«
»Angeklagter, was sagen Sie dazu?«
Kruse fuhr aus dumpfem Starren auf.
»Ick bün dat ni west,« stieß er blöde aus.
»Herr Zeuge, hat der Angeklagte sein Geständnis sogleich widerrufen?«
»Nach der Ankunft auf dem Gute.«
»Er hat das Leugnen konsequent fortgesetzt. Sind Sie trotzdem überzeugt, daß er schuldig ist?«
»Ich zweifle nicht einen Augenblick.«
»Die zu den Akten gegebenen Ausschnitte und Messungen der Fußspuren stammen von Ihnen?«
»Ich habe beide am nächsten Morgen vorgenommen.«
Die Stiefel Kruses wurden nachgemessen und die Ausschnitte auf die Sohlen gelegt. Die Maße stimmten und auch die durch Punkte auf den Ausschnitten angedeuteten Nägelabdrücke.
»Angeklagter, wollen Sie nicht endlich Ihr Gewissen erleichtern und sich durch ein offenes Geständnis eine mildere Bestrafung sichern?«
»Ick bün dat ni west.«
Der Präsident zeigte sich etwas ungehalten, und der Staatsanwalt meinte spöttisch:
»Das ist die stereotype Entgegnung, allen Beweisen zum Trotz.«
»Der Aufenthalt in der Nähe der Brandstelle wird von dem Angeklagten ja nicht geleugnet,« fiel der Verteidiger ein. »Die Beschäftigung mit den Fußspuren hat deshalb wohl wenig Wert, da aus ihnen doch nicht gefolgert werden kann, daß etwas anderes als die Neugierde ihre Entstehung veranlaßt hat.«
»Aus der Entfernung zwischen den Spuren und den Einrissen in dem Schnee folgere ich eine Flucht des Angeklagten,« replizierte der Staatsanwalt. »Zur Flucht aber veranlaßte ihn das Bewußtsein dessen, was er getan hatte.«
»Ich setze in die Angaben des Zeugen von Herbrinck einigen Zweifel,« meinte der Verteidiger. »Er ist auch nicht kriminalistisch geschult, und die aus seinen Beobachtungen gezogenen Schlüsse entbehren der sicheren Grundlage.«
Der Vorsitzende schnitt die Auseinandersetzung ab.
»Die Erörterung darüber ist den Plaidoyers vorbehalten,« belehrte er sachlich. »Herr Zeuge, konnte das Feuer ohne die erfolgreiche Bekämpfung auf das benachbarte Stallgebäude übergreifen?«
»Die Gefahr war sehr ernst.«
»Enthielt das Gebäude auch Räumlichkeiten, die zum Aufenthalt von Menschen dienten?«
»Ja, zwei Stallknechte haben dort ihre Kammern.«
»Waren die Knechte zur Zeit des Brandes anwesend?«
»Sie wurden erst durch die Löschmannschaft geweckt.«
»Danke.«
Die Vernehmung des Zeugen war beendet, und der Präsident gab Auftrag, den Förster Löhr zu rufen.
Der Verteidiger wandte sich an den Vorsitzenden.
»Ich muß mich noch einmal mit dem eben gehörten Zeugen beschäftigen,« erklärte er. »Ich habe vorhin erwähnt, daß für mich die Zuverlässigkeit dieses Hauptbelastungszeugen nicht ganz feststeht.«
Herbrinck drehte sich aufhorchend um.
»Im Interesse des Angeklagten,« fuhr der Verteidiger kühl fort, »muß ich anführen und unter Beweis stellen, daß der Herr Zeuge zum Jähzorne neigt und in diesem wahrscheinlich dem Angeklagten in der nächtlichen Stunde am See eine heftige Züchtigung erteilt hat, die dann das Geständnis erzwang. Mir ist von einem Verwandten des Angeklagten ein Brief zugegangen, der sich mit der – Vergangenheit des Zeugen beschäftigt und den Beleg für seine bedingte Glaubwürdigkeit zu erbringen sucht. Der Brief ist ungeschickt und unorthographisch abgefaßt und enthält einen offenbaren Schreibfehler, indem der Absender von einem 81. Lebensjahre des Zeugen von Herbrinck spricht, während die 1 logisch vor der 8 zu stehen hat –«
Herbrinck sah in tiefer Unruhe auf den Rechtsanwalt und schloß die Hände wie im Krampfe.
»Der Brief veranlaßt mich,« setzte der Verteidiger mit erhobener Stimme wieder ein, »die Frage zu stellen: Sind Sie, Herr Zeuge, identisch mit Friedrich Hans von Herbrinck, Sohn des ehemaligen Gutsbesitzers Wilhelm Hans von Herbrinck und seiner Gemahlin Friederike, geborene von Uchthausen, aus Groß-Delzig in der Neumark?«
Der Befragte rang nach Atem.
»Ja,« bestätigte er heiser.
»Haben Sie in Ihrem achtzehnten Lebensjahre auf dem Gute Ihres Vaters einen Hausierer Lüggedeg gekannt?«
Wieder von Herbrincks zuckenden Lippen ein rauhes, gurgelndes »Ja«.
»Haben Sie diesen Mann – der allerdings ein zweifelhaftes Subjekt war – nach einer Jagdpartie mit Ihrem Hirschfänger zum Krüppel geschlagen?«
Herbrinck vermochte nur mechanisch zu nicken. Alle Kraft schien ihn plötzlich zu verlassen; er fühlte sich schwach zum Umsinken.
»Sind Sie deswegen – bestraft worden?«
Der Zeuge war jäh erblaßt, die Zähne schlugen ihm im Schüttelfroste zusammen. Er schloß die Augen und mußte an der Schranke, die ihn vom Gerichtshofe trennte, einen Halt suchen. Die Wirkung der Fragen war so furchtbar, daß auch der Verteidiger überrascht und einem menschlichen Rühren zugänglich schien, was wenigstens ein Kopfschütteln als Zeichen des Bedauerns annehmen ließ.
Ein zufällig im Zuschauerraum anwesender älterer Student der Medizin wollte hilfsbereit seine Dienste anbieten; aber ehe er sich aus den Sitzreihen herauswinden und dem einer Ohnmacht Nahen beispringen konnte, gewann Herbrincks stählerne Natur von selber wieder die Oberhand. Er richtete den schlanken, sehnigen Körper auf, sah voll Pein auf seinen Angreifer und erklärte stockend und keuchend:
»Ja, mit vierzehn Tagen Gefängnis – mit lebenslanger Reue.« Sein Auge suchte den Vorsitzenden: »Herr – Präsident, ich – hatte den Mann – beim Diebstahl abgefaßt. In seinem Bündel, das halboffen auf der Erde lag, fand ich – seine Beute, sechs Kreuztauben, die er auf dem Hofe gefangen und getütet hatte. Ich – will nicht beschönigen. Ich war außer mir, ich griff den Dieb an. Er entriß mir Uhr und Kette und suchte das Weite. Ich folgte ihm, zog den Hirschfänger und verwundete ihn schwer. Ich schlug scharf – er verlor das Gehör ... Und jetzt– – ich bitte Sie: machen Sie der Pein ein Ende. Die erste Buße hat mich hart getroffen – die zweite – vernichtet mich. Mein Gott – und das nach zwanzig Jahren – –!«
Seine Erregung steigerte sich von neuem hochgradig. Der Vorsitzende ließ einen Stuhl bringen; aber Herbrinck wies ihn zurück und ermannte sich.
»Herr Zeuge,« sagte der Präsident teilnehmend, »die rasche Tat der Jugend rächt sich an Ihnen bitter. Aber es war das Recht der Verteidigung, den Tatbestand zur Sprache zu bringen, wenn er auch an dem Ausgange dieses Prozesses kaum etwas ändern mag.«
Auch der Staatsanwalt nahm das Wort.
»Durch diese Vorstrafe des Zeugen wird seine Glaubwürdigkeit in meinen Augen um nichts gemindert,« äußerte er sich mit einem Seitenblick seiner kalten grauen Augen nach dem Verteidiger hinüber. »Ich möchte erfahren, wer den Brief geschrieben und also die Nachforschungen nach dem Leumunde des Hauptbelastungszeugen angestellt hat.«
Der Verteidiger gab Auskunft.
»Der Brief ist unterzeichnet von Detlev Kruse, Schauspieler ... Auf die Erklärung der Staatsanwaltschaft zu erwidern, behalte ich mir vor.«
Der Artist hatte mit Spannung auf den Effekt gewartet, den seine Enthüllung hervorrufen würde. Sein funkelnder Blick hing an dem Zeugen, und ein gemeiner Triumph malte sich in seinen verlebten Zügen.
»Ist der Briefschreiber etwa zugegen?« fragte der Vorsitzende in die schwüle Stimmung.
»Jawoll!« kam aus dem Zuhörerraum eine fette Stimme, und Detlev Kruse richtete sich stolz auf. Er sah schnell auf den Angeklagten und nickte mit hochgezogenen Brauen, als ob er sagen wollte: »Nur still, ich bin ja auch noch da, und ich werde es schon machen.«
»Treten Sie vor,« forderte der Präsident.
Detlev Kruse drängelte sich an den Knieen der neben ihm Sitzenden vorüber, ging bis dicht an die Schranke und verbeugte sich tief.
»Herr Gerichtshof –« begann er.
»Antworten Sie auf meine Fragen,« ersuchte der Vorsitzende abweisend. »Sind Sie mit dem Angeklagten verwandt?«
»Jawoll, ich bin sein Onkel.«
»Haben Sie der Vergangenheit des Herrn Zeugen nachgespürt?«
»Jawoll, mir streut keiner Sand in die Augen. Dafür bin ich Menschenkenner –«
»Wer hat Ihnen den Auftrag gegeben?«
»Wer? Mein Herz. Mein Rechtsgefühl. Soll ich meinen Neffen erst mißhandeln und dann auch noch verurteilen lassen?«
»Das Verurteilen besorgt das Gericht.«
»Herr Gerichtshof, mein Neffe ist unschuldig. Oder kann was auf die Aussage eines Menschen gegeben werden, der selbst schon – –«
»Darüber haben Sie nicht zu befinden,« verwies der Präsident mit Schärfe. »Sie können abtreten.«
»Herr Gerichtshof –«
»Ich ersuche Sie, abzutreten!« forderte der Präsident nachdrücklich.
Detlev Kruse zog die Schultern hoch, schnitt Grimasse und zog sich ungewiß zurück.
»Der Zeuge Lohr ist vorzurufen. Den Zeugen von Herbrinck bitte ich, Platz zu nehmen.«
Lohr belastete den Angeklagten ebenfalls, wenn er auch nichts Neues mehr zu bekunden vermochte. In all seiner Befangenheit empfand er eine drückende Sorge um den Schwager, dessen Bloßstellung ihm noch unbekannt war, dessen Aussehen ihn aber erschreckte.
Als seine Vernehmung beendet war, zog er vor, sich still aus dem Saale zu entfernen und den Schluß der Sitzung auf dem Korridor abzuwarten.
Die Ausführungen des Staatsanwaltes ließen eine das Publikum angenehm berührende Sympathie für den Hauptzeugen nicht verkennen.
»Der Angeklagte leugnet,« sagte er zum Schluß.
»Das kennen wir. Der verstockte Verbrecher leugnet ja immer. ›Ick bün dat ni west!‹ – es ist der immer wiederkehrende Spruch, in dem er sein Heil sucht. Aber er ist es doch gewesen, und alle seine Ausflüchte nützen ihm nichts. Allerdings: der Hauptbelastungszeuge hat ihm eine Ohrfeige gegeben, die weder nötig noch erlaubt und nur mit der Erregung des Augenblicks zu entschuldigen war. Ich behaupte aber, daß sie den Burschen nicht beeinflußt und ihn keineswegs zu dem Geständnis bewogen hat. ›Ich will's nicht wieder tun,‹ hat der Ueberraschte gejammert. Ja, das ist genau seine Sprache; das ist das ungezwungene Bekenntnis und die jammernde Bitte des beschränkten, unreifen Jungen. Er floh, als er sich verfolgt sah, und versteckte sich; er heulte und bat, als er erwischt war. Der Ohrfeige bedurfte es nicht, sondern die Schuld selbst war es, die ihm die Zunge löste. Und dieses Bekenntnis lasse ich mir nicht nehmen, die Verteidigung mag dagegen anführen was sie will. Auch die Glaubwürdigkeit des Belastungszeugen von Herbrinck lasse ich nicht antasten. Freilich: der Herr Zeuge ist in seiner Jugend gestrauchelt. Aber muß ich daran erinnern, daß die Jugend stürmt? Und muß ich noch betonen, daß der Mann, den der Graf in warmer Anerkennung seine rechte Hand nannte, ein halbes Menschenleben ehrlicher, wahrhaft tüchtiger Arbeit hinter sich und damit gesühnt und versöhnt hat? Fallen ist leicht, sich aufrichten ist schwer. Ich glaube dem Zeugen aufs Wort, und ich bedauere, daß eine vergessene Schuld ausgegraben worden ist. Das soll kein Vorwurf gegen die Verteidigung sein, die ihr Recht ausgeübt hat. Dem Zeugen meine Sympathie zum Ausdruck zu bringen, ist aber mein Recht. Für den Angeklagten habe ich keine Milde übrig. Er hat tückisch gehandelt, und er ist verstockt. Ich bitte die Herren Geschworenen, ihn schuldig zu sprechen.«
Der Verteidiger suchte die Enthüllung über den Zeugen Herbrinck auszunützen, das Schuldbekenntnis zu entkräften und Freisprechung zu erwirken. Zum mindesten seien, wenn gegen Erwarten ein Schuldspruch erfolgen sollte, dem Angeklagten auf Grund der Reizungen mildernde Umstände zuzubilligen.
Das Plaidoyer war breit und gegen den unbequemen Zeugen rücksichtslos. Es mangelte ihm aber an der Kraft, die die Rede des Anklägers ausgezeichnet hatte, und von der auch dessen kurze, energische Replik getragen wurde. Die Duplik des Anwalts fiel noch matter aus, und als nach der Fragestellung und Rechtsbelehrung die Geschworenen sich zur Beratung zurückzogen, galt ihr Verdikt im Publikum nicht als zweifelhaft.
Der Wahrspruch der Geschworenen lautete auf Schuldig unter Zubilligung mildernder Umstände, das Urteil des Gerichtshofes auf ein Jahr Gefängnis.
Vor dem Gerichtsgebäude kam es zu einer lebhaften Szene. »Na, wenn ich nicht gewesen wäre,« prahlte Detlev Kruse, »ganz anders hätten sie ihn verknackt!«
Eine Entrüstung über die Verurteilung eines Unschuldigen schien ihm nicht einzufallen.
»Sie sind ein ganz erbärmlicher Schubbejack!« tönte es ihm entgegen.
»Sie bemalte Kulissenfratze!« hieß es von anderer Seite.
»Wat wüll de schmerige Hanswurst?« fragte ein grollender Bierbaß.
Der tapfere Lindwurm trollte sich etwas verblüfft aus der drohenden Umgebung. Erst in sicherer Entfernung fand er ein verächtliches Lachen über den dämlichen Plebs.
»War das nicht der dumme August, der Lindwurm aus der ›Stadt Hamburg‹, früher einmal in der Walhalla?« wurde nachgeforscht.
»Richtig!« hieß es zustimmend. »Da müssen wir hin und den auspfeifen, daß ihm Hören und Sehen vergeht.«