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Es ist Lebensklugheit und Lebenskunst, aus allem, was uns das Leben bringt, und somit endlich aus dem Leben selbst das Beste zu machen. Nicht in der Weise, daß man sich vorbeidrückt an allem Ernsten und Schweren, und danach trachtet, sich das Leben so leicht wie möglich zu machen. Ein leichtes Leben ist durchaus nicht gleichbedeutend mit einem reichen und gesegneten Leben. Ich meine auch nicht die Klugheit der Biene, die aus allen Blüten den Honig saugt, das Gift aber darin läßt.
Ich meine die höhere Klugheit und die tiefere Kunst, die alles, was ihr begegnet, so anfaßt, daß es ihr diene, und so verwertet, daß es ihr nütze. Die sittliche Kraft eines starken und guten Herzens, die jeder Dunkelheit ein Licht zu entzünden, in jedem Häßlichen ein Schönes zu entdecken, Böses in Gutes zu kehren, und selbst aus Sünde und Unglück sich noch einen Segen zu finden weiß.
Es kommt nicht so sehr auf das Geschehen an, als auf den Menschen, der es erlebt.
Nun soll freilich alles Geschehen und Erleben, das Leben überhaupt, uns erst erziehen und zum richtigen Leben und Erleben uns tüchtig machen. Und mit solcher Erziehung ist es gerade so, wie mit jeder menschlichen Erziehung: bei dem einen, der erzogen werden soll, hat sie Erfolg – bei dem andern nicht. Es muß die Einsicht vorhanden sein, daß die Erziehung nötig ist, und der gute Wille, sich erziehen zu lassen.
Dem Leben gegenüber kommt es auf die Einsicht an, daß man sich ihm beugen muß, um es zu beherrschen. Zu beherrschen nicht seinen Gang – denn das ist selbst den Stärksten nicht immer möglich – sondern seine Wirkungen auf unsern inwendigen Menschen.
Wenn nun ein so großer Teil unsres Lebens durch Warten auf allerhand Großes und Kleines ausgefüllt ist, wenn wir mit solchem Warten soviel Kraft verbrauchen, wie sollten wir da gedankenlos an all diesem Warten vorübergehen, als wäre es nur ein lästiges Beiwerk und ohne Bedeutung für unsern inwendigen Menschen.
Man braucht nur zu sehen, wieviel Verdrossenheit, unmutige Ungeduld, Verzagtheit oder sträfliche Gleichgültigkeit die wartende Menschheit beherrschen, um die schädigende Wirkung zu erkennen, die das Warten haben kann auf den, der ihm gegenüber nicht den richtigen Standpunkt, oder überhaupt keinen Standpunkt einnimmt. Wer aber bemüht ist, die schädigenden Wirkungen des Wartens zu erkennen und zu verhindern, bei sich oder andern, der wird unfehlbar vordringen zu der weiteren Erkenntnis: daß das Warten einen Segen bringen kann dem, der da recht wartet.
Was heißt aber: recht, richtig warten?
Es gibt nichts, wovon mit einseitiger, absoluter Bestimmtheit gesagt werden kann: so oder so muß es gemacht werden, so oder so ist es richtig. Unsre innere Stellungnahme weist uns den Weg, auf dem wir uns den Dingen nähern, und die Art, sie zu behandeln. Von unsrer mehr oder weniger vorgeschrittenen sittlichen Reife wird diese Stellungnahme bestimmt werden.
Ein Kind wartet anders als ein Greis, ein Mächtiger anders als ein Ohnmächtiger, ein Herrenmensch anders als ein Märtyrer.
Jeder muß so warten, wie es den Verhältnissen und seiner Innerlichkeit entspricht, und kann so warten, daß er einen Segen davon gewinnt.
Der Segen des Wartens liegt nicht immer in seiner Erfüllung als einer sichtbaren Belohnung. Ob Erfüllung oder Enttäuschung – das ist eine Sache für sich. Das Warten als solches kann Segen oder Unsegen sein.
Manch einer, der auf ein Glück wartet, hat sich durch Unruhe und Zweifel, durch ständigen Wechsel von Verzagtheit und Zuversicht so zermürbt, daß er, wenn das Glück kam, gar nicht mehr imstande war, es zu genießen.
Und manch andrer hat auf ein Unglück gewartet, und gewann durch das Warten die Kraft, das Unglück würdig zu tragen.
Es gibt ein altes Lied, das sagt:
»Meine Seele ist wie ein Garten, drin Wunderblumen stehn.
Mein Leben ist nur ein Warten, erblühen sie zu sehn.«
Man kann es auch umgekehrt sagen:
»Mein Leben ist wie ein Garten,«
und:
»Meine Seele ist nur ein Warten.«
In beiden Fassungen steht mir das vor Augen, was ich als den Sinn und den Segen des Wartens erkannt zu haben glaube: die stille Festigkeit des Herzens und die freudige Zuversicht des Gemüts. Die gläubige Hingabe der Seele an die Wunder des Werdens, davon unser Leben voll ist.
Das alles ist gewiß nichts Neues. Solange es lachende und weinende, hoffende und enttäuschte Menschen gibt, solange wird geredet und geschrieben von Geduld und Ergebung, von Dankbarkeit in der Freude und Mäßigung im Schmerz, vom Ausharren in Hoffnung, vom Mut im Zweifel.
Daß all diese großen Dinge auch anwendbar sind auf die kleinen Geschehnisse und Prüfungen des Alltags, darüber wird wenig nachgedacht. Wer sich aber in den Kleinigkeiten des Lebens nicht erziehen läßt, der wird in den großen Dingen des Lebens leichtlich versagen. Aus morschen Fäden entsteht kein haltbares Seil, und Unzuverlässigkeit in kleinen Dingen gefährdet die große Sache.
Nicht immer ist Tag und Stunde der großen Dinge. Daß dieser Tag und diese Stunde dich bereit und tüchtig finde, wenn sie kommt, dafür wollen und sollen die kleinen Dinge sorgen.
Du sagst vielleicht: die kleinen Dinge sind es nicht wert, daß man so viel sittliche Kraft an sie wendet, sie so wichtig nimmt. Den wirklich großen und wichtigen Dingen wird man ganz von selbst anders gegenüberstehen.
Es mag Menschen geben, bei denen das zutrifft. Große Menschen haben auch ihre kleinen Schwächen, und jeder große Mann hat neben seiner offiziellen Geschichte seine »Kammerdienerchronik«. Aber ich glaube, daß hier der Weg ein umgekehrter ist: über die Beachtung der kleinen Dinge zur richtigen Erkenntnis und Leistung der großen Dinge, und dadurch erst wieder zu einer gewissen Nichtachtung der kleinen Dinge, die eben nur ein Großer sich erlauben darf.
Nun sind wir aber nicht alle berufen und befähigt. Große zu sein und Großes zu leisten. Und beim Durchschnittsmenschen ergibt erst die Übereinstimmung der Wertschätzung von großen und kleinen Dingen die Harmonie und Klarheit, die segensreich für das eigne Leben und wohltuend für die Umwelt ist.
Das Warten zumal besteht aus großen und kleinen Dingen. Niemals wirst du fähig sein, auf ein großes Glück oder ein großes Unglück würdig, d. h. kräftesammelnd statt kräftevergeudend zu warten, wenn du es nicht gelernt hast, in den kleinen Dingen des Wartens ruhig und vernünftig zu sein und einen gewissen Gleichmut zu bewahren – den gleichen Mut der Erfüllung wie der Enttäuschung gegenüber.
Es führt ein schmaler Pfad zwischen Abgrund und Gipfel. Gehe ihn ruhig; blicke festen Auges in die Tiefe, damit du nicht unversehens hineinstürzest. Blicke klaren Auges auf das Ziel, damit du es nicht aus den Augen verlierst. Passe deine Schritte dem Wege an – seiner Steilheit, seiner Mühseligkeit, seiner Länge. Halte haus mit deiner Kraft, vergeude sie nicht mit unruhigem Hin- und Herhasten, mit zwecklosem Vorwärtsstürmen. Denn willst du durch den Abgrund hindurch, so darfst du nicht darin umkommen, und willst du auf den Gipfel hinauf, so darfst du nicht an seiner letzten Wächte zerschellen.
Der Segen des rechten Wanderns auf dem Wege des Wartens ist der: daß du alle Schönheiten dieses Weges genießest, alle seine Mühsal, daran erstarkend, überwindest; daß du die Enttäuschung mit unverbrauchter Kraft zu neuem Warten überwindest, und daß du der Erfüllung ein wohlvorbereitetes Herz jubelvoll öffnest.
Auch auf dich ist einst gewartet worden im Leben; von deinen Eltern, von so manchen andern, die bereit waren, dich mit Liebe zu empfangen. Hast du wohl schon einmal daran gedacht, daß es an dir ist, diesem Warten den Segen erfüllter Hoffnungen und innerster Herzenswünsche zu geben?