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3.

Das Gasthaus »Zum goldenen Ochsen« gehörte zu den ältesten und in seiner Architektur malerischsten Gebäuden Lancasters. Die breite Front, der Hauptstraße zugekehrt, zeigte den Baustil vergangener Jahrhunderte; ein mächtiger Torbogen führte in einen großen, gepflasterten Hof, der auf allen Seiten von Wirtschaftsräumen umschlossen war, und eine hölzerne Galerie lief um den oberen Stock, in dem die Gastzimmer lagen.

Das Wirtshaus war berühmt wegen seiner prächtigen Treppe aus reich geschnitztem, irischem Eichenholz, seiner ausgezeichneten Küche und seiner vorzüglichen Weine.

In früheren Zeiten bildete es das Hauptquartier der älteren, hier verkehrenden Advokaten, während die jüngeren Juristen einen neueren Gasthof der Stadt »Zum Falken« bevorzugten.

Es war der zehnte Januar, der Vorabend der Gerichtsverhandlung gegen John Mowbray.

In einem großen getäfelten Zimmer des Gasthofes saß Dr. Gazabee, der berühmte Londoner Rechtsanwalt, der herbeigerufen worden war, um gemeinsam mit Dr. Chancellor die Verteidigung des Angeklagten zu führen, in einem Sessel ausgestreckt vor dem lodernden Kaminfeuer. Augenscheinlich hatte er soeben zu Abend gespeist, denn das Tafeltuch war noch nicht weggenommen. Der Advokat hatte den Kopf in die Hand gestützt, blätterte nachdenklich in einigen Akten, die er in der Hand hielt und die ihm Dr. Chancellor vor einigen Stunden übersandt hatte. Von Zeit zu Zeit schenkte er sich aus einer Flasche Sherry, die auf einem Tischchen neben seinem Sessel stand, ein Glas ein.

Er war ein ungewöhnlich großer Mann mit starker Stimme und ziemlich ungeschliffenem Wesen, überragte jedoch seine Kollegen nicht nur in der Gestalt um Kopfeslänge, sondern war ihnen auch an Beredsamkeit, Witz und Suggestionskraft weit überlegen. So groß war sein Ruf, daß im Publikum die Meinung herrschte, daß eine Verteidigung durch Dr. Gazabee gleichbedeutend mit der Freisprechung des Angeklagten sei, mochten die Schuldbeweise auch noch so erdrückend sein. Im Kreuzverhör suchte er seinesgleichen, und es gab nur einige unter seinen Kollegen, die sich rühmen durften, so bestimmend und beeinflussend wie er auf den Urteilspruch der Geschworenen sein zu können.

Er hatte scharfe, blitzende Augen – und wehe dem sich widersprechenden Zeugen, den ein Blick aus diesen mächtigen Augen traf. Scharfsinnig, schlagfertig und gesetzeskundig, galt Dr. Gazabee als eine Macht, mit der auch der Staat rechnen mußte. Kaum war es daher bekannt geworden, daß Dr. Gazabee die Verteidigung John Mowbrays übernommen hatte, als auch schon von London der erste Staatsanwalt, Sir Edward Browbeat, geschickt wurde, um die Anklage zu vertreten.

Nachdem Dr. Gazabee die Akten zu Ende gelesen hatte, legte er das Heft neben sich auf das Tischchen, trank ein Glas Sherry, schob die Hände in die Taschen und blickte nachdenklich in die züngelnden Flammen. Er wurde in seinen Betrachtungen durch das Eintreten des alten Kellners gestört, der den Advokaten seit dessen Studienzeit kannte.

»Der Herr Doktor Chancellor wünschte Sie zu sprechen, Herr Doktor!« meldete der Kellner und öffnete die Tür.

Dr. Gazabee sah auf die Uhr, die die neunte Stunde anzeigte, erhob sich und begrüßte den Anwalt, mit dem er eine letzte Besprechung verabredet hatte. Dann stellte er sich mit dem Rücken gegen den Kamin, vergrub seine Hände wieder in den Taschen und fragte mit lauter Stimme, wobei ein spöttisches Lächeln auf seinen Lippen lag:

»Nun, lieber Kollege, haben Sie unseren Klienten überredet, sein Stillschweigen aufzugeben und sich nicht selbst die Schlinge um den Hals zu legen?«

Dr. Chancellor zuckte die Achseln.

»Leider nein«, sagte er. »Wir werden nicht imstande sein, sein Alibi nachzuweisen, denn er verweigert nach wie vor jede Auskunft über das, was er in der Nacht des 11. November gemacht hat.«

»Und als Grund führt er immer an, daß ihm die Ehre verbiete, sich über seine Handlungen in dieser Nacht zu äußern?«

»Ja, und daß er einen Menschen, der besser sei als er selbst, zugrunde richten würde, wenn er frei herausspräche.«

»Pah! Welche Jury wird ihm das glauben? Er hat sich nach meiner Meinung mit dieser Geschichte bereits dem Henker überliefert. Denn das müßte ein Uebermensch sein, der, um die Ehre eines Frauenzimmers zu schonen, in den Tod geht!«

»Es ist ja noch gar nichts ausgemacht, daß dabei eine Frau im Spiel ist«, bemerkte Dr. Chancellor.

»Aber mein lieber Kollege! Was sollte es denn sonst sein, wenn er nicht der Mörder ist!«

»Ich bin von seiner Unschuld vollkommen überzeugt!«

»Hm! Ich bin es mehr aus dem Grunde, weil von wirklichen Beweisen ja nicht die Rede sein kann. Trotzdem will ich natürlich alles für unseren Klienten tun«, was sich überhaupt tun läßt. Er wäre nicht der erste Angeklagte, den ich dem Gericht entrissen habe, obwohl keiner damit mehr gerechnet hatte.«

»Alle wissen,« sagte Dr. Chancellor mit einer Verbeugung, »daß bereits Ihr Name die Stimmung der Geschworenen für den Angeklagten zu beeinflussen mag!.«

Dr. Chancellor winkte ab.

»Sie überschätzen meinen Einfluß. Es wäre gut, wenn Sie die Angehörigen unseres Klienten darauf aufmerksam machten, wie schlecht die Sache für ihn steht.«

Chancellor wußte, daß es eine Eigenschaft des berühmten Advokaten war, am Vorabend eines jeden Prozesses, den er übernommen hatte, die pessimistische Anschauung zu vertreten. Er versuchte daher vom Thema abzulenken und fragte:

»Könnten wir nicht versuchen, das Armband für unseren Klienten zu verwerten? Solange der Besitzer oder die Besitzerin nicht eruierbar ist, haftet dem Indizienbeweis, den der Staatsanwalt sicher führen wird, eine Unklarheit an, die wir ausnützen können.«

»Das alles, lieber Herr Kollege, habe ich wohl bedacht«, sagte er; »und im übrigen müssen Sie mich wohl meine Sache machen lassen, so gut ich kann. Trinken Sie lieber ein Glas Sherry mit mir!«

Dr. Chancellor lehnte ab und verabschiedete sich, indem er starke Kopfschmerzen vorschützte.

»Er wird seine Sache machen, und John Mowbray wird verurteilt werden«, dachte er mißmutig, als er die Treppe des Gasthofes hinunterschritt.

Und er stellte sich das verzweifelte Gesicht der schönen Helen Mowbray und die Ohnmacht vor, die sie überkommen würde, wenn die Geschworenen das »Schuldig« über ihren Bruder sprechen würden.

Bis in seine Träume verfolgte ihn das Bild des Mädchens, das im Zuschauerraum des Gerichtssaals zu Boden sank, und ihr todblasses Gesicht und ihre geschlossenen Augen, die immer wieder vor ihm auftauchten, wenn ihn nach langem schlaflosen Hinundherwälzen der Schlummer von neuem übermannte.


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