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Verschmerzen werd' ich diesen Schlag, das weiß ich,
Denn was verschmerzte nicht der Mensch!
Doch fühl' ich wohl, was ich in ihm verlor.
Schiller.
Als an den Flanken der Berge der neue trübe Tag herunterkroch in das geschändete Tal, da fand er statt einer friedlichen und emsigen Stadt einen rauchenden, stinkenden Trümmerhaufen. An den Hängen vor der Mauer klebten unversehrt die armseligen Hütten, von denen einmal eine Stimme prophezeit hatte, daß sie aus den Letzten die Ersten werden würden.
Ein paar steinerne Häuser – nicht mehr als vier oder fünf – hatten sich notdürftig aufrechterhalten. Sie, die auf gutem altem Stadtgrund standen, wurden, wie Pilzbrut, der Ausgangspunkt für neues Leben.
Der Herbstwind fegte den Brandqualm aus dem Tal, wenn er auch viel Zeit dazu brauchte, weil wochenlang die Trümmer glosteten und der Schutt nicht kalt werden wollte. 344
Und einmal klang sogar wieder einer Glocke Ton über die Verwüstung hin. Nicht voll, hell und von oben her wie einst; steckte doch auch in dem Erz noch der Schrecken und der tiefe Jammer.
Aus dem Schutt des Kirchleins über der Brücke hatte Philipp Kleinmann, der Tuchmacher, die Glocke ausgegraben. Mit schmerzenden Armen und verbundenem Kopf tat er die Arbeit. Vielleicht im Gedenken an jene Stunde, da ihm die Glocke den Weg zur Liebsten gezeigt.
Mit Ezechiel Adler, dem Mesner, dem die Glockenstränge fast unter den Händen verbrannt waren und dem nichts geblieben war als sein Pudelhund und die Salome mit ihrem Erstgeborenen – mit ihm zimmerte Philipp Kleinmann ein Gerüst aus halbverkohlten Balken. Daran ward die zerbeulte Glocke aufgehängt, an der der Schwengel fehlte.
Der Spezial kam dazu und sah der beiden Männer Werk. Er klopfte an das Erz, schüttelte müd den Kopf und meinte, da könne nichts Rechtes werden.
Die beiden sagten nichts. Sie schauten nur dem Davonschreitenden nach.
Aus der zerstörten Werkstatt seiner Sara holte der Große einen Hammer. Den schwersten nahm 345 er nicht, der paßte nicht für die Glocke und nicht für den kleinen Schneider. Auch den, nach dem der Schmiedknecht damals greifen wollte, ließ er liegen. Der paßte nicht für den heiligen Dienst.
Einen blanken, kleinen wählte er aus und brachte ihn dem Mesner.
»Schlag zu, aber tu der Glocke kein Leid!« sagte er mit einem scheuen, kaum wiedergewonnenen Lächeln und strich mit der zerschundenen Hand liebkosend über das Erz.
Als aber die kurzen und harten Töne aus den Schuttmassen heraussprangen wie etwas Lebendiges aus einem Totenacker, da griffen sie nach den Herzen und trugen Hoffnung hinein und neuen Mut. Bald nach der Glocke klang auch der Amboß wieder.
Aus allen Hammerschlägen heraus erkannte die braunhaarige Sara diejenigen ihres Eheherrn, der sich vom Webstuhl abgewendet hatte und nun die Schmiede leitete, als sei er nie etwas anderes gewesen.
Dort, wo einst das Siechenhaus und das Kirchlein stand, waren jetzt Gärten. Einer davon gehörte zur Schmiede. Eine uralte, fast taube Frau und die schöne Esther waren oft zwischen den sonnigen Beeten zu finden. 346
»Des Bürgermeisters Esther« nannte man die Schöne in der Stadt. Niemand wußte, wer ihr den Namen aufgetrieben. Mit wehem Glanz lag ihr Schicksal um sie her und machte sie zu einer Art Vermächtnis des Toten, der in allen lebendig blieb.
Am lebendigsten wohl in dem Kreis, der sich eines Tages in der Apotheke wieder zusammenfand.
Als könnte der, an den sie alle dachten, jeden Augenblick eintreten, ließen die Männer einen Platz oben am Tische leer.
Des kleinen Doktors Haar war weiß geworden. Schwere Dämpfung lag über dem einst so Heißblütigen. Aber wenn auch das Feuer in ihm mit stillerer Flamme brannte – erloschen war es nicht, das sah man am Blick der Augen.
Noch immer waren es die letzten Fragen, die tiefsten Rätsel des Seins, an denen sich die Herren mühten. Vielleicht waren ihnen noch neue dazu gekommen seit jenem letzten Mal, da man so jäh und viel zu früh auseinanderging.
Was mochte aus dem dunklen Gesellen geworden sein, der damals dabei war?
»Der war ein Spion der Welschen, nichts anderes,« entschied der Doktor, »sonst wäre er nicht mit ihnen verschwunden.« 347
Der Magister hob den Kopf, als wolle er etwas sagen. Aber dann schwieg er. Nicht aus Untreue gegen den fremden Zugvogel. Er spürte nur, daß das, was er zu sagen hatte, das Rätsel des Entschwundenen nicht lösen konnte; es mochte höchstens Neugier stillen, und dazu war die Stunde nicht.
Und dann das eine, das quälende Rätsel, das alle seit der Brandnacht in sich trugen: Wie war der Bürgermeister gestorben? Gestorben, als die Trommel zum schmachvollen Tod rief? Ein Schlagfluß? Der Doktor winkte ab, als sei der Gedanke sinnlos. Niemals habe dieses ruhige, gesunde, noch unverbrauchte Herz im Dunkel jener Stunde versagt.
Gift? – Der Apotheker lächelte und schüttelte den weißen Kopf. Er selbst hatte das volle Fläschchen, aus dem höchstens ein paar Tropfen fehlen konnten, aus des Toten Hand genommen. Wasser war darin, nichts als ganz gewöhnliches Wasser, wie jeder Brunnen es dem Durstigen spendet. Er selbst, der Apotheker, hatte auf des wütenden Kapitäns Befehl aus dem Fläschchen trinken müssen.
Sie schauten alle schweigend vor sich nieder. Die furchtbare Stunde war wieder da, der Fackelschein, der Qualm, die Rutengasse, der Trommelwirbel, das Toben des Kapitäns. 348
Und dann, als wolle er allen Lärm und alles Grauen um sich niederschlagen, der still lächelnde Verurteilte, den keine Rute mehr zu schänden und keine mehr zu wecken vermochte – – – –
Der blasse Mann mit dem spitzen Knebelbart, der Vater der jungen Elisabeth, hob jetzt den Kopf. Mit seiner bedächtigen und leisen Stimme sagte er: »Wir wollen glauben: er starb an Gottes Gnade.«
Ganz still war es im Kreis. Leis knisterte die Ampel.
Ende