Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

8.

Myrtle Cottage ist ein langgestrecktes, einstöckiges, von Efeu umranktes Gebäude, dicht am Fuße des Hügels gelegen, auf dem sich das alte Schloß erhebt. Ein grüner Wiesenplan dehnt sich bis zum Fluß aus, unterbrochen von hübschen Blumenbeeten und begrenzt von einem gutgepflegten Gemüsegarten. Die Front des Hauses ist dem sogenannten Priory-Weg zugekehrt, der in die Hauptstraße des Städtchens mündet.

Ein Messingschild am Tor gibt Auskunft, daß der Eigentümer dieses hübschen Hauses Joseph Jannion heißt. Die guten Bürger von Lancaster haben sich oft gefragt, weshalb das Schild den Namen »Joseph« trägt, da der Besitzer doch in der ganzen Gegend einfach als Joe Jannion bekannt ist. Ein jeder weiß aber auch, daß er eine Respektsperson ist und daß sein Geschlecht von altersher der Stadt Bürgermeister und Sheriffs gegeben hat, deren Namen mit goldenen Lettern auf den Wappenschildern des Rathauses prangen – Tatsachen, auf die der letzte Nachkomme stolzer ist als auf einen klingenden Titel.

Für Joe Jannions leibliche Bedürfnisse sorgte seine Schwester Naomi, eine magere, sehr sparsame Dame, die gleich ihm unverheiratet geblieben war.

Fräulein Naomi vergötterte ihren Bruder. »Weiß nicht ganz Lancaster, daß Joe klüger ist als alle Polizisten im Lande?« lauteten ihre triumphierenden Worte, wenn Jannion wieder einmal einen Beweis seines Scharfsinns geliefert und ein Verbrechen aufgedeckt hatte, das den Detektiven ein Rätsel geblieben war. Die Beschäftigung mit Kriminalsachen zählte zu Joe Jannions Steckenpferden, und alle Zeit die er nicht seinem Garten widmete, gehörte dieser Passion. Da er eine reichliche Pension aus einer früheren Beamtenstellung bezog, hatte er Muße genug, seiner Neigung zu folgen, eine Neigung, die schon in jungen Tagen durch den häufigen Besuch der Gerichtsverhandlungen entstanden war. Diese übten eine bedeutend größere Anziehungskraft auf ihn aus als die lateinische Schulgrammatik, und so kam es, daß er als erwachsener Mann weit eher imstande gewesen wäre, ein Verbrechen, bei dem die Polizeibehörden aller Länder versagt hatten, aufzuklären, als eine Seite aus dem Virgil zu lesen.

Seine Erfolge als Amateurdetektiv waren geradezu erstaunlich. Hatte er einmal die Fährte eines Verbrechers aufgenommen, so ruhte er nicht, bis er das Wild gestellt. Er gab sich mit einem Kriminalfall erst dann ab, wenn die Kunst der Berufsdetektive daran gescheitert war und auch dann nur, wenn er sicher sein konnte, nichts dabei zu riskieren. Mit anderen Worten: er vermied jede persönliche Gefahr und liebte es, seine eigenen, absonderlichen Wege zu gehen.

Dr. Chancellor hatte die Dienste dieses Mannes in Anspruch nehmen wollen, als er die Verteidigung John Mowbrays übernahm, und vielleicht hätte dann der Prozeß eine ganz andere Wendung genommen. Leider aber war Joe Jannion gerade zu dieser Zeit von Lancaster abwesend, und da er gewohnheitsgemäß nie eine Adresse hinterließ, und sich seine Rückkehr auch gewöhnlich verzögerte, mußte Chancellor zu seinem Bedauern auf diesen wertvollen Beistand verzichten. Das Todesurteil war bereits vollzogen, als Joe Jannion wieder in Lancaster eintraf. Sogleich machte er sich daran, die Einzelheiten des Falles genau zu studieren, der während seiner Abwesenheit so große Sensation erregt hatte. Vor Tagesgrauen saß er schon mit den Zeitungsberichten beschäftigt in seinem Zimmer, das auf den Garten hinausging und das er stolz sein »Bureau« nannte. Es war angefüllt mit Bücherregalen, auf denen in peinlichster Ordnung gebundene Jahrgänge von Zeitungen, gesammelte Prozeßberichte und Mappen mit sorgfältig geordneten Notizen standen. Als Fräulein Naomi um die Mittagsstunde ihren Bruder zum Essen rief, hatte sich dieser bereits vollständig über den Tatbestand und die Beweisführung des Prozesses orientiert.

Mit zerstreuter Miene saß er während der Mahlzeit vor seinem Teller und stocherte lässig mit der Gabel in den Speisen, ein deutliches Zeichen, daß die Sache, mit der er sich den ganzen Vormittag beschäftigt hatte, ihn lebhaft interessierte und daß er überzeugt war, etwas zu ihrer Aufklärung beitragen zu können.

Seine Schwester brannte vor Neugier zu erfahren, was er dachte, kannte seine Gewohnheiten aber zu gut, um eine voreilige Frage zu stellen. So verzehrten die beiden schweigend ihr Mahl, und erst als Joe Jannion seinen Teller zurückschob, war der Augenblick gekommen, den das alte Fräulein mit Ungeduld erwartete.

»Hast du meinen Koffer schon ausgepackt, Naomi?« fragte Joe.

»Ja, alles liegt in bester Ordnung in deinem Schrank.«

»Schade! Du wirst dir nun wohl die Mühe machen müssen, alles wieder einzupacken.«

Fräulein Naomi sah ihn bestürzt an.

»Du willst doch nicht schon wieder verreisen?« fragte sie. »Herr Doktor Chancellor möchte dich ja so dringend sprechen. Er ist, ich weiß nicht wie oft, hier gewesen, um nach dir zu fragen. Was er allerdings wollte, kann ich dir nicht sagen, denn er hat es nicht erwähnt.«

Joe zuckte gleichmütig die Achseln.

»Ich kann ihm leider nicht helfen«, sagte er. »Er muß eben warten, bis ich zurückkomme. Im übrigen will ich ja in seiner Angelegenheit verreisen. Du kannst ihm das von mir ausrichten, wenn du ihn siehst.«

»Woher weißt du denn, weshalb er dich sprechen will?« fragte sie erstaunt.

»Ich kann eben manchmal Gedanken lesen«, erwiderte Joe lächelnd.

»Du meinst ...?«

»Die Verurteilung seines Klienten ist ihm sehr nahegegangen, und er will, wie ich annehme, den Versuch machen, Mowbrays Name zu rechtfertigen. Dabei will ich ihm helfen.«

»Du glaubst also auch nicht, Joe, daß der arme Mann schuldig war?«

»Na denkst du wirklich, ich würde einen Finger rühren, wenn ich von seiner Schuld überzeugt wäre?« brummte Joe. »Du solltest mich doch besser kennen. Mit Verbrechern, die ihre Strafe verdient haben, gebe ich mich nicht ab.«

»Was hältst du denn von der Sache?«, fragte Fräulein Naomi eifrig. »Wenn es Mowbray nach deiner Meinung nicht getan hat, wer war denn dann der Mörder?«

»Was ich davon halte?« fragte er und erhob sich langsam. »O ihr Frauen! Ihr wollt immer alles sofort wissen. Du mußt deine Neugier schon bezwingen, bis ich von Avonbridge zurückkomme.«

Mit dieser Antwort schnitt er jede weitere Frage des alten Fräuleins ab und verschwand in seinem Arbeitszimmer.


 << zurück weiter >>