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Dies ist ein schweres Kapitel, denn es heißt: Enttäuschung.
»Lieber zehnmal enttäuscht werden, als nichts mehr erwarten«, sagen die einen.
»Lieber nichts mehr erwarten, dann bleiben einem Enttäuschungen erspart«, sagen die andern.
Wer hat recht? – Beide, und keiner.
Denn das ist Sache des Temperaments, der Weltanschauung. Optimismus oder Pessimismus. Lebensbejahung oder Lebensverneinung.
So ist es auch bei mir Sache der Weltanschauung, daß ich zu dem ersteren halte. Nicht Sache des Temperaments, denn ich habe mir diese Weltanschauung gegen mein Temperament erkämpft, weil meine Erfahrung mich gelehrt hat, daß man weiter mit ihr kommt und glücklicher mit ihr ist. Und habe daran gesehen, daß man sein Temperament erziehen kann zur Einstellung auf die Erfahrung.
Wer nichts mehr erwartet, weil er nicht enttäuscht werden will, der gleicht einem Menschen, der seine Blumentöpfe nicht mehr in die Sonne trägt, weil sie ja doch abends untergeht. Die Pflanzen werden allmählich und sicher dabei verkümmern, während gerade der Wechsel von Sonne und Schatten, von Tag und Nacht das Belebende und Fördernde für sie ist, weil es das von der Natur gewollte, und darum die Bedingung ihres Gedeihens ist.
Wer nichts mehr erwartet, schaltet den Frohsinn aus seinem Leben aus, und geht seinen Weg im kalten Schatten philosophischer Ruhe, toter Resignation, seelentötenden Fatalismus.
Warten belebt, denn Warten ist Hoffnung. Und auch das traurige Warten hat eine belebende Wirkung, denn es erzeugt Kraft, und Kraft kommt aus Leben, aus gesteigertem Seelenleben, und bringt Leben, vertieftes Geistesleben.
Wer nichts mehr erwartet, der betrügt sich vielleicht um die reinsten Freuden seines Daseins, und um die segensreichsten Tage – um die bittersten Tränen der Enttäuschung. Denn Tränen sind für den Menschen, was der Regen für das Land ist.
Enttäuschungen sind bitter. Das Bitterste oft von allen Bitternissen dieses Lebens.
Du wartest vielleicht auf ein Kind, hast neun lange Monate gewartet, gehofft, und dich gefreut. Deine ganze Zukunft auf und für dieses Kind eingestellt. Und nun ist der erste Blick, den es in diese Welt tut, auch sein letzter gewesen. Aus der Stunde der Freude ist eine Stunde des Schmerzes geworden. Wäre es besser gewesen, du hättest die ganze Zeit mit dieser Möglichkeit gerechnet, dir immer gesagt: warte nicht auf ein Glück, ehe es dir nicht sicher im Arme liegt? Hättest dich all der süßen, stillen Freudenstunden beraubt aus einer Vorsicht, die Mangel an Vertrauen ist? Wird nicht eine Stunde kommen, wo du dir sagst: diese Enttäuschung ist vielleicht nur die Strafe für mein mangelndes Vertrauen, für meine kalte Weisheit?
Oder du wartest an einem Krankenbett auf Genesung. Wenn irgendwo, so gehört hier zum rechten Warten Glauben und Hoffnung. Wenn du dies rechte Warten nicht hast, so wird, ohne daß du es willst und weißt, deine Pflege eine weniger inbrünstige und darum weniger wirksame sein. Du wirst dem Schicksal allzusehr anheimstellen, was das Schicksal vielleicht gerade dir anheimstellen wollte. Du wirst nicht ringen mit dem Tode um seine Beute. Wenn er sie dann nimmt, wirst du vielleicht sehr gefaßt sein, denn du hattest ja schon längst »damit gerechnet«. Oh, solches Rechnen ist eine kalte Wissenschaft, und der Mensch ist mir lieber, der an seinem vergeblichen Warten, das ihn mit so schöner Freudigkeit durch die dunklen Stunden der Angst trug, und den Kranken mit einem warmen Leuchten umgab, fassungslos zusammenbricht.
Oder du hast einen ungeratenen Sohn und wartest darauf, daß er heimfinde ins Vaterhaus. Aber Jahr um Jahr vergeht, und er kommt nicht. Willst du dir und ihm das Unrecht antun, zu sagen: »ich warte nicht mehr, es ist ja doch vergeblich?« Verloren ist eine Sache erst, wenn man sie aufgibt. Und aufgeben tut man sie mit dem Augenblick, wo man nicht mehr an sie glaubt. Denn Warten ist Glauben. Für eine verlorene Sache müht man sich nicht mehr. Willst du aufhören, für deinen Sohn, deine Tochter zu beten? Ihnen nachzugehen mit deiner Liebe bis in die weitesten Fernen, in denen sie in der Irre gehen? Gedanken haben eine große, geheimnisvolle Macht. Die betenden, liebenden, sorgenden, wartenden, vertrauenden Gedanken eines Vaters, einer Mutter, haben schon manches abtrünnige Kind zurückgerissen von dem Abgrund, an dem es taumelte; es herausgerissen, wenn es schon hineingestürzt war.
Und wenn es dann doch vergeblich war? Wenn du eines Tages erfährst, daß es aus, ganz aus ist mit deinem Kinde, oder wenn dein Leben zu Ende geht, ohne dir die Erfüllung deines Wartens gebracht zu haben? Sei gewiß, dein Leben, deine Seele wurde nicht ärmer durch die Kraft, die Liebe, die Hoffnung, den Gram, was alles du scheinbar vergeblich vertan hast; sondern reicher und schöner durch die Wärme, die dich erfüllte, durch die Hoffnung, die dich beseelte, durch die Schmerzen, die dich geläutert haben. Und du wirst am Grabe deiner Hoffnung, am traurigen Ende deines Wartens, vor deiner bittren Enttäuschung stehen mit dem Frieden des guten Gewissens: ich habe nichts versäumt und nichts unterlassen, denn ich habe in Hoffnung und Liebe gewartet.
Oder du wartest auf irgendein Lebensglück; auf die Erfüllung einer großen Liebe. Sie füllt dich ganz aus, bringt dir abwechselnd jauchzendes Glück, quälende Zweifel, unruhige Betrübnis. Aber du wartest weiter, und deine Seele trägt ein Feierkleid und macht sich hell und still, um das große Glück aufzunehmen. Und eines Tages weißt du, daß dieses Glück dir nicht beschieden sein soll, daß dein Warten vergeblich war.
Wäre es besser gewesen, du hättest nicht gewartet? Hättest deine Seele zugesperrt vor der Helle und Heiße solcher Liebe, »weil sie ja doch vielleicht mit einer Enttäuschung endigen könne?« Um dir dann lebenslang sagen zu müssen: das Glück wäre vielleicht doch gekommen, wenn die Tore meiner Seele offen gewesen wären, es einzulassen? Fühlst du nicht, daß das Leuchten und Brennen solcher Liebe Segensspuren in deine Seele gedrückt hat, wie die Sonne Spuren hinterläßt auf dem Gefilde, die keine noch so lange Nacht mehr verwischen kann?
Warum sagen denn fast alle Menschen: »lieber eine unglückliche Liebe, als gar keine?« Weil sie alle wissen, daß die Wartezeiten solcher Liebe mit ihrem Glück schwerer wiegen, als die Enttäuschung mit ihrem Schmerz.
Fürchte dich nicht vor vergeblichem Warten. Das ist im Grunde nur Feigheit. Warte auf das, was du ersehnst, trotz der Möglichkeit der Enttäuschung. Und wenn die Enttäuschung kommt, so weine, brich zusammen, ringe die Hände. Schmerzen sind dazu da, daß sie gelitten werden. Setze dich auseinander mit ihnen, kämpfe mit ihnen. Und dann stehe wieder auf. Du wirst sehen, das Aufstehen wird dir leichter werden, wenn deine Seele vorher am rechten Warten erstarkt ist, als dir das Weitergehen werden würde, wenn nicht die helle Sonne gläubigen Wartens dich erwärmt und erhellt hätte, ehe du in den Schatten tratest.
Die Seele muß etwas zu hoffen und zu fürchten, etwas zu warten und zu bangen haben; sonst werden die Saiten schlaff, auf denen das Leben spielt, und geben keine reinen und vollen Töne mehr.
Die Seele muß auch mitunter etwas zu weinen haben.
Und was nun all das kleine und nebensächliche Warten anbetrifft, davon unsre Tage voll sind – das Warten auf Erfolge, auf kleine und große Freuden, auf erfüllte Wünsche, auf Dankbarkeit, auf Anerkennung und was dergleichen wirkliche und eingebildete Bedürfnisse mehr sind – wenn dieses Warten hier und da mit einer Enttäuschung endigt – nun, so kann ich dir nur den einen Rat geben: wirf es hinter dich, und warte auf etwas andres.
Nur keine Erbitterung, keine tragische, vorwurfsvolle Gebärde. Wer hat dir denn gesagt, wer gab dir denn ein Recht darauf, daß all dein oft so törichtes, ungerechtfertigtes, selbstsüchtiges Warten Erfüllung findet?