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Vierzehntes Kapitel.

Graf Luckner konnte die Ankunft des Briefträgers nicht erwarten. Er schickte einen reitenden Boten nach dem Reickendorfer Bahnhof und suchte sich bis zu dessen Rückkunft die Zeit durch unruhige Wirtschaftsgänge zu vertreiben.

Die Leute in den Ställen und Scheunen gingen wie gewöhnlich ihren Beschäftigungen nach; aber eine gewisse Bedrücktheit und Unruhe unter ihnen schien darauf hinzudeuten, daß die Kunde von den Kieler Vorgängen auch in ihre Reihen gedrungen war und ihre Wirkung nicht verfehlt hatte. Den Grafen reizte es, den einen oder anderen von ihnen anzusprechen; aber das Wort blieb ihm stets wieder stecken, und ohne Vertraulichkeit, jedoch auch ohne die üblichen Aussetzungen, ging er stumm seines Weges.

Mehr als ein halbes Dutzendmal sah er nach der Zeit, und als endlich der Bote in scharfem Trabe auf dem Reickendorfer Wege auftauchte, schritt er ihm ungeduldig entgegen.

Der Bote überreichte ihm die für wichtige Fälle vorhandene verschlossene Posttasche, und Luckner wühlte in seinen Kleidertaschen nach dem Schlüssel, ohne ihn zu finden. Er mußte ihn auf seinem Schreibtisch liegen gelassen haben, und eilig strebte er dem Schlosse zu. Dabei barg er die Tasche unter seiner Jagdjoppe, damit sie nicht etwaigen Beobachtern, besonders den Töchtern, auffallen sollte. Beim Oeffnen und ersten Lesen wollte er allein sein, und zur Vorsicht schloß er auch noch die Türen zu seinem Arbeitskabinett ab.

Minutenlang hielt er den Schlüssel in der Hand, ohne die Tasche zu berühren. Würde ein Brief von Herbrinck dabei sein – oder würde er noch fehlen? Endlich verwandelte er das quälende Zögern in rasches Handeln. – Die üblichen Zeitungen fielen ihm in die Hände und obenauf eine Anzahl von Briefen. Gottlob, gleich auf dem ersten erkannte er die Handschrift Herbrincks und ließ die übrigen achtlos beiseite gleiten.

Eine blaue Marke – ein Doppelbrief, auch nach dem Gewicht.

Sorgsam trennte er den weißen, starken Umschlag auf, erfaßte mehrere engbeschriebene Bogen und ließ sich zum Lesen am Schreibtisch nieder.

Die Handschrift war deutlich und fest, und die Strichstärke deutete auf die Benutzung einer breit abgestumpften Feder hin, wie Herbrinck sie liebte und fast stets bei sich zu führen pflegte.

Die gradlinigen Zeilen und die bekannten energischen, künstlerisch gerundeten und doch einfachen Schriftzüge heimelten den Grafen an und flößten ihm zugleich eine Art froher Zuversicht ein.

Die konventionelle Schreibweise am Beginne des Brieses überraschte ihn nicht weiter. Wie er Herbrincks Charakter kannte, hatte er eine andere Ausdrucksweise nicht erwarten können.

»Hochverehrter Herr Graf!« schrieb der Ferne. »Ich stehe noch unter dem Eindrucke des Erlebten, und es wird einer langen Zeit der Sammlung bedürfen, ehe ich über die Frage ins Reine komme, wie ich mein ferneres Leben zu gestalten und wohin ich die Schritte zu lenken habe. Was ich mir bereits telegraphisch anzudeuten erlaubte, bleibt natürlich als Richtschnur bestehen: eine Rückkehr in den alten Wirkungskreis ist, so teuer er mir geworden war, in Rücksicht auf Sie und auf mich nicht mehr möglich. Ich habe jedoch noch eine zweifache Aufgabe zu erfüllen, deren Lösung durch diese meine Zeilen Ihre Güte mir nicht versagen wird.

Ich habe zuerst Ihre gnädige Nachsicht dafür zu erbitten, daß ich nach der Verhandlung weder zu Ihnen gekommen bin noch Ihnen, wenn auch kurz, brieflich Nachricht gegeben habe. Sie haben meiner geharrt. Leiten Sie die Verzeihung für mich aus dem Umstande her, daß ich aufs tiefste erschüttert war und in der seelischen Ueberreizung nur den einen Ausweg zu finden vermochte, den ich eingeschlagen habe.

Sie haben mir, seit ich die Ehre hatte, in Ihren Diensten zu stehen, so viel Hochherzigkeit bewiesen, daß ich der Zuversicht leben darf, mir so viel von Ihrer Sympathie erhalten zu sehen, als zur Vergebung nötig ist. Genehmigen Sie dafür meinen gehorsamen Dank!

Die zweite Aufgabe wird mir schwerer. Ihre Lösung erfordert eine breitere Darstellung und damit eine Inanspruchnahme Ihrer Zeit, die leider zugleich Ihre Geduld erschöpfen dürfte. Ich bin aber von dem Bewußtsein meiner Schuld nicht so tief durchdrungen, daß ich dem Versuche einer teilweisen Rechtfertigung widerstehen könnte. Selbstverständlich: es ist eine Beruhigung vor meinem eigenen Gewissen; in Ihre Ueberzeugung will ich mich nicht eindrängen. Sie find Offizier gewesen und Sie haben als solcher im Punkte der Ehre Anschauungen, die noch strenger sind als die im bürgerlichen Leben. Ich habe erfahren müssen, daß ich schon von den letzteren verurteilt wurde, und ich werde mich nicht der Gefahr aussetzen, den schärferen Spruch aus Ihrem Munde zu hören. Nur erläutern möchte ich, nur das rein Menschliche meines Fehls zu meiner Erleichterung erzählen. Ich enthebe Sie im voraus jeder Antwort. Und ich bitte Sie geradezu, mir das Scheiden nicht durch eine erneute Güte erschweren zu wollen.

Wie schon in der Gerichtsverhandlung zur Sprache gekommen ist, stand meine Wiege auf einem Gute in der Neumark. Den Namen zu wiederholen, darf ich mir ersparen, weil das ehemalige väterliche Besitztum lange in fremde Hände übergegangen ist, und selbst der Name Herbrinck auf der heimatlichen Scholle längst vergessen sein dürfte.

Ich verlebte eine Kindheit, die von Liebe umhegt war. Die Augen haben sich mir oft mit Tränen gefüllt, wenn ich als ein vereinsamter Mann der Freuden und Hoffnungen meiner Jugend gedachte, denen so viel an Leid und Fehlschlägen gefolgt ist. Man spricht von goldener Jugend; in meinem Erinnern ist sie das reinste geblieben, was mir das Leben geschenkt hat. Mein vortrefflicher Vater, meine unvergleichlich gütige Mutter sind mir die teuersten Menschen gewesen und leben geheiligt in meinem Gedächtnisse fort, wenn ich auch nur noch an ihren Grabeshügeln knieen und mit stummem Beten ihnen danken kann.

Ich besuchte ein Gymnasium in Berlin, und die Ferien, die ich daheim verbringen konnte, waren mir Feste höchster Freude.

Im achtzehnten Lebensjahre bezog ich eine landwirtschaftliche Hochschule, und in den Herbstferien feierte ich mit den Eltern ein glückliches Wiedersehen nach der ersten längeren, halbjährigen Trennung.

Mein Vater war ein leidenschaftlicher Taubenliebhaber, und einem jungen Schulgenossen hatte ich die Freude zu danken, daß ich ihm drei Paar Kreuztauben mitbringen konnte, die in seinem Schlage nicht vertreten waren. Die Tiere gewöhnten sich rasch ein und wurden unter der von allen Seiten geteilten Pflege bald so zutraulich, daß sie jedem, der sich mit Futter sehen ließ, auf den Arm flogen und ihm aus der Hand pickten.

Die Zutraulichkeit der Tiere machte sich zu Ende der Erntezeit ein Herumstreicher zunutze, der das Gewerbe eines Hausierers betrieb, zugleich aber als Langfinger gefürchtet war. Auch mir war er nur zu gut bekannt, hatte ich doch als Junge ihn oft auf Schritt und Tritt beobachtend verfolgt, solange er sich auf dem Gutshofe oder in verdächtiger Nähe aufhielt.

Nach einem Jagdgange auf wechselndes Rotwild sah ich den Stromer unvermutet vor mir. Die Ueberraschung war eine gegenseitige und von keiner Seite eine freudige. Ich war mißtrauisch, der Mann erschreckt. Und mit Grund, wie ich bald entdeckte. Es war schon vorgerückter Abend, aber die zu Ende gehenden Erntearbeiten hatten die Leute bis spät vom Gutshofe ferngehalten und dem ›Händler‹ Gelegenheit gegeben, seinem Diebeshandwerk nachzugehen. Seine Beute waren die Kreuztauben geworden, die ihm arglos zugeflogen und eine nach der andern mit umgedrehtem Halse in seinen Rucksack gewandert waren. Alle – alle sechs. Ich stand zuerst von Bedauern gelähmt, aber dann sprang ich, als der Mann flüchten wollte, auf ihn zu, packte ihn am Halse und wollte ihn zwingen, mir zurück nach dem Hofe zu folgen. Der Hitze wegen hatte ich meine Joppe geöffnet, und im Ringen faßte der Dieb mit raschem Griff auch nach Kette und Uhr, stieß mich so gewaltsam zur Seite, daß ich taumelte, und flüchtete mit der doppelten Beute.

Die Szene steht so deutlich vor mir, als ob nicht Jahrzehnte seitdem vergangen wären, sondern sie sich erst gestern ereignet hätte. Sekundenlang stand ich halb betäubt und sah dem Fliehenden nach. Dann packte mich ein flammender Jähzorn. Ich riß das Gewehr an die Backe und wollte feuern. Aber weil der Mann floh, ließ ich es, lehnte das Gewehr halb verdeckt in ein Buschwerk und folgte dem Diebe in stolperndem Laufe. Kreuz und quer wich er mir aus, bis ich keuchend und besinnungslos den Hirschfänger zog und mit blindem Schlage auf ihn einhieb.

Die Uhr war ein Geschenk meines Vaters, die Kette von meiner Mutter. Ich hätte keine ruhige Stunde mehr gefunden, wenn ich sie hätte missen sollen.

Ich trage sie bis heute, und ihr Besitz ist mir ein Trost gewesen, wenn das aus der Erinnerung steigende Leid mich zu überwältigen drohte.

Der dritte Schlag hatte getroffen. Der Dieb schlug jäh zu Boden. Ich riß mein Eigentum an mich, suchte mein Gewehr, feuerte beide Läufe ab und rief um Hilfe.

Mein Vater war der erste, der hinzukam, ihm folgten mehrere Leute.

Mein Vater übersah, ohne viel zu fragen, was geschehen war. Die Ergänzung hörte er aus meinem fliegenden Berichte.

Der Dieb wurde nach dem Hofe getragen und in Pflege genommen. Ein Arzt kam. Das eine Ohr war verloren, das stand bald fest. Später ergab sich Taubheit.

Ich hörte keinen Vorwurf: nicht von den Eltern und nicht von den Leuten. Die letzteren meinten, dem Strolch sei nur sein Recht geschehen.

Der Dieb selbst machte die gerichtliche Verfolgung anhängig.

Eine langwierige Untersuchung, zahllose Verhöre.

Ich konnte nicht auf die Hochschule zurückkehren; ich mußte den Ausgang abwarten.

Und der Ausgang war ein niederschmetternder.

Meine Jugend milderte das Vergehen; die freche Dieberei des Verletzten fiel zu meinen Gunsten in die Wagschale. Aber ich hätte dem Wehrlosen gegenüber nicht von Hinterrücks die Waffe anwenden sollen. Das machte mich schuldig. Schuldig der Körperverletzung.

Ich will nichts beschönigen. Ich war schuldig vor dem Gesetz und – schlimmer – vor mir selbst. Nicht die Kindesliebe und nicht der Jähzorn allein hatten mir die Waffe geführt; auch der junkerhafte Stolz des reichen Gutssohnes gegenüber dem bettlerhaften, verachteten Händler hatte mich die Waffe brauchen lassen, wohl unbedacht und in der Erregung, aber auch rücksichtslos und in kindisch dünkelhafter Ueberhebung. Das war mein sittlicher Fehl.

Ich lernte das Gefängnis kennen. Zwei Wochen lang.

Mein Vater brachte mich hin und holte mich ab. Liebevoll verabschiedete er sich, voll Liebe zog er den der Freiheit Zurückgegebenen an sich.

Die Mutter klagte nicht. Sie war weicher und gütiger als je.

Aber beide litten.

Das theoretische Studium war mir verschlossen; so lernte ich praktisch.

Nach zwei Jahren erkrankte mein Vater. Auf dem Sterbelager umschloß seine fiebernde Hand die meine, und seine letzten Worte waren: ›Du hast gelernt, mein Sohn. Bleibe deiner Mutter eine treue Stütze, bis auch sie die Augen schließt. Bereue nicht; die Reue macht nicht ungeschehen. Handele und schaffe Gutes.‹

Meine Mutter lebte noch drei Jahre. Als sie für mich um die Tochter einer benachbarten Familie geworben hatte und abgewiesen worden war, erbleichte ihr Haar zum Schneeweiß. Die Züge blieben jung, das treue Auge strahlte, der Mund sprach gute Worte; aber das Herz krankte, bis es in einer Sommernacht plötzlich zu schlagen aufhörte. Die Sonne ging purpurn auf; aus dem duftenden Park wehte der süße Schlag der Nachtigall ins Sterbegemach. Ich sah ein letztes Lächeln auf dem heiligen, leuchtenden Antlitz, hörte den letzten Hauch der Scheidenden – und sank, ein Einsamer, wund und gebrochen, an dem Totenlager in die Kniee ...

Ein Ebenholzkästchen barg neben den Liebesbriefen des Vaters ihren Abschiedsgruß an mich.

Ich habe die schlichten Zeilen so oft gelesen, daß ich sie auswendig weiß.

Die einst so schöne, zierliche Handschrift war kraus und zitterig.

›Mein einziger, teurer Sohn!‹ lautete die Anrede. ›Ich will Dir das Herz nicht schwer machen mit dem Gedanken, daß ich nun auch von Dir gehen muß. Aber ich fühle, daß ich Deinem Vater bald folgen werde, und wenn ich ihn wiedersehe, will ich ihm sagen können, daß ich auch den letzten Wunsch, den er mir als sein Vermächtnis hinterließ, treu erfüllt habe. Mein Sohn, für uns ist Dein Gewissen rein geblieben, wenn auch Deine Hand gefehlt haben mag. Nur das Gesetz, das nach dem Buchstaben geht, richtete Dich; nur die Welt, die in Dein Inneres nicht hineinsehen konnte, verurteilte Dich und trägt Dir nach. Das habe ich erlebt, das sah Dein Vater zu seinem Schmerze kommen. Und der Sorge um Dich, mein Kind, ist seine letzte Bitte entsprossen, die er mir zugeflüstert hat: möge unser Sohn, wenn wir beide heimgegangen sind, sich eine neue Heimat suchen, in der er fest und glücklich wurzeln kann und nicht befürchten muß, die Vergangenheit mit dem wesenlos schleichenden Schatten sich neu beleben zu sehen. Mein teurer Sohn, tue nach den Wünschen Deines Vaters, die auch die meinigen sind, und der Himmel schütte seine Gnade über Dich aus, daß Du glücklich wirst, wie Deine Eltern es durch Dich gewesen sind.‹

Darunter das einfache: ›Deine Mutter‹ und ein Datum, wenige Wochen vor ihrem Tode.

Herr Graf, der Einsame hat das Gebot der Eltern erfüllt.

Ich bin in die Ferne gewandert.

Auf einem ostpreußischen Gute habe ich mir die Achtung der alten Herrschaft und der beiden Söhne erworben, von denen der jüngste zu Ihren Potsdamer Kameraden zählte, derselbe, der seine freundschaftliche Gesinnung dadurch dokumentierte, daß er mich an Sie empfahl, als der ältere Bruder das Erbe antrat und ich mich überflüssig glauben durfte.

Bei Ihnen hatte der Einsame zu der Befriedigung in der Arbeit das gefunden, was ihm nötig war und nach dem Wunsche der teuren Toten glücklich machte: Achtung und Freundschaft.

Herr Graf, mein Dankgefühl strömt aus tiefem, übervollem Herzen. Habe ich getan, was in meiner Kraft stand – Sie haben weit mehr gegeben, als ich verdient hatte! Zehn lange Jahre hat mich Ihr Vertrauen geehrt, das Sie zuletzt noch mit dem gütigsten Akt der Freundschaft zu erhärten wußten – Dank, unauslöschlichen Dank für immer!

Das Vermächtnis meiner Mutter hatte mir die Augen geöffnet, wie viel schmerzlicher meine Eltern gelitten hatten, als ich es je geahnt; das Zwischenspiel in dem Kieler Drama hat mich gelehrt, daß der gespenstische Schatten mir folgen wird, bis einst der Tod ihn hinwegtilgt.

Ich will ihm nicht mehr fliehen, will mich nicht mehr auflehnen. Nur fassen kann ich es nicht, warum es sein muß.

Wir haben uns schon einmal darüber unterhalten, und Sie ahnten nicht, wie nahe ich selbst beteiligt war. Aber was ich damals sagte, kann ich nur wiederholen: ›Eine Strafe und eine Sühne‹ – nein, das sind die Worte der gnädigen Komteß, die sich mir unvergeßlich eingeprägt haben. Ich wiederhole ergänzend: der Strafe muß der Fluch genommen werden, daß sie nicht den nur flüchtig Gestrauchelten oder den wieder ehrlich Gewordenen lebenslang umdroht; es muß ein Schutzdamm geschaffen werden, daß sie ihn nicht jeden Augenblick wieder mit sich in den Abgrund hinabreißen kann; es muß für Strafe und Sühne ein Wirklichkeitsgehalt gefunden werden, der beide unlöslich miteinander verbindet, eins mit dem anderen verschmelzen läßt!

Die Strafe, die keine Sühne ist, ist eine illegale Verdammung bis in den Tod, die jeden Augenblick und bei jedem Anlasse neu in Kraft treten kann und die härter ist als die legale, der wenigstens noch die Gnade ein zeitliches Ziel zu setzen vermag! Sie ist eine sinnlose Peinigung, weil sie gerade den, der in ehrlichem Mühen gut gemacht hat, stündlich nutzloser Quälerei oder vollabsichtlicher Bosheit neu preisgibt.

Ich will zum Schlusse kommen.

Ich weiß nicht, wie weit Sie mich nach meinem Bekenntnis entlasten; ich weiß nur, daß ich Sie zu meiden habe. Habe ich mir nach Ihren strengen Ehrbegriffen Ihre Achtung verscherzt, Ihr Bedauern werden Sie mir nicht versagen wollen. Und wenn ich hoffen darf, daß Sie noch der Komteß Helene Einsicht in meine Beichte gewähren, so will ich dankbar und zufrieden sein. Verzeihung! Ich habe das Kind zu einer selten edlen Menschenblüte sich entfalten sehen, und ich möchte nicht, daß mein Scheiden ihre Erinnerung an mich bis zur Entstellung trübt. Meine Bitte um vergebende Güte ist deshalb auch an sie gerichtet.

Meine Möbel wollen Sie, Herr Graf, zum Besten der Arbeiterschaft von Timmhusen versteigern lassen oder Löhr damit beauftragen. Nur den Schreibtisch bitte ich mir auszuhändigen und ihn an die Firma Schumann & Co. in Berlin SW., Kochstraße 18, zu adressieren. Er enthält Andenken an meine Eltern und Papiere, die ich nicht entbehren kann.

Ich habe noch eins vergessen: Für den von mir verletzten Hausierer ist durch meine Eltern und durch mich gesorgt worden.

Leben Sie wohl, Herr Graf. Ich habe das brüderliche Du nicht mehr anwenden können; aber es ist der Gipfel meines freudigen Glückes gewesen. Die Dankbarkeit gegen Sie bleibt für immer in meinem Herzen eingegraben.

Gott mit Ihnen und den Ihren und den Freunden!

Hans von Herbrinck.«

 

Graf Luckner hatte mit gespannter Aufmerksamkeit gelesen, ohne auch nur einmal abzusetzen. Daß der Brief die menschliche Rechtfertigung Herbrincks enthalten würde, war seine feste Hoffnung gewesen; je mehr er diese bestätigt fand, um so hastiger las er in seiner Genugtuung weiter.

Als er zu Ende war, schob er auch den letzten Bogen zu den übrigen auf dem Schreibtisch, lehnte sich selbstvergessen in den bequemen Sessel und nickte und lächelte voll Befriedigung vor sich hin.

Dann sprang er lebhaft auf, drehte die Schlüssel in den Türen zurück und eilte nach dem Salon, wo er auf die Töchter traf.

»Lene, bitte!« rief er der Jüngsten zu, faßte, als sie herangekommen war, nach ihrer Hand und zog sie mit sich. »Lene.« raunte er freudig, »Brief von Herbrinck! Ein Brief, der alles ausgleicht.«

Das Blut ergoß sich jäh in die Wangen der Komteß, und ihr Fuß stockte sekundenlang.

»Es ist noch manches zu ordnen,« fuhr Luckner fort. »Aber die Hauptsache: der Schatten auf unserem Freunde ist keiner, ist nun und nimmer einer, der ihm unsere Herzensachtung auch nur einen Moment trüben dürfte.«

Er wies in seinem Arbeitszimmer auf die Bogen, nahm sie auf und reichte sie der Tochter entgegen. Dann wanderte er, während die Komteß sich in das Schreiben vertiefte, erregt in dem Raume auf und ab.

Die Komteß konnte einen hellen Jubel kaum unterdrücken, ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Die Augen strahlten durch feuchtes Schimmern, und um die bebenden Lippen spielte ein hinreißend glückliches Lächeln.

»Papa, war das Urteil nicht zu hart gegen ihn?« fragte sie und drückte schon mit der einfachen Fragestellung und noch mehr mit dem Tone aus, auf wessen Seite sie sich stellte.

»Natürlich, mein Kind,« sagte der Graf lebhaft. »Der würde kein Fünkchen von Wahrheitsliebe im Leibe haben, der da behaupten wollte, er hätte an seiner Stelle unbedingt anders gehandelt. Ich nicht! Und wenn er das Gewehr gebraucht hätte, es wäre entschuldbar gewesen. Und wenn der doppelte Räuber gefallen wäre, um sich nicht wieder zu erheben – er hätte nichts gehabt als seinen Lohn. Statt dessen ist er versorgt worden – versorgt für seine Spitzbüberei und Schurkerei. Aber auch das sieht Herbrinck ähnlich. Selbst vermeintliches Unrecht muß er mehr als reichlich wett machen. Freilich, der Mann floh, und Herbrinck schlug – – a bah! Lene, mir soll jemand kommen, der auf den einen Stein zu werfen wagt, und wenn es mein eigenes Fleisch und Blut ist! Du nicht – du nicht – aber die andere! Sie soll es wagen!«

»Papa, Eveline wird sich beruhigen.«

»Das rate ich ihr! Denn eher weicht sie, als daß ich mir den Mann entreißen lasse, der – – Lene, was brauche ich es dir zu predigen –«

»Und – wenn er nicht wiederkommt?« fragte das Mädchen leise und stockend.

Luckner blieb vor ihr stehen.

»Nicht wiederkommen?« wiederholte er ihre Frage. »Mein Kind, ich werde ihn holen,« erklärte er mit einer geraden, herzlichen Entschiedenheit. »Er hält seinen Aufenthalt verborgen; ich werde ihn zu finden wissen. Er glaubt, daß wir ein grausames Vorurteil akzeptiert haben; ich werde ihm zeigen, daß die Bande der Dankbarkeit und Freundschaft nicht durch einen zopfigen und verstaubten Aktenwitz zu zerstören sind. Er will, was ihm lieb ist, in Berlin in Empfang nehmen; mir selbst soll er gegenübertreten. Lene, nimm den Brief und unterrichte deine Schwester. Warne sie, das Maß zum Ueberlaufen zu bringen.«

Ein verhaltener Groll lag in seiner Stimme; aber gütig hauchte er einen Kuß auf die Stirn der Jüngsten und blieb noch immer ahnungslos, was das junge Herz aufs neue in Freude und Schmerz erzittern ließ.

Die Zeitungen hatte er bis dahin nicht beachtet. Nun suchte er nach dem Kieler Blatt und stieß bald aus den Artikel der Abendausgabe.

»Ah, der Schminkaffe hat wieder die Hände im Spiel gehabt?« Er stampfte mit dem Fuß auf.

»Kröte!« zischte er. »Nur gut, daß du dein Gift umsonst verspritzt hast ... Sehr richtig!« unterbrach er sich wiederholt beim Weiterlesen. »Ganz in meinem Sinne,« sagte er am Schlusse liebevoll, faltete das Blatt zusammen und legte es sorglich unter einen Briefbeschwerer. »Gibt auch Vernünftige unter den Zeitungsmenschen. Ist erfreulich, wenn so ein klarer Kopf kommt und der dämligen Masse ein Licht aufsteckt. Und die Artikel, die noch kommen sollen – eine glückliche Idee.«

Er überlegte, wann er am besten fahren würde. Die Ungeduld hätte ihn am liebsten gleich fortgetrieben. Aber die Erwägung siegte, daß die zu frühe Abfahrt die Wartezeit in Berlin nur verlängern würde. Er suchte nach dem Umschlag des Herbrinckschen Briefes und las den Poststempel ›Hamburg‹. Also er hatte sich noch in der alten Hansestadt aufgehalten, war vielleicht noch dort und reiste erst nach der Reichshauptstadt, wenn er das dorthin Beorderte eingetroffen wähnen konnte.

Auch die Herrschaften von Tönndorp und Neurade rieten von einer Ueberstürzung ab, so lebhaft sie auch den Wunsch des Grafen teilten, den Freund wieder im alten Kreise zu begrüßen.

»Luckner, ich will ein Hundsfott sein,« sagte Tönndorp sprudelnd, »wenn ich den erbärmlichen Wicht anders zugerichtet hätte, als es Herbrinck getan hat!«

Seine Gattin nickte ihm beifällig zu.

»Ich habe keine Anlage zum Raufen,« warf Menge ein, »aber die Fingerspitzen jucken mir, wenn ich an den Theaterhelden und seine nichtswürdige Rolle denke. Es hat mir leid getan, aber ich habe den Kruses nun doch gekündigt. Die Alten, die einen solchen Sohn haben, können selbst auch nicht gesund sein. Sie sind – das legt der ehrenwerte Bruder und Schwager nahe – selbst schon aus krankem Boden aufgeschossen. Das anrüchige Beispiel tut aber nicht gut, und deshalb mußte ich sie im Interesse meiner übrigen Leute gehen heißen.«

»Schade, daß sie nicht damals gleich mit dem nächsten Schnellzuge abgedampft sind.« meinte Luckner ohne Vorwurf. »Meilen zurückzulegen wäre der Bengel gewiß zu faul gewesen, und der ganze Rummel wäre uns erspart geblieben. Lieber Menge, Sie und Herbrinck sind zu gut. Das ist beider Fehler. Die Humanität ist eine bestechende Phrase. Rücksichtslos, das ist meine Parole. Die Leute werden bezahlt und sollen dafür ihre Schuldigkeit tun, weiter will ich nichts. Auf Billigung, Anerkennung oder gar Dankbarkeit verzichte ich. Dankbarkeit! – bah! Als ob es die gäbe. Oder nur Anhänglichkeit! Jeder, der den anderen überwacht, ist sein Peiniger, ist sein mehr oder minder verhaßter Gegner. Ob er gerecht ist, ob er das Beste will, ob er sogar mit dem Herzen teilnimmt – das ist eine Zugabe, für die der Ueberwachte keine Würdigung hat.«

»Wir wollen nicht darüber streiten,« mischte sich die Neurader Gutsherrin ein. »Das steht aber fest, Graf, daß Sie bärbeißiger tun, als Sie sind.«

»Bewahre,« stritt Luckner, »ich schnappe auch zu, meine gnädige Freundin –«

»Mit dem Munde,« neckte Tönndorp doppelsinnig.

»Na, mit der großen Zehe nicht,« lenkte Luckner in den Scherz ein. »Der Große Friedrich war ein Despot und hat sein Königreich auf eine nie geahnte Höhe gehoben.«

»Der erste Wilhelm,« parierte Menge ernster, als es vielleicht klingen sollte, »war die verkörperte Milde und Güte und hat ein großes Kaiserreich geschaffen.«

»Na ja,« gab Luckner nach. »Jeder in seiner Weise. Ich will ja auch gegen Herbrinck nichts gesagt haben, und wenn er wieder an seiner Stelle steht – na, umkrempeln kann ich ihn nicht. Will ich auch nicht.« Er ging wieder zum engeren Thema über: »Ich glaube, ich fahre doch morgen. Meine Eile, ihn aufzusuchen, wird ihm auch wohltun. Und ich habe eine gewisse Beruhigung.«

»Ob es sich nicht empfiehlt, unter der Adresse der Berliner Firma eine Depesche an Herbrinck zu richten?« fragte Menge.

Luckner war bestimmt dagegen.

»Nein, Menge. Die Wunde, die von neuem aufgerissen ist, ist nie ganz geheilt gewesen. Herbrinck hat nach seinem Briefe und nach dem, was zwischen den Zeilen steht, bös daran getragen. Seine Sensibilität ist gegenwärtig geradezu krankhaft gesteigert, und die Depesche könnte ihn womöglich veranlassen, in der übertriebenen Reizung sich nur noch ängstlicher zurückzuziehen. Nein, Auge in Auge – da getraue ich mich, ihn wieder zu gewinnen.«

Der alte Siebenlist trat in den Salon und meldete:

»Zwei Arbeiter bitten, den Herrn Grafen sprechen zu dürfen.«

Luckner fuhr unwillig auf.

»Sie sehen, ich habe Besuch. Sie sollen wiederkommen.«

»Wir nehmen es nicht übel, wenn wir einen Augenblick auf deine liebenswürdige Gesellschaft verzichten müssen,« redete Tönndorp zu.

»Welche sind es denn?« fragte Luckner übellaunig.

»Suhr und Tabbeck, Herr Graf.«

»So, der Rote und der ewig Wehleidige. Und was wollen sie?«

Der alte Diener zuckte die Achseln.

»Führen Sie sie in mein Zimmer!« entschied Luckner kurz. Nach einigen Minuten ging er.

»Na –?« fragte er und musterte die beiden Leute mißtrauisch.

Jörgen Tabbeck stand die kaum überwundene Krankheit noch auf dem mageren Gesichte geschrieben, und auch eine gewisse Aengstlichkeit vor dem Schloßherrn schien ihn zu bedrücken. Suhr hielt sich dagegen respektvoll, aber ernst und ruhig.

»Herr Graf,« nahm er das Wort und mühte sich, hochdeutsch zu sprechen, »wir sind man einfache Leute, aber wir wollten den Herrn Grafen beden, doch den Herrn von Herbrinck wieder tau uns tau nehmen. Was da in die dumme Zeitung gedruckt is, das is doch man all so'n Tügs. Wir kinnen Herrn von Herbrinck un wir glauben das nich. Un wenn es wahr is, dann macht das nichts, un wir halten doch zu ihm. Das wollten wir den Herrn Grafen man sagt haben.«

Luckner fühlte sich etwas wunderlich berührt.

»Kommen Sie im Auftrag auch der anderen?« fragte er.

»Ja, Herr Graf. Un wir haben auch gehört, daß Herr von Herbrinck schrewen hat, er wolle nu wegbleiben.«

»An wen hat er das geschrieben?«

»An sein Brut.«

»So? Gehen Sie nach Hause, Suhr. Und wenn Sie gefragt werden: Herbrinck kommt wieder – das können Sie allen sagen, die es wissen wollen.«

»Jo?« fragte Suhr mit Genugtuung. »Denn danken wir den Herrn Grafen auch.«

Luckner wandte sich halb widerstrebend an Tabbeck.

»Tabbeck, sind Sie wieder gutauf?«

Der Befragte drehte befangen an seiner Mütze.

»Es geiht so, Herr Graf.«

»Na, nicht überstürzen. Wenn'n Mensch nicht recht auf den Beinen ist, kann er nicht laufen, das weiß ich auch. Adieu, Tabbeck. Adieu, Suhr.«

Er winkte entlassend und schaute den beiden nach, als müsse er etwas an ihnen ergründen, was er noch nicht recht erfaßt hatte.

Kopfschüttelnd suchte er seine Gäste wieder auf.

»Ich glaube, die Kerle sorgen sich, daß ihnen der Brotkorb höher gehängt werden könnte,« äußerte er sich in Auflehnung gegen eine ihm dämmernde bessere Ueberzeugung.

»Was wollten sie denn?« fragte die Komteß.

»Ihre Vorsehung wieder haben.«

»Herrn von Herbrinck?« suchte sich die Komteß zu vergewissern.

»Eben den.«

»Brav!« sagte Tönndorp lobend.

»Was, brav!« stritt Luckner in dem alten Trotze. »Der Egoismus treibt sie, weiter nichts. Zu ihm wollen sie halten? Das glaube ich. Wenn die offene Hand auch voll ist, wird sie nicht gern losgelassen.«

» Der Egoismus ist gesund,« behauptete Tönndorp. »Wenn ich ein Fell zu verkaufen habe, gebe ich es auch am liebsten dem, der es mir nicht abhandeln, sondern bezahlen will.«

»Soll das etwa heißen, daß ich den Leuten ihr Recht verkürzen möchte?« fragte Luckner ohne Gereiztheit.

»Na, so genau wie Herbrinck weißt du nicht, wie das Korn zu verteilen ist.« meinte Tönndorp abmildernd. »Und so in ihre Lage versetzen kannst du dich auch nicht, wenn den Leuten mal der Schuh zu eng geraten ist, oder wenn kein Rauch aus dem Schornstein will, weil's auf dem Herd an Feuer fehlt. Wenn du mal an den Katen vorüberreitest, kannst du nicht durch die Wände sehen, was drinnen los ist. Herbrinck aber geht hinein, und damit ist er dir über. Das wissen die Leute auch, und darum fürchten sie, daß er geht und niemand mehr zu ihnen kommt. Etwas besser als du mache ich's immer noch, Luckner, wenn ich sonst auch willig anerkenne, daß du ein famoser Kerl bist. Hundertmal famoser, als du dich selbst hinstellst.«

Luckner lächelte ironisch.

»Meinen Dank, Verehrter. Du bist sehr gütig. Laß mir einen Augenblick zur Ueberlegung, mit welchem Kompliment ich dir wieder dienen kann. Ich bin mitunter schwerfällig.«

»Strenge dich nicht an,« riet Tönndorp freundschaftlich. »Im Skat bin ich dir überlegen, in allem andern du mir. Das ist ebenso kurz als erschöpfend.«

Luckner war schon nicht mehr bei der Sache. Seine Gedanken flogen nach dem Birkhause. An die Braut war also gleichfalls ein Schreiben eingegangen. Was brachte es? Wie hatte Sophie Lohr die Kieler Nachrichten aufgenommen? Und wie stellte sie sich zu Herbrincks Beichte, die doch sicher auch ihr Brief enthielt?

Ein lebhafter Drang, sich Gewißheit zu verschaffen, faßte ihn.

Er warf einen Blick auf die Wanduhr.

Sechs. Es konnte noch gehen, er konnte sie noch aufsuchen. Konnte Herbrincks Bericht ergänzen, sie auch mit seinem eigenen Urteil beruhigen.

Im Augenblick wandelte sich sein Wunsch zum Entschlusse.

Wenn auch das Mädchen ein Einsehen hatte, sein persönliches Eintreten für den Fernen würde der Situation vollends jedes Verletzende nehmen. Und wenn nicht ihr – ihm däuchte er auch das schuldig zu sein.

»Meine Herrschaften,« sagte er plötzlich, »wollen Sie mich noch einmal gnädig beurlauben?«

Tönndorp gab die Antwort.

»Wir werden uns zu behelfen suchen, Luckner.«

Wenige Minuten später lockte Hufschlag die Komteß Helene ans Fenster, und sie sah den Vater vom Hofe sprengen.

Eine Ahnung hatte sie horchen lassen, und der Augenschein bestätigte ihr, was ihr bis dahin nur in loser Vermutung aufgestiegen war. Ueber sein Ziel glaubte sie nicht zu irren.

Sie nahm weiter an der Unterhaltung teil; aber ihr Herzschlag blieb fast hörbar, und eine ihr selbst unerklärliche, fast angstvolle Spannung hielt sie gefangen.


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