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10.

Es war zwei Tage nach diesem Gespräch, als Joe Jannion von Avonbridge zurückkehrte, wo er sich einige Tage aufgehalten hatte.

Mit dem Glockenschlag zehn trat er in das Bureau Dr. Chancellors.

»Ah, Jannion, Sie sind's?« begrüßte ihn der Rechtsanwalt in herzlichem Ton. »Niemand ist in Lancaster so vermißt worden wie Sie.«

Jannion schmunzelte vergnügt über dieses Kompliment, während seine kleinen grauen Augen lustig zwinkerten.

»Setzen Sie sich an den Kamin«, lud ihn Dr. Chancellor ein, »und machen Sie sich's bequem! Ich möchte mancherlei mit Ihnen besprechen. Sie haben doch sicherlich von der schrecklichen Geschichte gehört, die sich hier während Ihrer Abwesenheit zugetragen hat?«

»Gewiß«, erwiderte Jannion.

»Ah, dann kennen Sie ja sicher auch den Tatbestand. Wir brauchen also nicht weiter darauf einzugehen. Leider sind Sie zu spät gekommen, um John Mowbray, von dessen Unschuld ich absolut überzeugt bin, zu retten. Aber die Hinterbliebenen wollen alles aufbieten, den Flecken, der seinem Namen anhaftet, zu tilgen. Es gilt der Welt zu beweisen, daß John Mowbray das Opfer eines Justizmordes geworden ist, Sie verstehen mich?«

»Vollkommen!« nickte Jannion. »Sie möchten also den wahren Täter finden?«

»Das ist meine Absicht. Es fragt sich nur, wie wir es am besten anfangen. Wenn Sie die Zeitungsberichte durchgesehen haben, muß es Ihnen aufgefallen sein, wie sehr der Umstand, man habe zu jener Zeit keinen Fremden in Manningford bemerkt, hervorgehoben wurde. Es wäre ja nach der allgemeinen Ueberzeugung unmöglich gewesen, daß ein solcher hätte kommen und gehen können, ohne bemerkt zu werden. Aus diesem Grunde beschränkte die Polizei ihre Untersuchungen auf die nächste Umgebung von Manningford, da sie annahm, daß der Mörder innerhalb des von ihr gezogenen Kreises zu finden sei. Ihr Vorgehen war daher ungewöhnlich einfach. Wie alle Welt wußte, hegte niemand in Manningford Groll gegen Trinkall außer Herrn Mowbray, der unglücklicherweise wiederholt Drohungen gegen seinen Nachbarn ausgestoßen hatte. Und da er kein Alibi nachweisen konnte und wollte, so führte das schließlich zu seiner Verurteilung und Hinrichtung, obwohl wir gewiß alles taten, um ihn zu retten.«

»Das ist mir alles sehr gut bekannt«, bemerkte Jannion.

»Für seine Schwester hat er einen Brief hinterlassen«, fuhr der Rechtsanwalt fort, »dessen Siegel nicht vor Ablauf eines Jahres geöffnet werden sollen. Doch um auf die Sache zurückzukommen: ist John Mowbray, wie ich glaube, einem Justizmord zum Opfer gefallen, so liegt es auf der Hand, daß die Polizei von falschen Voraussetzungen ausgegangen ist. So unwahrscheinlich es auch klingen mag, daß ein Fremder in Manningford auftauchte und dann spurlos verschwand, so müssen wir doch an dieser Annahme festhalten und demgemäß unsere Nachforschungen beginnen.«

»Haben Sie schon einen Plan entworfen?« fragte Jannion

Dr. Chancellor wiegte nachdenklich den Kopf hin und her.

»Das ist nicht so leicht«, erwiderte er nach einer Pause. »Könnten wir ausfindig machen, wie Trinkall, wenn er verreist war, seine Zeit verbrachte, wohin er ging und mit wem er verkehrte, so würden wir vielleicht jemand entdecken, der Trinkall nach dem Leben trachtete. Eine merkwürdige Erscheinung ist Trinkhalls unbestrittene Beliebtheit. Seine Freundlichkeit gegenüber Untergebene, seine Art und Weise, mit den Arbeitern umzugehen, seine gewinnenden Manieren machten ihn überaus populär. Das bestärkte die Polizei und viele andere in der Mutmaßung, daß nur Mowbray der Mörder sein könne. Doch diesen Gedanken wollen wir ganz fallen lassen. Nehmen wir vielmehr an, daß die Tat von einem Fremden verübt worden sei. Sieht es nicht ganz so aus, als wenn Trinkall durch eine Art geheimnisvolle Verschwörung gefallen sei?«

»Oder vielleicht steckt auch eine Frau dahinter«, bemerkte Joe Jannion.

»Auch das ist möglich«, gab der Rechtsanwalt zu. »Auf jeden Fall ist es von größter Wichtigkeit die Vergangenheit Trinkhalls zu erforschen. Es mag dies eine langwierige Arbeit sein, die uns aber, wie ich überzeugt bin, schließlich unserem Ziel näher bringen dürfte. Ich möchte daher vorschlagen, daß Sie in Avonbridge und Manningford Erkundigungen einziehen. Ich weiß, daß Trinkall manchmal verreiste. Es wird Ihnen sicher nicht schwer fallen zu erfahren, wohin er sich begab.«

»Das ist kein schlechter Gedanke«, stimmte Jannion zu. »Ich bin ganz Ihrer Ansicht: je mehr wir über Trinkall erfahren, desto schneller werden wir ans Ziel gelangen.«

»Gleichzeitig müßten wir aber noch eine andere Spur verfolgen, die vielleicht nicht weniger wichtig ist«, fuhr Dr. Chancellor fort. »Die Geschichte mit dem Armband scheint doch sehr merkwürdig. Nicht etwa deshalb, weil man es so nahe dem Schauplatz des Verbrechens fand – das könnte, wie die Polizei annahm, ein Zufall sein – nein, sondern deshalb, weil es die Initialen von Frau Trinkalls Mädchennamen trägt.«

»Pah, das will nichts sagen«, warf Jannion ein. »Wie viele Leute haben gleichlautende Initialen!«

»Das ist richtig« gab Chancellor zu. »Mir ist das auch schon eingefallen. Ich selbst kenne zum Beispiel hier in Lancaster ein junges Mädchen, das dieselben Anfangsbuchstaben in seinem Namen hat: A. S. L.«

»Wie heißt sie?« fragte Jannion interessiert.

»Sie kennen doch Frau Pritchard, die die Wäscherei in der Nelson Street hat?«

»Gewiß.«

»Bei ihr wohnt eine Pensionärin, ein Fräulein Alice Scobell Lester, die mir einmal in einer Rechtsangelegenheit einen Brief geschrieben hat.«

»Könnte das Armband ihr gehören?«

»Gott, unmöglich ist es ja nicht! Obwohl sie sicher damals in den Zeitungen von dem Fund gelesen hat, hat sie es nicht als ihr Eigentum reklamiert. Andererseits ist bisher kein Verdacht auf sie gefallen. Es haben ja übrigens sicher noch eine große Anzahl Leute die gleichen Initialen.«

»Und wer ist dieses Fräulein Lester?« fragte Jannion.

»Ich kann Ihnen nichts Näheres sagen. Sie ist vor einiger Zeit nach Lancaster gekommen und lebt sehr zurückgezogen. Ihr Ruf ist, soviel ich weiß, nicht der beste, und sie dürfte ihren Lebensunterhalt aus einer sehr eindeutigen Beschäftigung ziehen. Immerhin kann das auch nur Stadtklatsch sein.«

»Nun, vielleicht sehen Sie sich die Dame einmal an, während ich meine bisherige Spur weiterverfolge. Haben Sie das Armband gesehen?«

»Gewiß! Dr. Gazabee besichtigte es während der Gerichtsverhandlung, und ich sah es mir bei dieser Gelegenheit selbst an.«

»Und untersuchten Sie es genau?«

»Nein, es war ja nichts Auffallendes daran, ein einfacher Goldreif mit erhabenem Monogramm in Rubinen und Saphiren.«

»Wenn ich nicht irre, zeigte es viele Schrammen«, bemerkte Jannion.

»Ganz recht, an der Innenseite sah es sehr zerkratzt aus.«

»Kam Ihnen nie der Gedanke, diese Schrammen könnten eine besondere Bedeutung haben?« fragte Jannion.

»Ich dachte einmal, sie seien vielleicht aus Mutwille oder um das Schmuckstück zu verunstalten, gemacht worden.«

»Das ist alles?«

»Ja. Dr. Gazabee wußte auch nichts damit anzufangen. Er versuchte zwar ein Zugeständnis von den Aerzten zu erlangen, daß die Tat möglicherweise von einer Frau verübt worden sei. Aber sie bestritten dies energisch, und so wollte er den Geschorenen gegenüber nicht allzu viel Gewicht darauf legen. Er bemerkte nur, das Armband sei vielleicht ein Anhaltspunkt, den die Polizei übersehen habe.«

»Dr. Gazabee ist ein sehr kluger Mann, aber es war ein Fehler, der Sache nicht auf den Grund zu gehen.«

»Meinen Sie?«

»Ganz sicher. Ich werde Ihnen jetzt eine kleine Überraschung bereiten Herr Doktor, und Ihnen etwas mitteilen, was Sie wahrscheinlich sehr in Staunen versetzen wird. Ich war gestern in Avonbridge.«

»In Avonbridge?« wiederholte Dr. Chancellor verwundert. »Was taten Sie dort?«

»Ich wollte das Armband sehen, bevor ich mit Ihnen zusammentraf.«

»Und – was entdeckten Sie?« fragte der Rechtsanwalt gespannt.

»Nur Geduld, ich werde ihnen alles erzählen. Da ich vermutete, daß die Schrammen eine Bedeutung haben könnten, erbat ich mir das Armband für einige Zeit, um es mir in Ruhe näher anzusehen.«

Er zog das Armband aus der Tasche und reichte es dem Rechtsanwalt.

»Ah! Man hat es Ihnen also anvertraut?«

»Warum nicht? Ich bin mit einem Polizeiinspektor von Avonbridge befreundet, und er kennt mich sehr gut von früheren Kriminalaffären her.«

Dr. Chancellor ging zum Fenster und begann neuerlich das Schmuckstück von allen Seiten zu untersuchen.

»Nun, können Sie etwas aus den Schrammen herauslesen?« fragte Jannion lächelnd.

»Allerdings nicht«, erwiderte Dr. Chancellor. »Es würde jedenfalls viel Zeit beanspruchen, aus diesem Gemisch von Strichen und Kreuzen eine Bedeutung herauszufinden.«

»Das denke ich nicht«, widersprach Jannion gelassen. »Drehen Sie das Ding einmal um und betrachten Sie diese Hieroglyphen durch ein Vergrößerungsglas!« Und er reichte ihm ein solches. »Sagen Sie mir jetzt, was Sie sehen!«

Chancellor prüfte die Schrammen sorgfältig, dann antwortete er kopfschüttelnd:

»Ich bemerke wohl eine Anzahl sehr kleiner Buchstaben; sie sind aber zu verkratzt, um sie unterscheiden zu können.«

Jetzt war der Augenblick des Triumphes für Jannion gekommen. Er zog einen Abdruck in schwarzem Siegellack hervor, von dem sich eine Inschrift in kleinen, weißen Buchstaben abhob, die mit Hilfe des Linsenglases deutlich erkennbar war. Eine dunkle Röte stieg dem Rechtsanwalt ins Gesicht, als er die folgenden Worte las:

»Trennt uns auch das weite Meer,
Frank und Nany kann allein der Tod noch scheiden.«

             Frank Trinkall 19..«

Wie versteinert blickte Dr. Chancellor auf dieses wichtige Beweisstück in seinen Händen. Eine heftige Erregung überkam ihn. Joe Jannion, der die Brust geschwellt vor Stolz über seine Entdeckung, vergnügt vor sich hin schmunzelte, klopfte ihm auf die Schulter.

»Was für eine unglückliche Sache!« murmelte Dr. Chancellor noch immer fassungslos. »Wie konnten wir alle so blind sein?«

»Sie brauchen sich keinen Vorwurf zu machen«, beschwichtigte ihn Jannion. »Es war nur das Ei des Kolumbus. Wenn es gemacht ist, sieht es leicht aus. Man muß eben darauf kommen.«

»Und die Ehre fällt Ihnen zu«, entgegnete Dr. Chancellor in ehrlicher Bewunderung. »Erzählen Sie mir doch, wie Sie es herausfanden.«

»Ein anderes Mal sollen Sie die Geschichte hören«, wehrte Jannion ab. »Bleiben wir jetzt bei der Sache. Die Polizei ging von der Annahme aus, es habe sich zur Zeit des Mordes kein Fremder in Manningford befunden. Diese Theorie ist falsch. Sie behauptet ferner, nur John Mowbray habe Ursache zur Feindschaft gegen Trinkall und somit ein Motiv für das Verbrechen gehabt. Auch das ist falsch. Die Aerzte behaupten, die Stichwunden könnten nicht von der Hand einer Frau herrühren. Mir scheint, auch das ist nicht erwiesen.«

»Aber wir haben doch keine Gegenbeweise unterbrach ihn Dr. Chancellor. »Es ist sehr gut denkbar, daß ein Mann den Mord im Auftrag einer Frau verübt hat.«

»Nein, nein«, widersprach Jannion, »ich für meine Person glaube nicht daran. Doch sehen wir weiter. Eine Fremde kam nach Manningford und ließ als Zeugen ihrer Anwesenheit eine Armbanduhr und den ermordeten Francis Trinkall am Tatort zurück. Ihr Vorname war Nany, vielleicht eine Verstümmelung von Annie. Das klingt englisch genug. Trinkall und Nany kannten einander von früher her, sie waren ein Liebespaar, wie der Vers auf dem Armband zeigt. Trinkall hatte sich vor nicht langer Zeit verheiratet. Was sagte die ehemalige Geliebte dazu? Hatte er ihr die Ehe versprochen und sie betrogen? War die Entdeckung seiner Heirat die Veranlassung zu ihrer Reise nach Manningford? Trinkalls Verletzungen wurden ihm mit einer zweischneidigen Waffe, das heißt mit einem Dolch beigebracht. Von der Dolchspitze könnten auch die Schrammen auf dem Armband herrühren.«

»Das alles klingt ein wenig phantastisch«, warf der Rechtsanwalt ein.

»Aber durchaus nicht«, entgegnete eifrig Jannion. »Die Geschichte erscheint mir klar wie das Sonnenlicht. Sie muß sich im Verlauf der letzten zwei Jahre abgespielt haben. In dieser Zeit trat Nany in Beziehungen zu Francis Trinkall. Sie sehen, weshalb ich Ihrem Vorschlag, uns über Trinkalls Vergangenheit zu informieren, so bereitwillig zustimmte. Ich werde also nochmals nach Avonbridge fahren, und wenn wir nur erst wissen, wo sich Trinkall während seiner Abwesenheit von Manningford aufhielt, und diese Nany aufgespürt haben, so ist das übrige ein Kinderspiel.«

Die Entdeckung auf dem Armband, das im Zusammenhang mit dem Mord sein mußte, weil es unzweifelhaft ein Geschenk Trinkalls an seine Geliebte war, hatte Dr. Chancellor aufs höchste überrascht. Er wunderte sich jetzt, daß es ihm nicht eingefallen war, Joe Jannions Untersuchungsmethode zu befolgen, um festzustellen, ob das Armband nicht doch etwas mit dem Mord zu tun hatte. Zugleich aber rief ihm diese Entdeckung den seltsamen Zwischenfall mit der Fremden ins Gedächtnis zurück, die ihn nach seinem Abschiedsbesuch bei John Mowbray angesprochen hatte.

Wer war die Frau gewesen, die ihm so kurz vor der Hinrichtung in so geheimnisvoller Weise entgegengetreten? War es nur eine Neugierige gewesen oder nahm sie tieferen Anteil an dem Schicksal John Mowbrays? War sie vielleicht die Frau, um derentwillen der Verurteilte geschwiegen hatte und die nun, allerdings zu spät, das Gewissen hertrieb, um ihn im letzten Augenblick zu retten? Oder war es jene Frau, die nach Jannions Meinung mit dem Mord im Zusammenhang stehen mußte? War es die Mörderin gewesen?

»Halten Sie es denn für denkbar«, fragte er nach einer Pause, »daß der Mord von einer Frau verübt werden konnte?«

»Gewiß!« nickte Jannion. »Immerhin wollen wir auch alle anderen Vermutungen nicht beiseite legen, bis wir Genaueres über Trinkall in Erfahrung gebracht haben.«

Dr. Chancellor erzählte ihm nun von seiner Begegnung mit der Fremden, wobei er nicht vergaß, ihr seltsames Benehmen zu schildern.

Jannion dachte eine Weile nach.

»War sie groß?« fragte er.

»Nein, eher klein«, antwortete Dr. Chancellor.

»Und würden Sie sie wiedererkennen?«

»Das wage ich nicht zu behaupten. Es war schon sehr dunkel, die Begegnung war sehr plötzlich und ich selbst zu sehr in Gedanken vertieft, da ich von einer letzten aufregenden Unterredung mit John Mowbray kam. Zudem erschienen ihre Züge durch die Angst, die aus ihnen sprach, gewissermaßen entstellt. Sie sprach ein akzentfreies Englisch, und jedenfalls kam es mir vor, als wenn sie nicht aus dieser Gegend wäre.«

»Nun, wir wollen sehen, ob sich diese Frau finden läßt«, antwortete Jannion und machte sich einige Notizen in sein Notizbuch. »Und jetzt, denke ich, begebe ich mich nochmals nach Avonbridge.«

»Darf ich das Armband behalten?« fragte Dr. Chancellor. »Ich habe eine bestimmte Absicht damit, und außerdem möchte ich es Fräulein Mowbray zeigen.«

»Behalten Sie es nur, bis ich von Avonbridge zurückkomme!« antwortete Jannion. »Ich habe vorläufig keine Verwendung mehr dafür.«

»Besten Dank!« entgegnete Dr. Chancellor. »Sie ahnen nicht, welche Wohltat Sie Fräulein Mowbray erwiesen haben. Sie wird über Ihre Entdeckung glücklicher sein, als wenn sie alle Schätze der Welt erhalten hätte.«

»Sagen Sie Fräulein Mowbray, sie möge nicht verzweifeln. Wir fangen erst an. Aber Joe Jannion hofft zuversichtlich, daß seine Arbeit kein Mißerfolg sein wird.«


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