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»Baron Karymow oder Herr Fisher, wie Sie wollen! Ich hatte meine Karte nicht erst hereingeschickt, um Sie zu überraschen, Herr Doktor! Sie glaubten gewiß, daß Sie mich nie im Leben zu sehen bekommen würden. Beinahe hätte ich Ihnen auch nicht das Vergnügen machen können. Ich weilte vor einigen Monaten gerade im Kaukasus – unter falschem Namen natürlich – als unsere ganze Organisation an die Tscheka verraten wurde. Zwei unserer Führer wurden auch verhaftet und haben die Liebe zu ihrem Rußland bereits mit dem Tod büßen müssen. Ich wurde im letzten Augenblick gewarnt und floh. Aber deswegen bin ich hier auch meines Lebens nicht sicher. Diese Burschen haben überall Spione, und ich weiß, wenn ich gerade am wenigsten darauf gefaßt bin, hebt sich eine Hand von irgendwo, und mit zwei Schüssen ist der Auftrag erfüllt. Wir haben es selbst oft nicht anders gemacht.«
Der Mann, der diese Worte an Dr. Chancellor richtete, war ein hochgewachsener ernster Mann, dessen glühende Augen und sich überstürzende Redensweise den Advokaten im ersten Augenblick unangenehm berührten. Sein Aeußeres entsprach vollkommen der Beschreibung, die die gute Frau Bunce von ihm gemacht hatte. Es war kein Wunder, daß sie in diesem »Fremden« einen Spanier erblickt hatte.
»Es freut mich aufrichtig, Sie zu sehen«, sagte er. »Allerdings wäre es mir noch lieber gewesen, wenn Sie schon vor vier Monaten nach England gekommen wären oder es gar nicht verlassen hätten.«
»Ah, mein Lieber, beides war unmöglich. Ich kam, sobald ich konnte. Erst vor drei Tagen bin ich gelandet und geradewegs zu meiner Nichte gefahren. Sie ist ein wunderbares Geschöpf, nicht wahr? Ja, Sie sind zu beglückwünschen, Herr Doktor! Ah, wo war ich stehengeblieben? Richtig, ich sprach von meiner Nichte! Sie sagte mir, daß ich Sie wegen einer wichtigen Angelegenheit aufsuchen solle. Nun, womit kann ich Ihnen dienen? Ich stehe in allem zu Ihrer Verfügung, was nicht gegen die Interessen meines Landes ist. Armes Rußland! Es blutet, aber eines Tages werden seine Wunden heilen!«
Der Baron sprach fließend englisch, wenn auch mit einem slawischen Akzent.
»Ich nehme an, daß Sie mich wegen meines Neffen zu sehen wünschen«, fuhr er in seiner lebhaften Weise fort; »der arme Junge! Aber was wollen Sie? Einige sterben auf dem Schafott, andere werden von einer Kugel durchbohrt, und wieder andere schmachten in russischen Kerkern. Alle aber leiden für Rußland, und das genügte. Mein Neffe starb als Märtyrer auf einem englischen Schafott, weil er seinen Eid, zu schweigen, nicht brechen wollte. Sonst wäre er vielleicht als Held im Kampf gegen die Tscheka gefallen. Es ist alles gleich. Wir werden es ihm nicht vergessen.«
»Ich darf wohl annehmen, daß sich Herr Mowbray am 11. November vorigen Jahres in Ihrer Gesellschaft befand?« unterbrach Dr. Chancellor den Redefluß des Barons. Ihm lag unendlich viel daran, näheren Aufschluß von ihm zu erhalten, damit John Mowbray endgültig gerechtfertigt und von dem Verbrechen, für das er mit dem Leben büßen mußte, gereinigt werden konnte.
»Mein Neffe war am 11. November und noch an manchen anderen Tagen bei mir«, beantwortete der Baron die Frage. »Er besuchte mich in Wilsley. Meine Papiere sind in bester Ordnung. Sie beweisen, daß ich mit Herrn Fisher identisch war. Und was meinen Neffen betrifft, so kann ich Ihnen ganz genau die Daten seines Besuches sowie die Höhen der Summen angeben, die er mir jedesmal überbrachte und die mir sehr willkommen waren.«
»Um welche Zeit verließ Mowbray Sie an jenem 11. November?« fragte Dr. Chancellor.
»Auf den Glockenschlag fünf.«
»Und wissen Sie vielleicht, auf welche Weise er damals den Unfall erlitt?«
»Gewiß, ich kann es Ihnen genau erklären. Die Sache war sehr einfach. Wir vernichteten an dem Tag verschiedene Papiere. Ein Teil war in einer Kiste im Stall verwahrt und mein Neffe ging sie zu holen. Es war dort dunkel, und da er kein Licht bei sich hatte, strauchelte er, so daß er sich den Fuß verstauchte. Als er zu mir zurückkam, blutete er auch stark im Gesicht. Er war übel zugerichtet, der arme Junge, doch mit etwas warmem Wasser und Charpie war der Schaden bald halbwegs behoben.
Ich wollte meinen Neffen über Nacht bei mir behalten, da ihm das Reiten beschwerlich fiel. Allein er wollte nichts davon hören.
›Wegen solch einer Kleinigkeit!‹ rief er aus. ›Im Krieg mußten wir ganz andere Sachen ertragen.‹
Bei seinem Weggang war er in bester Stimmung und versprach, bald wiederzukommen. Er brauchte gewöhnlich zehn Stunden, um nach Wilsley zu kommen, das heißt acht zum Reiten und zwei zum Ausruhen seines Pferdes unterwegs. Zurück machte er den Ritt ohne Unterbrechung in neun Stunden.«
»Dann konnte er also nicht vor zwei Uhr morgens in Manningford sein, wenn er Wilsley um fünf Uhr nachmittags verlassen hatte«, bemerkte Dr. Chancellor. »Diese Auskunft genügt mir vorläufig. Ich bitte jedoch, mir Ihre Papiere zu bringen. Ich werde dann die Mitteilungen, die Sie mir gemacht haben, als eidliche Erklärung niederschreiben, und Sie werden sie dann in Anwesenheit von zwei Zeugen unterfertigen«
Karymow war damit einverstanden und erbot sich, die Papiere, die er im Gasthof habe, sofort zu holen.
»Sie dürfen nicht im Gasthof bleiben«, entgegnete Dr. Chancellor, »sondern müssen mir gestatten, Sie als meinen Gast zu betrachten.«
»Ich danke Ihnen«, erwiderte der Baron. »Ich nehme Ihre Einladung an und werde bei Ihnen bleiben, solange Sie meiner bedürfen. Im Augenblick habe ich meine Mission erfüllt, und bis man mir eine neue anvertrauen wird, kann noch einige Zeit vergehen. Ich kann Ihnen verraten, daß wir schon andere große Dinge planen, Herr Doktor, die die Welt werden aufhorchen lassen, und wenn wir die heutigen Machthaber dadurch auch nicht stürzen werden – steter Tropfen höhlt den Stein.«
Dr. Chancellor mußte unwillkürlich über die Begeisterung des Barons lächeln. Er begriff es nun, daß dieser Fanatiker sich, als er vor Jahren Helen Mowbrays Vater in Manningford besuchte, mit dem ruhigen, nüchternen Engländer nicht verstanden hatte.
»Sie machten keinen Besuch in Manningford, als Sie voriges Jahr in England waren?« fragte der Rechtsanwalt.
»Nein, ich hatte meine guten Gründe dazu. Man sagte mir nämlich, daß meine liebe Nichte von ihrem Vater die Eigenschaft geerbt habe, die die Engländer unter dem Titel ›gesunder Menschenverstand‹ rühmen. Sie besitzt nicht den Enthusiasmus und den Glauben an unser altes Rußland, den ihr Bruder hatte, und so fürchtete ich ihre Einmischung. Jetzt aber hoffe ich, die Gesellschaft meiner schönen Nichte recht oft genießen zu können.«
Wieder mußte Dr. Chancellor lächeln, denn er dachte daran, daß wahrscheinlich Helen mit ihrem praktischen Sinn die Freigebigkeit ihres Bruders gegenüber dem Baron eingeschränkt hätte.
»Sie dürfen mich nicht für egoistisch oder gewinnsüchtig halten«, äußerte Karymow, dem Doktor Chancellors Lächeln nicht entgangen war, »ich handelte allein im Interesse meines Vaterlandes.«