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Die kurze Pause war zu Ende. Die Geschworenen und Anwälte kehrten auf ihre Platze zurück, der Angeklagte nahm seine vorige Stellung wieder ein, der Richter präsidierte mit feierlicher Miene, und der zweite Akt des Dramas begann.
Ein besonders Interesse erregte das Erscheinen des Polizeisergeanten John Collins auf der Zeugenbank. Er war ein Mann von gedrungenem Körperbau mit frischem, gutmütigem Gesicht.
»Als ich die Nachricht von dem Verbrechen erhielt«, berichtete er, »begab ich mich am 12. November morgens nach Manningford. Fünf Minuten nach acht erreichte ich die Stelle am Ufer, wo der Körper des Ermordeten lag. Augenscheinlich war er schon seit mehreren Stunden tot. Er trug einen Gesellschaftsanzug, darüber einen dicken Ueberrock, der aber nicht geschlossen war, sondern, wie es schien, in Eile aufgerissen. Seine Wäsche war blutbefleckt, und die Blutlache, in der er lag, erstarrt. Seine Uhr, Kette, Ringe und Brieftasche fand ich in unversehrtem Zustand vor.
Ich ließ die Leiche zuerst nach Westlakes Pachthof bringen und untersuchte dann den Schauplatz der Tat. Es waren keine Spuren eines Kampfes bemerkbar, ebensowenig Fußspuren, wahrscheinlich deswegen, weil der Boden durch den Frost steinhart geworden war.
Von der Brücke bis zur sogenannten Liebesruhe sind es einige hundert Schritte. Der Körper des Ermordeten lag etwa fünfhundert Schritte von der Bank entfernt, und nicht weit von der Eiche waren noch Blutspuren sichtbar. Eine Waffe fand ich nicht, obgleich ich alles, auch den Fluß, absuchen ließ.
Meine weiteren Nachforschungen ergaben, daß um die Zeit des 11. und 12. November kein Fremder in Manningford gesehen worden war. Ich füge noch hinzu, daß ich persönlich niemals Drohungen des Herrn Mowbray gegen Herrn Trinkall gehört habe; wie alle im Ort, habe aber auch ich davon reden hören.«
»Ich glaube, Mylord«, wandte sich jetzt Dr. Gazabee an den Richter, »es dürfte viel Zeit ersparen, wenn ich zugebe, daß mein Klient heftige Worte gegen Herrn Trinkall gebraucht hat und daß die Beziehungen zwischen dem Ermordeten und seinen Untergebenen durchaus gut waren. Nach dieser Richtung hin könnten weitere Zeugenaussagen also wegfallen.«
Der Richter stimmte diesem Vorschlag zu.
»Nun, Mr. Collins«, begann Dr. Gazabee hierauf das Kreuzverhör mit dem Polizeisergeanten, »Sie sind achtundzwanzig Jahre im Dienst, und in all dieser Zeit haben Sie niemals einen solchen Fall in Händen gehabt wie diesen, stimmt das?«
»Allerdings, mit einem Mord hatte ich niemals zu tun«, lautete die Antwort.
»Ganz recht«, nickte Dr. Gazabee, »das war's, was ich meinte. Nachdem Sie bei der Untersuchung herausgefunden hatten, daß Herr Trinkall unter seinen Leuten keinen Feind besaß und auch kein Fremder in Manningford gesehen worden war, fiel Ihnen plötzlich ein, von Drohungen gehört zu haben, die John Mowbray gegen den Ermordeten ausgestoßen hatte, und das brachte Sie auf die Vermutung, er habe die Tat begangen.«
»Der Streit zwischen den beiden war so allbekannt«, erklärte Collins, »daß ich es für richtig hielt, John Mowbray aufzusuchen, um von ihm irgendwelchen Aufschluß über den Mord zu erhalten.«
»So – so!« bemerkte Dr. Gazabee nicht ohne Ironie, »Sie fühlten sich also außerstande, selbst den Mörder zu eruieren, daß Ihnen nichts anderes einfiel, als zu Herrn Mowbray zu gehen und ihn um seine Meinung zu befragen?«
Der Polizeisergeant schien verwirrt, denn er fand keine Antwort.
»Wenn ich nicht irre«, fuhr Dr. Gazabee fort, »kennen Sie den Angeklagten schon sehr lange. Haben Sie je etwas über ihn gehört, was Sie veranlassen konnte, ihn eines solchen Verbrechens für fähig zu halten?«
»Nein.«
»War Ihre persönliche Kenntnis seines Charakters nicht eine derartige, daß Ihnen ein Verdacht gegen ihn gar nicht gekommen wäre?«
»Allerdings – ich gebe das zu, aber –«
»Kein aber!« unterbrach ihn Dr. Gazabee scharf. »Antworten Sie einfach ja oder nein. Nach Ihrer persönlichen Meinung hätten Sie den Angeklagten dieses Verbrechens nicht für schuldig gehalten?«
»Nein.«
»Gut. Der leidige Dorfklatsch veranlaßte Sie also, Herrn Mowbray zu verhaften. Haben Sie seitdem versucht, eine andere Lösung des Verbrechens zu finden oder eine andere Spur zu verfolgen?«
»Sie sagen, Sie hätten den Fluß und das Ufer absuchen lassen, hätten aber keine Mordwaffe entdeckt. Fanden Sie aber etwas anderes?«
»Ja, ich fand ein Damenarmband unter einem Haufen welker Blätter.«
»Ich möchte das Armband sehen«, äußerte Dr. Gazabee.
Das Schmuckstück wurde ihm gereicht, und nachdem er es besichtigt und auch mit Dr. Chancellor im Flüsterton darüber gesprochen hatte, wandte er sich wieder an Collins:
»Wie ich erfahren habe, zeigt das Monogramm auf dem Armband die Initialen von Frau Trinkalls Mädchennamen: A. S. L. Trotzdem soll sie bestritten haben, daß das Armband je ihr Besitz gewesen ist.«
»Das stimmt.«
»Können Sie sich erklären, wie das Armband an den Ort kam, wo Frau Trinkalls Gatte ermordet wurde?«
»Nein, ich habe keine Ahnung. Möglich wäre es ja immerhin, daß es früher dort verloren wurde und schon wochenlang vor dem Mord unter den welken Blättern lag.«
»Das ist Ihre Erklärung. Nun – nehmen wir einmal an, dies Armband stehe in einem Zusammenhang mit dem Verbrechen – ich behaupte natürlich durchaus nicht, daß es wirklich der Fall ist – wäre es nicht Ihre Pflicht gewesen, alles aufzubieten, den Eigentümer dieses Schmuckstückes zu finden?«
»Ja.«
»Taten Sie es?«
»Nein.«
»Das ist nun das zweite Beispiel, wie Sie im Verlauf Ihrer Untersuchung zu Schlußfolgerungen gelangen, die als überaus zweifelhaft bezeichnet werden müssen. Ein alberner Dorfklatsch veranlaßt Sie, Herrn Mowbray des Mordes zu verdächtigen, und der Fund eines Armbandes, das die Initialen der Frau Trinkall zeigt, bringt Sie noch nicht einmal auf den Gedanken, daß es in Beziehung zu dem Verbrechen stehen könne. Dadurch ist Ihnen vielleicht ein wichtiger Anhaltspunkt entgangen. Ich habe Sie nichts mehr zu fragen.«
»Hat Frau Trinkall beschworen«, warf hier der Staatsanwalt ein, »daß das Armband nie in ihrem Besitz gewesen, ist und daß sie es auch nie bei ihrem Gatten gesehen hat?«
»Ja.«
»Sie haben wohl auch nur meist unter der Leitung des Polizeichefs Brabazon gehandelt?«
»Ja«, antwortete Collins sichtlich froh, die Verantwortung für sein Tun auf einen anderen abwälzen zu können.
Der nächste Zeuge war Professor Mac Fie von der Universität Edinburg. Er hatte bei Besichtigung der Leiche fünf Verletzungen gefunden. Zwei Wunden im Schulterblatt schienen verhältnismäßig harmlos und hatten keine schweren Verletzungen hervorgerufen. Ein dritter Stich hatte die Halsschlagader getroffen, ohne jedoch sie völlig zu durchschneiden, während die beiden übrigen Wunden auf wuchtige Stiche durch die Lunge zurückzuführen waren und den Tod Francis Trinkalls herbeigeführt hatten.
»Mit welcher Art Waffe sind die Verletzungen beigebracht worden?« fragte der Staatsanwalt.
»Jedenfalls mit einem sehr scharfen Instrument.«
»Haben Sie sich ein Urteil darüber gebildet, in welcher Reihenfolge die Stiche erfolgt sind?«
»Meiner Meinung nach ist der Ermordete unversehens überfallen worden, und zwar erhielt er die ersten Stiche rasch nacheinander und von hinten in die Schulter. Naturgemäß drehte er sich gegen seinen Angreifer um und erhielt nun den Stich in den Hals. Die Wand der Arterie wurde durchbohrt, aber nicht zerschnitten.«
»Und die Wunden in der Brust?«
»Sie sind durch Stiche entstanden, die mit großer Gewalt geführt wurden. Sie gehen durch die ganze Lunge und riefen einen tödlichen Bluterguß hervor.«
»Könnten diese Wunden von der Hand einer Frau stammen?«
»Nein.«
»Um welche Zeit dürfte das Verbrechen begangen worden sein?«
»Vielleicht um elf Uhr, jedenfalls nicht später als Mitternacht.«
»Welchen Grund haben Sie für diese Annahme?«
»Ich weilte am 11. November gleichfalls als Gast mit Herrn Trinkall zusammen in der Gesellschaft des Hauptmanns Kendall. Das Essen dauerte nur bis neun Uhr. Der Mageninhalt des Toten befand sich in einem Zustand, wie er zwei bis drei Stunden nach einem reichlichen Mahl zu sein pflegt.«
»Sie untersuchten später auch die Verletzungen des Angeklagten?«
»Ja, er hatte einen verstauchten Fuß und war im Gesicht sowie an den Händen stark zerschunden.«
»Konnte er, wie er behauptet, mit diesen Wunden einen weiten Weg zu Pferd zurückgelegt haben?«
»Unmöglich wäre es nicht, doch hätte er dabei die größten Schmerzen aushalten müssen.«
Während der Erklärungen des Arztes herrschte Totenstille im Saale, und es ging wie ein Seufzer der Erleichterung durch die Zuhörerschaft, als sich Dr. Gazabee zum Kreuzverhör erhob.
»Sie betrachten die Verletzungen, die Herr Mowbray aufwies, nicht als das Resultat eines persönlichen Kampfes?«
»Nein, sie rührten wahrscheinlich von einem Falle her.«
»Glauben Sie, daß sie ein Sturz vom Pferde hätte verursachen können?«
»Zweifellos.«
»Und wenn sich dieser Unfall nun in der Nähe von Manningford zutrug, wäre der Angeklagte – wenn auch unter großen Schmerzen – doch imstande gewesen, seinen Weg fortzusetzen?«
»Ich bestreite diese Möglichkeit durchaus nicht.«
»Sie bemerkten vorhin, daß nach Ihrer Meinung einige Stiche nicht von einer Frau herrühren könnten. Wollen Sie mir Ihre Gründe dafür angeben?«
»Weil eine zu große Kraft angewendet werden mußte. Die Wunden in der Brust müssen mit furchtbarer Gewalt beigebracht worden sein, denn die Klinge, die sicher acht bis zehn Zoll lang war, ist bis ans Heft eingedrungen. Die Lunge war vollständig durchbohrt.«
»Aber die Wunde am Hals erforderte nicht viel Kraft?«
»Nein.«
»Und die im Rücken?«
»Schon bedeutend mehr.«
»Wirklich? Sie bezeichneten sie doch nur als oberflächliche Wunden.«
»Ganz recht! Aber Sie müssen bedenken, wie dick die Kleidung war, durch die der Stich dringen mußte. Herr Trinkall trug einen Ueberrock von besonders schwerem Stoff. Das brach die Gewalt des Stoßes und erklärt die verhältnismäßig unbedeutende Verletzung der Schulter.«
»Nun sagen Sie mir einmal geradeheraus, Herr Doktor, könnte man die Tat nicht einer Frau zuschreiben, die sich in heftiger und leidenschaftlicher Erregung befand?«
»Hm – ich wage nicht zu sagen, wessen eine Frau in der Raserei fähig ist.«
»Sie halten es also nicht für absolut unmöglich?«
»Nein – das nicht.«
»Die Wunde am Hals kann also jedenfalls von einer Frau herrühren?«
»Ja.«
»Nun denken Sie bitte genau nach, ehe Sie meine folgende Frage beantworten. Sie haben zugegeben, daß eine Frau imstande war, die Wunden am Hals und an der Schulter beizubringen. Könnte dies nicht auch – bei Verdopplung der Kräfte – bei den anderen der Fall sein?«
»Meines Erachtens, nein! Es sei denn, man wolle annehmen, daß dieses Weib eine Amazone gewesen wäre.«
»Sind Sie gewiß, daß die ersten Stöße von hinten geführt wurden?«
»So sicher, als hätte ich es mit eigenen Augen gesehen.«
»Läßt dieser Umstand nicht vermuten, die Tat sei eher von einer Frau als von einem Manne verübt worden.«
»Das ist Ansichtssache. Ein Mann mit mörderischen Absichten würde sich wenig darum kümmern, ob er von vorn oder hinten angreift.«
Das Wortgefecht zwischen dem Verteidiger und dem Sachverständigen dauerte noch eine Weile, aber der Arzt blieb mit echt schottischer Beharrlichkeit bei seiner Meinung, so daß Dr. Gazabee aus diesem Kreuzverhör keinen Vorteil für seinen Klienten zu ziehen vermochte.
Es wurden noch weitere Sachverständige vernommen, die in jeder Beziehung mit ihrem Kollegen übereinstimmten.
Als letzter Zeuge erschien Polizeichef Brabazon, der in knappen Worten über seine Unterredung mit dem Angeklagten Bericht erstattete.
Das Publikum lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit, wußte doch jedermann, daß vor allem John Mowbrays Weigerung, sein Alibi nachzuweisen, zu seiner Verhaftung geführt hatte.
»Ich gab dem Angeklagten zu verstehen, daß das Verbrechen noch nicht geklärt sei und daß seine gegen Herrn Trinkall ausgestoßenen Drohungen Anlaß böten, ihn verdächtig zu machen. Es scheine daher in seinem Interesse von großer Wichtigkeit, daß er allen Verdacht durch den Nachweis eines Alibis entkräfte. Er erklärte nun, Manningford am 11. November früh verlassen zu haben und erst am folgenden Morgen um zwei Uhr zurückgekehrt zu sein. Ueber den Grund seiner Abwesenheit könne er keine Auskunft geben, da ihm die Lippen durch eine Ehrenpflicht verschlossen seien. Aus diesem Grunde lehne er es auch ab, Zeugen anzugeben, die bestätigen könnten, daß er in der Zeit von zehn bis Mitternacht nicht in Manningford gewesen sei.
Es blieb mir daher nichts anderes übrig, als ihn zu verhaften, was er mit großer Ruhe hinnahm.«
»Sie sind in der Welt viel herumgekommen, Herr Polizeichef!« wandte sich Dr. Gazabee an Brabazon. »Haben Sie es schon einmal erlebt, daß ein mutiger Mann lieber den Tod – selbst einen entehrenden erleidet, als daß er eine Handlung begeht, die sich nicht mit seiner Ehre verträgt?«
»Ich habe dergleichen schon erlebt«, gab Brabazon zu.
Hier unterbrach der Richter das Verhör. »Es ist nicht nötig, diese Frage weiter zu erörtern. Niemand wird bestreiten, daß es Verhältnisse gibt, in denen ein Mann seine Ehre höher einschätzt als sein Leben. Es muß jetzt Aufgabe der Geschworenen sein, zu erwägen, ob die Ausrede des Angeklagten, aus Ehrengründen schweigen zu müssen, stichhaltig genug ist, um anerkannt zu werden.«
»Ich füge mich Ihren Anordnungen«, entgegnete Dr. Gazabee. »Mir genügt Ihre Zustimmung, daß ein Mann, der zwischen Ehre und Tod zu wählen hat, lieber den letzteren erleidet, selbst unter den schmachvollsten Umständen.« Und er wandte sich noch einmal an Brabazon und fragte ihn: »Ist nach der Verhaftung Mowbrays kein weiterer Versuch gemacht worden, einen anderen Aufschluß über das Verbrechen zu erhalten?«
»Nein.«
»Hat der Angeklagte bei der ersten öffentlichen Untersuchung eine Erklärung abgegeben?«
»Ja.«
»Ich bitte um Vorlesung des Protokolls.«
John Mowbrays Erklärungen lauteten: »Während der letzten zwölf Monate war ich häufig in Privatangelegenheiten abwesend. Bei diesen Gelegenheiten entfernte ich mich meist früh am Morgen und kehrte erst spät zurück, so daß ich die Dienerschaft nicht in Anspruch nahm und mir auch mein Pferd selbst sattelte.
Am 11. November verließ ich Manningford um vier Uhr morgens. Von dieser Stunde an bis zu meiner Heimkehr am nächsten Morgen um zwei Uhr bin ich von Manningford abwesend gewesen. Ich wußte nichts von der Ermordung Francis Trinkalls.
Obgleich ich offen bekenne, Drohworte gegen ihn gebraucht zu haben, hatte ich doch nie die Absicht, ihm ein Leid zuzufügen oder sein Leben zu gefährden. Nur wäre ich fähig gewesen, in irgendeiner Sache seine Wünsche zu durchkreuzen, wie er es auch mit den meinigen getan hat. Wohin ich ging und welcher Art meine Angelegenheit war, kann ich nicht sagen. Ich habe mit einem heiligen Eid beschworen, diese Dinge als ein Geheimnis zu betrachten, und ich bin entschlossen, diesen Eid zu halten, sollte es mich auch mein Leben kosten.«