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Während des ganzen Tages grübelte noch Dr. Chancellor über die von John Mowbray aus der Bank gezogenen Summen nach, die, wie es ihm schien, in engem Zusammenhang mit der häufigen Abwesenheit des Gutsherrn stehen mußten. Aber die Identität Fishers war auch aus der Korrespondenz Mowbrays, die Dr. Chancellor überprüfte, nicht festzustellen. Die vier Schecks, die dieser Mann erhalten hatte – der letzte auf 1000 Pfund ausgestellt – waren in der gewöhnlichen Weise in der Bank von Avonbridge präsentiert worden. Sie trugen auf der Rückseite den Namen L. Fisher. Anscheinend von Frauenhand geschrieben.
Je mehr sich Dr. Chancellor mit der Angelegenheit beschäftigte, desto mehr kam er zu der Ueberzeugung, daß die Auffindung Fishers ihm die Lösung der geheimnisvollen Ausflüge John Mowbrays bringen und ihm einen sicheren Beweis liefern würde, daß der unschuldig Verurteilte der feigen Mordtat völlig ferngestanden hatte.
Am nächsten Tag machte sich also der Rechtsanwalt daran, seinen Versuch mit Don anzustellen. Vor Tagesanbruch ging er in den Stall, sattelte selbst das Pferd und ritt dann langsam dem Dorfe zu. Die große Turmuhr verkündete die vierte Stunde, als er die Brücke passierte, auf der das Ehepaar Joy Francis Trinkall vor seinem gewaltsamen Ende gesehen hatte. Von hier zweigten zwei Straßen ab; die eine führte nach dem zwanzig Meilen entfernten Lancaster, die andere rechts am Flusse entlang nach Avonbridge. Ohne Zögern schlug Dr. Chancellor den ersteren Weg ein, da er sich sagte, daß wenn John Mowbray durch Avonbridge geritten wäre, dies keineswegs hätte unbemerkt geschehen können, zumal, da er dort sehr bekannt war. In diesem Fall hätte sich vielleicht auch ohne sein Zutun ein Alibi für ihn nachweisen lassen. So mußte man wohl annehmen, daß er zu seinen Ausflügen die Straße nach Lancaster benutzt hatte.
Diese Schlußfolgerung schien sich als richtig zu erweisen, denn Don äußerte seine Zufriedenheit durch munteres Wiehern und griff in einer Weise aus, die darauf hindeutete, daß er einen langen Weg vor sich habe.
Die ersten Meilen führten durch einen zwar fruchtbaren, aber dünnbevölkerten Landstrich, an den sich eine öde Heidegegend schloß. Dr. Chancellor schien sie ohne Ende zu sein, doch Don trabte unbeirrt weiter.
Die Monotonie der Heide machte endlich wieder einem freundlichen Landschaftsbild Platz, und nach einem weiteren Ritt von einigen Stunden blieb das Pferd aus eigenem Antrieb vor einem Dorfwirtshaus stehen. Es war von der langen Anstrengung mit Schaum bedeckt, so daß Dr. Chancellor abstieg, um dem ermüdeten Tier Rast zu gönnen.
Der Wirt, ein kleiner, wohlbeleibter Mann mit kugelrundem Gesicht, mußte das Hufgeräusch vernommen haben, denn er erschien neugierig vor der Haustür.
»Ich möchte mein Pferd eine Stunde einstellen und erfrischen, während Sie mir etwas zu essen geben werden«, sprach ihn der Rechtsanwalt an.
»Zwei Stunden meinen Sie«, verbesserte der Wirt und streichele den Hals des Pferdes. »Sie sind aber nicht derselbe Herr, der sonst hieher kam«, füge er hinzu, indem er den Advokaten scharf musterte. »Der ließ Don immer zwei Stunden ausruhen und gut füttern. Heda, Jim«, rief er einem Stallburschen zu, »sorg für den Gaul und gib ihm eine ordentliche Portion Weizen! Und Sie, werter Herr«, wandte er sich wieder an Dr. Chancellor, »treten Sie gefälligst ein! Sie sollen ein gutes Frühstück haben – Kaffee, Hammel, Eier – delikat, sag' ich Ihnen! Ja, Johns Duns versteht seine Sache – jeder kehrt gern bei ihm ein.«
Er lachte vergnügt vor sich hin, während er Dr. Chancellor in das Staatszimmer des Gasthofes führte. Dort nahm Chancellor an einem Tisch Platz, und schon nach kurzer Zeit hatte der Wirt ein reichliches Frühstück aufgetragen. Von dem langen Ritt hungrig geworden, ließ Dr. Chancellor es sich schmecken. Er beantwortete die Fragen des Wirtes nach dem früheren Besitzer des Pferdes ausweichend, da er merkte, daß der Mann John Mowbray nur als durchreisenden Fremden gekannt hatte. Immerhin war das Experiment mit Don soweit geglückt, denn das kluge Tier hatte genau den Weg eingehalten, den es so oft mit seinem früheren Herrn gemacht hatte. Dr. Chancellor war daher überzeugt, daß er, dank dem Instinkt des Pferdes, auch den rätselhaften Herrn Fisher finden werde.
Nach zweistündiger Rast verließen Roß und Reiter das Wirtshaus, und als sie gegen Mittag die Spitze eines Hügels erreicht hatten, erblickte Dr. Chancellor zu seinen Füßen eine weite fruchtbare Ebene und in der Ferne Kirchtürme sowie Dächer und Fabrikschornsteine, die Stadt Lancaster. Er fragte sich im Stillen verwundert, ob diese das Ziel seines Rittes sein werde, aber sein stummer Führer gab ihm bald eine verneinende Antwort darauf, indem er, am Fuße des Hügels angelangt, in einen Feldweg einbog und neuerlich noch fast zwei Stunden forttrabte, bis sie ein malerisch gelegenes Dörfchen erreichten.
Vor der Tür des Stallgebäudes einer kleinen, abseits stehenden Villa machte er Halt. Dr. Chancellor stieg ab, und das Pferd am Zügel führend, begab er sich nach der Vorderseite des Hauses. Hier ward ihm jedoch eine unangenehme Ueberraschung zuteil: alle Läden waren fest geschlossen, und an der Tür hing ein Zettel mit der Aufschrift: Zu vermieten.
Der Besitzer des Grundstücks, ein redseliger alter Herr, der in der Nachbarschaft wohnte, erzählte dem Rechtsanwalt auf dessen Ersuchen alles, was er über seinen letzten Mieter wußte, wobei auch sicher manches mit unterlief, was seiner eigenen Phantasie entsprang.
Im Februar des vergangenen Jahres, so berichtete Herr Bunce, habe ein gewisser Fisher die Villa für zwölf Monate gemietet. Er sei ein Fremder, wie es schien, ein Spanier gewesen, der seinen wirklichen Namen geheimhielt. Drei Monate vor Ablauf des Kontraktes habe er den ganzen Hausrat verkauft und die Gegend verlassen.
»Was mir sehr angenehm war«, fügte Frau Bunce, die ihrem Gatten an Redseligkeit nichts nachgab, hinzu. »Der Mensch machte einen unheimlichen Eindruck und brachte allerlei merkwürdige Herren hieher, wie man sie in diesem christlichen Land nicht gesehen hat, seit Königin Elisabeth die spanische Armada vernichtete. Ich konnte wahrhaftig manchmal nicht schlafen aus Angst, wir würden eines Morgens mit durchschnittener Kehle erwachen.«
Dr. Chancellor lächelte gefällig zu dieser spaßhaften Bemerkung der alten Dame, und es gelang ihm immerhin, den phantasiereichen Schilderungen des redseligen Ehepaares einiges zu entnehmen, was für seine Zwecke wertvoll war.
Er erfuhr erstens, daß dieser Fisher jedenfalls ein Ausländer war, der unter angenommenem Namen lebte und, obgleich er fließend englisch sprach, doch einen fremden Akzent hatte. Zweitens verließ Fisher seinen Wohnort am 12. November – einen Tag nach der Ermordung Francis Trinkalls und John Mowbrays letztem Besuch in diesem entlegenen Dörfchen Wilsley und einen Tag, bevor er nachweislich einen Scheck von 1000 Pfund in einer Londoner Bank eingelöst hatten
Diese wichtigen Ermittlungen entschädigten Dr. Chancellor einigermaßen für die Enttäuschung, den so eifrig gesuchten Fisher nicht gefunden zu haben. Gleichzeitig bestärkten sie ihn in seiner Ansicht, daß John Mowbray in eine politische Verschwörung verwickelt gewesen war, und daß er aus diesem Grund ein so unverbrüchliches Schweigen beobachtet hatte.
Das Dunkel, das die rätselhaften Ausflüge des Gutsherrn umgab, begann sich zu lichten, wenigstens glaubte Dr. Chancellor nun hinreichend zu sehen, um eine Lösung des Geheimnisses zustande zu bringen. Er sah sich für den langen Ritt aber auch noch durch ein anderes Resultat belohnt. Von Manningford bis Wilsley hatte er, einschließlich der zweistündigen Rast im Wirtshaus, zehn Stunden gebraucht. Der Rückweg beanspruchte mindestens die gleiche Zeit, selbst mit einem so ausdauernden Pferd, wie Don es war. John Mowbray konnte deshalb an jenem Tag Manningford auf keinen Fall vor Mitternacht erreicht haben, und seine Aussage vor Gericht, er habe die Turmuhr bei seinem Ritt durch das Dorf zwei Uhr schlagen hören, war nun durch Dr. Chancellors eigene Erfahrung bestätigt worden. Gelang es noch den Beweis zu liefern, daß John Mowbray am 11. November den genannten Fisher in Wilsley besucht hatte, so blieb kein Zweifel mehr an seiner Unschuld, und die Welt mußte dann wohl erkennen, daß der unglückliche Mann ein Opfer der Justiz geworden war.
Dr. Chancellor kehrte erst am folgenden Tag nach Manningford zurück, das er kurz nach sechs erreichte.
Die Damen hatten sich bereits in ihre Zimmer begeben, um sich für das Diner umzuziehen, und Dr. Chancellor mußte sich daher beeilen, seine staubigen Kleider zu wechseln, damit er noch rechtzeitig im Salon erscheinen konnte, um Frau Nilson zu Tisch zu führen.
Während des Essens bot sich ihm keine Gelegenheit, Helen Mowbray das Ergebnis seines Ausfluges mitzuteilen, denn sie waren schon am ersten Tag übereingekommen, in Gegenwart ihrer Tante weder den Namen ihres Bruders auszusprechen, noch über die zu dessen Rechtfertigung unternommenen Schritte zu reden, da Frau Nilson nach den entsetzlichen Ereignissen noch immer leidend war und Helen alles zu vermeiden wünschte, was die Tante an jene qualvollen Tage erinnern konnte.
So bezwang sie auch jetzt ihre Ungeduld, bis sich Frau Nilson nach beendeter Mahlzeit in ihr Zimmer zurückzog. Helen begleitete sie dorthin und begab sich dann klopfenden Herzens zu Dr. Chancellor zurück.
Er saß am Schreibtisch; vor ihm lagen eine Anzahl Briefe, die in den letzten zwei Tagen eingelaufen waren und mit deren Durchsicht er sich beschäftigte.
Bei Helens Eintritt erhob er sich und ging ihr entgegen.
»Sie wissen, nicht, wie sehr es mich verlangt, Ihren Reisebericht zu hören«, sagte sie, während sie sich vor dem Kamin niederließ. »Ich konnte es aus Ihrem Gesicht lesen, daß Sie gute Nachricht brachten.«
»Ist mein Gesichtsausdruck wirklich so verräterisch?« fragte Dr. Chancellor mit einem leisen Lächeln. »Für einen Rechtsanwalt ist das keine wünschenswerte Eigenschaft. Viel zu erzählen habe ich nicht, kann Ihnen aber doch sagen, daß meine Bemühung nicht ganz vergeblich war, wenn auch nicht so erfolgreich, wie wir es gewünscht hätten. Don erwies sich als ein ausgezeichneter Führer. Er brachte mich nach Wilsley, einem kleinen Ort nicht weit von Lancaster und acht volle Reitstunden von hier, also sechzehn Stunden hin und zurück, den Aufenthalt nicht mitgerechnet. Die kürzeste Frist für den Ritt dorthin und zurück wären demnach doch noch vierundzwanzig Stunden. Verstehen Sie, von welcher Bedeutung dies ist?«
»Gewiß«, entgegnete Helen. »Es bedeutet, daß, wenn John am 11. November Manningford um vier Uhr morgens verließ, er unmöglich zurück sein konnte, als Francis Trinkall ermordet wurde. Erzählen Sie mir aber jetzt alles, was Sie erfahren haben!«
»Meine zweite Entdeckung war, daß Herr Fisher am Tage, nachdem Ihr Bruder bei ihm gewesen war, Wilsley verlassen hat und daß am darauf folgenden Tag der Scheck in einer Londoner Bank eingelöst wurde. Wahrscheinlich ist Fisher dann nach dem Kontinent gereist. Letzteres läßt sich nur vermuten, würde aber vollauf erklären, weshalb er sich nicht meldete, obwohl doch so viel von seinem Erscheinen abhing. Zweifellos wußte er bei seiner Abreise nichts von dem Mord und ahnt vielleicht bis jetzt nicht, in welcher Gefahr er seinen Freund zurückließ.«
»Sie haben Herrn Fisher also gar nicht gesehen?« fragte Helen mit sichtlich enttäuschter Miene.
»Darüber müssen Sie sich nicht beunruhigen«, entgegnete Dr. Chancellor. »Ich habe bereits an unsere Agenten in London geschrieben, diesem Fisher nachzuspüren, und so werden wir wohl bald erfahren, wer er eigentlich ist. Den Namen Fisher hat er doch nur angenommen, um sich besser verbergen zu können. Man beschrieb ihn mir als einen Spanier, doch dürfte das wohl nicht richtig sein. Ein Ausländer war er allerdings, ebenso die Leute, die ihn in Wilsley aufsuchten.«
»War der Mann vielleicht ein Russe?« unterbrach ihn Helen aufgeregt.
»Das ist möglich«, antwortete Dr. Chancellor. »Aus diesem Grund habe ich auch unsere Londoner Agenten angewiesen, unter den russischen Flüchtlingen, die nach dem Krieg nach England gekommen sind, Nachforschungen anzustellen.«
»Sehen Sie dort dieses Bild?« fragte Helen, wie von einem plötzlichen Gedanken durchzuckt, indem sie auf ein meisterhaft gemaltes Oelbild, das ihnen gegenüber an der Wand hing, deutete. »Fällt Ihnen nichts daran auf?«
Das Bild zeigte eine Dame von großer Schönheit, mit leuchtenden dunklen Augen, feingeschnittenen Gesichtszügen und glänzendem, schwarzem Haar. Die schlanke Gestalt hatte etwas überaus Anmutiges und Graziöses.
Dr. Chancellor musterte das Gemälde.
»Ich sehe nur, daß es eine große Ähnlichkeit mit Ihrem Bruder hat«, sagte er.
»Ist Ihnen noch nicht der Gedanke gekommen, daß dieser Fisher, den Sie suchen, der Bruder meiner Mutter sein könnte? Sie war eine russische Baronin, und er heißt Sascha Karymow. Jetzt wird mir alles klar – aber zu spät.«
Vor innerer Erregung überwältigt, sank Helen schluchzend in einen Sessel.
Im nächsten Augenblick kniete Dr. Chancellor neben ihr.
»Ich kann es nicht ertragen, Sie so bekümmert zu sehen, Helen«, sagte er, seine Hand auf ihre legend. »Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen, daß Sie jetzt erst alles klar sehen. Beruhigen Sie sich und sagen Sie mir alles, was Sie denken.«
»Oh, ich war wirklich mit Blindheit geschlagen«, schluchzte das junge Mädchen fassungslos. »Ich hätte dies damals gleich erkennen sollen.«
»Und wenn das auch der Fall gewesen wäre«, suchte sie der Rechtsanwalt zu beruhigen, »was hätten Sie tun können? Die ganze Sache ist in ein tiefes Geheimnis gehüllt, das noch keiner von uns durchdringen konnte. Wenn wir alles wissen werden, wird es sich herausstellen, daß, hätten Sie auch schon früher gewußt, was Sie jetzt entdeckt zu haben scheinen, doch derselbe Schwur, der Ihrem Bruder selbst um den Preis des Lebens Schweigen auf erlegte, ebenfalls Ihre Lippen versiegelt hätte. Vertrauen Sie mir, Helen! Sagen Sie mir alles und lassen Sie mich Sie trösten, wie ich es jeden Tag und jede Stunde meines Lebens, seit ich Sie kenne, ersehnt habe.«
»Oh, Sie sind mir Trost und Stütze«, erwiderte das junge Mädchen dankbar. »Was wäre mein Leben wert ohne Sie?«
Er küßte nur schweigend ihre Hand und bat sie dann, ihre Geschichte zu erzählen.
»Ich will Ihnen alles berichten«, sagte sie, ihre Selbstbeherrschung zurückgewinnend, »und es wird Ihnen dann manches klar werden. Meine Mutter stammte aus einer Moskauer Adelsfamilie, starb aber bald nach meiner Geburt. Ihr Bruder war der Baron Karymow. Ich habe ihn nur ein einziges Mal gesehen, als ich noch ein ganz kleines Ding war, das kaum gehen konnte. Nach dem Krieg kam er nämlich hieher, und zwischen ihm und meinem Vater kam es zu heftigen Streitigkeiten. Ich glaube, daß es sich um Geldangelegenheiten handelte. Vielleicht verlangte er von meinem Vater die Mittel, irgendwelche Verschwörung gegen die Bolschewiken anzuzetteln, die er tödlich haßte. Wenigstens hörte ich meinen Vater öfters darüber reden. Seit jener Zeit verschwand er gänzlich aus unserem Gesichtskreis. Fünf Jahre verstrichen, ohne daß ich wieder von ihm gehört hätte. Erst durch John erfuhr ich wieder etwas von ihm, als er ihn in Paris getroffen hatte. Dann aber hat er meinen Onkel nie mehr erwähnt. Trotzdem bin ich überzeugt, daß John ihm bei ihrer damaligen Bewegung versprach, seine Pläne zu fördern und zu unterstützen, denn obgleich mein Bruder stolz war, ein Engländer zu sein, floß doch auch russisches Blut in seinen Adern. Er glich meiner Mutter außerordentlich, nicht nur im Aeußern, sondern auch im Charakter – impulsiv, leicht empfänglich, enthusiastisch, rasch im Handeln. Er war eigentlich ein Idealist, besaß aber dabei die Energie und den praktischen Verstand des Briten. Vielleicht werden Sie einwenden, ich sei zu voreilig in meinen Schlußfolgerungen, daß dieser Herr Fisher und mein Onkel Sascha ein und dieselbe Person seien. Nicht wahr, daß ist Ihre Meinung?«
»Durchaus nicht«, erklärte Dr. Chancellor ernst. »Ich glaube vielmehr, daß Ihre Ansicht die richtige sein dürfte.«
»Und so könnten wir nach Ihrer Meinung auf diese Art erklären, was uns bisher dunkel geblieben ist?«
»Ich bin fest davon überzeugt«, entgegnete Dr. Chancellor. »Es würde sich so zum Beispiel begreiflich machen lassen, wie Ihr Bruder als Engländer, der doch überdies auch von seinen eigenen Interessen in Anspruch genommen war, sich in die Wirren einer gegenrevolutionären Propaganda hineinziehen lassen konnte. Sein slavisches Blut und seine nahe Verwandtschaft mit dem Baron Karymow genügten, um dem letzteren eine solche Macht über den nach Ihrer Beschreibung so leicht empfänglichen Charakter seines Neffen zu geben. Hatte Ihr Bruder sich erst einmal verpflichtet, die gegenrevolutionäre Bewegung durch Zuwendung großer Summen materiell zu unterstützen, so war es natürlich, daß er über seine Rolle bei diesen Bestrebungen unverbrüchliches Schweigen beobachtete, um nicht das Leben des Grafen zu gefährden und der gemeinsamen Sache Schaden zu bringen. Das wäre aber zweifellos geschehen, wenn er vor Gericht das Ziel seiner Ausflüge sowie den Zweck angegeben hätte, der ihn damals nach Wilsley führte. Wir wissen ja alle, daß die Bolschewiken bei uns eine starke Propagandaaktion für ihre Ideen betreiben, und es steht außer allem Zweifel, daß sie Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hätten, um die Organisation, der Ihr Onkel angehörte, zu vernichten. Das macht nun auch erklärlich, warum Ihr Bruder in so heldenmütiger Weise dem Tod ins Auge schauen konnte. Da sich sicher viele Mitglieder der gegenrevolutionären Bewegung augenblicklich in Rußland befinden, so wäre es ihr sicherer Tod gewesen, wenn ihre Namen der Sowjet-Regierung bekannt geworden wären.«
»Dann muß ich mich damit abfinden«, sagte Helen aufatmend. »Bin ich auch mit Leib und Seele Engländerin und die echte Tochter meines Vaters, so liebe ich doch auch die Nation meiner Mutter. Wenn John sein Leben für Rußland ließ, was liegt daran, wie und wo er starb? Die einen opfern sich für ihr Land als Soldaten, die anderen auf dem Schafott, aber die heilige Sache hat auch dieser Todesart alles Entehrende genommen.«
Helen Mowbray sprach mit einem Ernst, der ihrer Schönheit einen großen Zauber verlieh. Sie war aufgestanden, ihre Augen leuchteten, ihre Wangen glühten und ihre Brust hob und senkte sich vor innerer Bewegung.
Dr. Chancellor fühlte, wie er schwach wurde. Das Verbot, das sie ihm auferlegt hatte, von seiner Neigung zu reden, bis das gemeinsame Ziel erreicht war, war vergessen. In ihm raste und tobte es, und er mußte alle Kraft zusammennehmen, um nicht in diesem Augenblick auf sie zuzustürmen und sie in seine Arme zu schließen.
»Helen«, sagte er mit tiefbewegter Stimme, »hören Sie mich an! Lassen Sie mich endlich offen gestehen, was mir schon so oft auf den Lippen lag und was ich Ihnen längst verraten hätte, wenn Sie nicht so unnahbar gewesen wären. Aber es wird mir immer schwerer, eine Leidenschaft zu verbergen, die stärker ist als alles andere, was ich jemals von dieser Art gespürt, Sehen Sie, Helen, ich bin kein junger Mann mehr, der leicht entflammt, weil ihn die Sehnsucht nach der Frau jedes weibliche Wesen als eine Gottheit erscheinen läßt. Ich habe das Leben kennengelernt, und doch glaube ich erst seit kurzem zu wissen, was es heißt zu lieben. Sie dürfen mir nicht länger verbergen, ob ich hoffen darf, und ich bitte Sie nur um eines: ersticken Sie nicht gewaltsam die Stimme Ihres Herzens aus Furcht vor dem Urteil der Welt!«
»Das Urteil der Welt fürchte ich nicht«, entgegnete Helen in steigender Erregung, »und ich fürchte mich nicht mehr offen zu reden. Nur für Sie habe ich gezittert; einzig und allein der Gedanke an all die Qualen und Demütigungen, die Sie erleiden müßten, wenn Sie mich, die Entehrte, zur Gattin erwählten, gab mir die Kraft, Ihrer Liebe zu widerstehen und die eigenen Gefühle zu unterdrücken. Mein Herz braucht nicht erst gewonnen zu werden, Sie haben es längst erobert. Was Sie aber nicht überwinden können, das ist meine Vernunft, die sich gegen eine Verbindung sträubt, die Ihnen nur Nachteil bringen kann. Begreifen Sie es denn nicht, daß es mir unmöglich wäre, meinen ehrlosen Namen mit dem Ihrigen zu vereinen, und daß es besser ist, ich bereite Ihnen jetzt einen kleinen Schmerz, um Sie vor einem größeren zu bewahren?«
Sie sprach ernst und eindringlich, doch Dr. Chancellor achtete nicht darauf. Der Bann war gebrochen, und die so lange zurückgehaltene Leidenschaft brach unaufhaltsam hervor.
»Wenn Sie mir Ihr Glück anvertrauen, Helen«, sagte er, ihre Hände ergreifend, »warum dann nicht auch Ihre Ehre? Und selbst wenn ich Ihrer nicht würdig wäre, müßte ich nicht am besten beurteilen können, worin mein eigenes Glück und meine eigene Ehre besteht? Sie sprechen von einem ›kleinen Schmerz‹ – Jahre der Trennung würden die Wunde nicht schließen. Doch warum müssen wir einander quälen? Es muß ja nicht sein. Sie haben mir selbst gestanden, daß Sie meine Neigung erwidern. Und haben wir nicht auch einen gemeinsamen Lebenszweck, ein gleiches Ziel? Glauben Sie, daß mir die Rechtfertigung Ihres Namens nicht ebensosehr am Herzen liegt wie Ihnen? Nicht nur, weil ich es dem Toten gelobte, sondern noch mehr um Ihretwillen, Helen! Lassen Sie uns gemeinsam Hand in Hand unsere Mission vollenden! Geben Sie mir das Recht, vor der Welt als der anerkannte Verteidiger Ihrer Sache zu erscheinen, ein Recht, das mir keiner streitig machen würde, wenn man wüßte, daß ich Ihr Verlobter wäre. Sagen Sie nicht nein, Helen, sagen Sie –«
»Ja«, kam es leise, ganz leise über die Lippen des jungen Mädchens; und sie wehrte sich nicht mehr, als er sie in stürmischer Leidenschaft an sich zog und ihr erglühtes Gesicht mit unzähligen Küssen bedeckte.