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O Schwester, es gibt Hausierer,
Die mehr auf sich haben,
Als du dir vorstellt.
Shakespeare. Wintermärchen.
Hoch über der Stadt, an einem der Waldränder hin, lief ein sandiger Weg, den alte Birken und Lärchen prächtig säumten. Man sah von dort die Häuserschar hinter der Mauer, wie sie sich gleich einer eingepferchten Herde drängte, und man sah ins grüne Flußtal hinab, wo die Berge wie mächtige Kulissen hintereinandertraten.
Zwei eckige Türme aus dem roten Stein dieser Berge ragten nordwärts über die Höhen und schauten talauf. Bei guter Sicht mochte mehr zu erblicken sein; heut war die Ferne trüb und verhangen.
Vornübergebeugt, in den erborgten Mantel gehüllt, saß unter den Lärchen der Fahrende auf einem Stein. Vielleicht schlief er nach der nahezu durchwachten Nacht; denn er rührte sich nicht und blickte auch nicht auf, als auf dem nassen Sandweg ein Schritt nahte. 243
Hart neben dem Ruhenden blieb der Daherkommende stehen.
Der Fahrende sah große silberne Schnallen an nassen Männerschuhen; aber er hob den Kopf noch immer nicht.
»Ihr seid's?« fragte jetzt eine bedeckte, angenehme Stimme, die der Fremdling schon in der Apotheke gehört hatte.
Er blickte empor. Jener Magister stand da, der die Perücke damals abgenommen hatte.
Jetzt trug er sie und einen kleinen runden Hut darauf. Dazu einen braunen Leibrock, seidene Weste und Kniehosen. Wohlhabend und gepflegt sah der Mann aus, vielleicht ein wenig allzu gepflegt neben dem zusammengekauerten Abenteurer.
»Ah,« sagte dieser jetzt gedehnt, »auch Euer Liebden sind so früh da oben?«
»Es ist mein täglicher Gang vor des Tages Arbeit.«
Der Schwarze stand auf. Es lag wenig Höflichkeit in der bedächtigen Langsamkeit, mit der er es tat. Den Mantel zog er zusammen. »Es ist frisch. Der Sommer ist dahin.«
Der Magister lächelte. »Bis dato gebärdet sich der Herbst noch sommerlich.« 244
Der andere schaute flüchtig auf den Sprecher. Abweisend klang's: »Warum sollte er nicht? Jeder soll tun, was er vermag.«
»Gewiß. Und scheinen, was er kann,« bestätigte der Magister.
Sie schritten jetzt beide aus; der Fremde ein wenig voraus, als liege ihm wenig an der Gesellschaft.
Es krochen eine Menge schwarzer und roter Schnecken durch den nassen Wegsand; man sah die schleimigen Spuren sich kreuzen.
Halblaut sagte der Magister: »Aus Schnecken pflegte Doktor Fronsekki –«
»Erzählte ich nicht, daß er tot sei?« fiel nachlässig der andere ein, »an irgendeinem Gift elend gestorben.«
Eine Weile blieb's still, dann fragte der Magister von hinten her: »Und was ist nun?«
Der andere lachte. Ohne zurückzuschauen, dem Weißkopf immer einen Schritt voraus, sagte er: »Ihr erinnert mich an einen, der so zäh im Fragen war, daß er sich von der Jurisprudentia ab und der Gottesgelahrtheit zuwandte, weil es hier allein für jede Frage eine Antwort gibt.«
»Ihr irrt,« sagte ruhig der Magister, »er kam auch da nicht auf seine Kosten und wurde hernach 245 ein Schulmeister. Das ist er noch heute, wenn Ihr es wissen wollt.«
Der Fahrende nickte. »Ja ja, wenn man beim Lernen in einen Sumpf gerät, dann fängt man gerne zu lehren an. Das habt nicht Ihr allein so gehalten, Doktor Klaudius.«
»So heiße ich hier nicht,« entgegnete der andere, »das war nur dazumal mein Verfassername, den hier keiner kennt. Hier heiße ich Scholl.«
Jetzt wandte sich der Schwarze zurück und lachte auf. »Also sogar Ihr habt zwei Gesichter? Was müßt Ihr dann mir zugestehen? –«
Der Magister sagte nachdenklich: »Man gestand Euch immer etwas Besonderes zu, weil man Besonderes von Euch erwartete.«
Des anderen Stirne zog sich zusammen. »Und das hätte ich nicht geleistet? – Was wißt Ihr eigentlich von mir?«
Offenen Blicks schaute ihn der Gefragte an. »Nun, Euer neuer Name, Euer Gesicht – –«
Der Fahrende wartete; aber der Magister vollendete nicht. Da lachte der Schwarze. »Mein Name, mein Gesicht! – Gestern war's anders, morgen kann's anders sein. Wer den Strom erblicken will, darf doch nicht auf die Wellen schauen!« 246
Er schritt weiter unter dem nassen Geäst der Lärchen hin, so daß die Tropfen Hut und Mantel näßten.
Der Weißkopf trat ihm an die Seite. Seine Stimme hatte einen wärmeren Klang, als er jetzt fragte: »Haben wir übrigens nicht einmal nach einem hitzigen Streit miteinander Bruderschaft getrunken in Falerner? –«
Der Fremdling gab nicht sofort Antwort.
»Falerner?« klang es dann kühl, »es wird wohl Wasser beigemischt gewesen sein, sonst wäre Euch die Erinnerung früher gekommen.«
»Es war in deiner Kammer an der Piazza del Nettuno zu Bologna,« sagte ungekränkt der Magister.
»Ich dachte, es sei irgendwo am Meeresstrand gewesen, als weit draußen die kleinen weißen Schiffe mit den dunkeln Segeln standen, die sie ›die Stummen‹ nennen,« murmelte der andere und schaute in die Ferne.
»Es war in deiner Kammer.«
»Nun ja,« klang es geflissentlich gleichgültig, »so war's ein anderer, mit dem ich am Meeresstrand Falerner trank.«
Der Magister sah vor sich hin. »In deiner Kammer war's. Die Hitze war an jenem Tag so 247 groß. Die Fenster standen offen. Wir sahen einem Turmfalken zu, der auf einen kleinen Vogel stieß.«
»Ein prachtvolles Gedächtnis,« murmelte der Fahrende. »Wißt Ihr vielleicht auch noch, ob dieser Turmfalke einem der reichen Burschen gleichsah, die zu Bologna ihrer Väter Geld verpraßten?«
Der andere schien nicht zu hören. Versonnen kam's: »Unten auf der Piazza ging dicht am Brunnen vorbei – –« Er stockte. Ein Baumzweig hatte ihm Gesicht und Haar gestreift, und der Fahrende hatte nach diesem Zweig gegriffen und hielt ihn fest, die weißen Blüten betrachtend.
»Seht,« klang es rauh, »eine wilde Kirsche, ein spätes Blühen, dem keine Frucht beschieden ist. Wie lautet hierfür die Formel?«
»Was meinst du?« fragte erstaunt der Magister.
»Ich meine, es sei einmal Eure größte Weisheit gewesen, die Formel zu nennen, die jede Ungeheuerlichkeit der Erde entschuldigt und erklärt.«
»Sie ist mir entfallen,« entgegnete ohne Lächeln der Weißkopf.
Stumm ließ der andere den Zweig fahren.
Sie kamen jetzt an eine mächtige, rotleuchtende Felsengruppe.
Riesenhände schienen mit den Steinen gespielt 248 und sie übereinandergetürmt zu haben. Eine Platte sprang kühn hervor, wie die Kanzel für einen Gewaltigen.
Hinaufdeutend fragte der Fahrende halblaut: »Seid Ihr eigentlich nie mit einem Begleitmann hier oben gestanden und er hat Euch alle Reiche der Welt gezeigt und ihre Herrlichkeit und hat Euch alles angeboten? –«
Der andere schüttelte den Kopf. Nach langer Zeit sagte er: »Es ist auch mit mir gefeilscht worden. Aber die ganz großen Worte hab' ich nie gehört.«
Er setzte sich auf einen der platten Felsbrocken am Weg und nahm seinen Stock zwischen die Knie. »Willst du dich nicht auch setzen, es redet sich besser so,« lud er ein.
»So meinen die Seßhaften,« sagte mit leisem Spott der andere und setzte sich.
Drüben über der Stadt, auf der in der Regenluft so nahen jenseitigen Höhe, wirbelte dünner Rauch in die Luft.
»Wohl fahrend Volk,« meinte hinüberdeutend der Magister.
»Mag sein,« gab der andere zu, »wenn Sturm oder Brand daherfährt, wirbeln gern Fetzen voraus.« 249
Des Weißkopfs von Besorgnis verdunkelter Blick senkte sich auf die Stadt. »Das Unwetter nimmt doch vielleicht einen anderen Weg,« murmelte er, »es wurde und wird da drunten viel gebetet.«
»Und wenig geglaubt,« setzte der andere hinzu und lachte.
»Wer will das entscheiden?«
»Nun, ich denke, die leeren Gassen und Häuser, die Essen ohne Rauch schreien es aus.«
In diesem Augenblick läutete eine Glocke.
»Aha,« sagte, den Finger hebend, der Schwarze: »Das Bettlersprüchlein.«
»Du hältst nicht viel vom Beten.«
»Euch kann ich's ja sagen: Die Vielbeter verpassen meist den Augenblick; nur die Immerbeter sind die wahrhaft Gerüsteten. Was soll denen Glockenklang? –«
Sie saßen stumm. Der Wind spielte mit des Fahrenden langen Haaren.
»Wie dunkel dein Haar noch ist,« sagte nach langer Zeit der Magister.
Gleichgültig kam's: »Es ist gefärbt.«
Der Weißkopf sah vor sich hin. »Einst warst du immer ehrlich,« murmelte er.
»Sollte ich es nicht mehr sein?« fragte still der 250 andere, »Ihr wißt doch: wenn die Leute weiße Haare sehen, meinen sie leicht, da sei etwas zu verehren.«
Kopfschüttelnd sagte der Magister: »Ich dachte schon damals oft, dir sei nichts lästiger, als wenn man guten Glauben an dich habe.«
Ein rätselhaftes Lächeln trat auf des anderen Gesicht. Er gab keine Antwort.
Der Weißkopf, als bedrücke ihn dieses Schweigen, fuhr fort: »Es ist ja vielleicht die geheime Angst jedes Gereiften, er könne anderen sein Joch auflegen und sie möchten nur Schaden davon haben.«
Jetzt lachte der Schwarze auf. »Zu Bologna ist Euch diese Weisheit nicht zugewachsen. Dort meinte jeder, nur sein Quark könne die Welt erlösen.«
Fern und versonnen lächelte der Magister. Dann sagte er halblaut: »Du wolltest dir nie gern etwas schenken lassen.«
»Man wird nicht reich von Geschenktem.«
»Ja, bis man dann merkt, daß alles Geschenk ist.«
Der Fremdling schaute rasch auf. »Von diesem Letzten redet man nicht. Das muß, wie alles Letzte, uns sein, als wäre es nicht,« klang hart seine Antwort. 251
Wie ein Gescholtener schwieg der Magister.
Aus dem nahen Wald kam das mißtönende Geschimpf einer Elster. Es war, als mische sich der Vogel ins Gespräch. Ein Windhauch trug das starke Rauschen des Wassers am Wehr vom Tal herauf.
Jetzt begann der Magister noch einmal: »Drunten auf der Piazza, am Brunnen ging –«
Wieder schnitt ihm der andere das Wort ab. Lachend sagte er: »Dort drunten dozierten die Pflastersteine. So mancher, der sich im Falernerrausch darauf gewälzt hat, ist davon meuchlings zum Doktor geworden. – Diese Kerle hatten Euer Vertrauen. –«
Der Weißkopf schaute in das dunkle Gesicht. Leise kam's: »So war und ist es doch deine verschwiegene Sehnsucht, daß man an dich glauben soll?«
Der Fahrende wandte sich ab und schlug an den Schäfermantel. »Trüge ich vielleicht darum den Mummenschanz?« murmelte er unterdrückt. Dann lachte er auf und fragte leichten Tons: »Wohin verschlug es Euch eigentlich, als Ihr damals Bologna und die Juristerei satt hattet?«
»Erst Wittenberg – dann Tübingen,« klang es kurz. 252
»Wo fanden sie die tönenderen Worte, Ihn Euch mundgerecht zu machen?«
Der Weißkopf gab lang keine Antwort. Dann sagte er leise. »Mundgerecht ist Er mir nie geworden, darüber magst du ruhig sein. Und du – du warst einmal Papist –«
Der Schwarze zog den Mantel zusammen. »Gewiß! Wenn einer ernstlich auf der Suche ist, so macht er nirgends halt. Ich fand denn auch –«
Stumm sah ihn der Magister an.
Da verzog sich das dunkle Gesicht. »Ich fand, daß der Unnennbare die Papisten an den abgerutschten Knien kennt – sonst sind sie den anderen gleich. Dort hat man erstarrte Symbole, hier erstarrtes Wort. Dort tötet das Zeichen, hier der Buchstabe. Der Geist, der das Leben gibt, ist dort wie hier ausgetrieben.«
Nach langem Schweigen fragte der Weißkopf fast scheu: »Hast du das noch an dir – das Absonderliche? –«
Der Schwarze lachte auf. »Also deshalb habt Ihr den Schluck Falerner und die Brüderschaft nicht vergessen! Ihr werdet schwerlich auf Eure Kosten kommen.«
Der Magister hörte die Bitterkeit der Rede nicht. »Ehrlich gestanden, ich hielt einmal für 253 Wahn, für Selbstbetrug, für Krankheit, was du damals sagtest und zeigtest von erstaunlichen Dingen. Seither habe ich glauben gelernt.«
Der Fahrende lehnte sich zurück an den Felsen, vor dem er saß. »Glauben,« sagte er spottend, »du meinst: für wahr halten! Demnach machten sie ihre Sache gut, die Gaukler und Schnurranten, die du kennenlerntest.«
Als der andere schwieg, fuhr er wie zu sich selber fort: »Oder wäre es der andere Glaube, jener echte, seltene, ohne den der Schöpfer keine Schaffenskraft, der Allmächtige keine Allmacht hätte? Wäre es jenes Zwei, ohne das es kein Eins, jenes Eins, ohne das es kein Zwei gibt?«
Der Magister schaute her. »Warum so große Worte? –«
»Große Worte? – Ihr haltet dies Gestammel für große Worte? – Wenn es der Glaube wäre, den ich meine, dann wär kein Menschenwort groß genug.«
Sie schwiegen beide. Ein leises Unbehagen stand auf des Weißkopfs klarem Gesicht. Nach einiger Zeit fragte er: »Willst du nicht wissen, was alles ich in solchen Dingen erlebt habe?«
Der andere schüttelte den Kopf. »Nein! Hören, was ein anderer erlebte, das ist in dieser Sache der 254 Weg ins Nichts. Da wird höchstens jenes armselige Glauben erlernt, das an einem schlechterlauschten Wort, an einem Druckfehler zerschellen kann.«
Es wurde wieder still, nur der Wind rauschte im nahen Wald. Den Kopf in die Hand gelegt, den Ellbogen aufs Knie gestützt, fragte der Schwarze: »Wie legten sie Euch zu Wittenberg und Tübingen das Wort aus: ›Man brauchte ihm nichts zu sagen; er wußte alles, was im Menschen war.‹«
»Was soll's?«
»Ich meinte nur so. Ich hätte gern gewußt, ob sie hier nicht wenigstens eine Türe witterten, wenn ihnen auch die Klinke nie in die Hand kam.«
Er lauschte ins Weite. »Horcht!«
Von der jenseitigen Höhe kam das Wetzen einer Sichel. Fremd in seiner Friedlichkeit schwang der Klang über die angstverstummte Stadt hin.
Der Schwarze lachte. »Also doch noch eine gläubige Seele, die den Mut hat, den letzten Hafer zu bergen. Bringt's die Stadt nicht auf fünfe, so wird das Brennen kommen.«
Und dann, als der Weißkopf unbehaglich schwieg:
»Selbst dies bißchen Prophezeien verübelt Ihr mir. Wenn sich der Weg auch noch so leise hebt – 255 die mit den schwachen Herzen merken schon die kleinste Steigung und kehren um.«
Er scharrte mit dem Fuß im nassen Sand. »Aber jenem, der zu den höchsten Gipfeln aufstieg, glauben sie zu folgen.«
»Du landest gerne dort, wo Lästerung nahe liegt,« sagte unmutig der Magister.
»Der, den Ihr jetzt vor mir zu schützen meint, hielt es auch nicht anders,« gab kurz der Fahrende zurück.
Nach langer Stille meinte der Weißkopf, zu dem Bergacker hinüberblickend: »Das Feld gehört dem Kronenwirt. Es wird der Idiot sein, der ans Schneiden denkt.«
Der Schwarze nickte. »Wahrscheinlich! Die Vornehmsten waren geladen. Doch als sie anfingen, sich zu entschuldigen, rief man die Lahmen und Blinden herein. Ein Idiot war auch darunter.«
Er lehnte sich zurück ans Gestein und zog wie in Behagen den Mantel übers Knie. Ganz anderen Tons begann er:
»Wenn dieser Knecht noch Hafer schneidet, so scheint mir dies ein Zeichen, daß auch wir noch sitzen mögen und von den alten Zeiten schwatzen. Also dazumal ging unten auf der Piazza am Brunnen vorüber – – –« 256
Der Magister schien nicht zu hören. Er schaute immerzu nach der fernen Höhe hinüber.
»Es ist nicht der Knecht,« sagte er jetzt, »der Mensch da drüben ist kleiner.«
Der Fahrende blickte auf. »Dann wäre es vielleicht an der Zeit, sich auf den Weg zu machen. Aber erst müßt Ihr mir noch sagen, wer damals unten auf der Piazza nahe am Brunnen vorüberging.«
Der Magister schrieb mit seinem Stock im Sand. »Ihr wißt's so gut wie ich,« sagte er, das vom anderen verschmähte Du nun auch wieder vermeidend.
Ein fremdes, schönes Lächeln blühte verjüngend auf dem Gesicht des Fahrenden auf. »Sie holte wohl Wasser, die Regula Mussa! Hieß es nicht, das Wasser vom Neptunsbrunnen solle schön machen und gut? –«
»Schön und wissend,« verbesserte der andere.
»Ist Euch das nicht dasselbe? Vermiedet Ihr wohl gar, zu trinken?«
Der Magister hob den Blick nicht vom nassen Weg. Wie ein fernes Saitenspiel, das durch die Nacht sich nähert, klangen langverbannte Erinnerungen in ihm auf.
Hatte er Regula Mussa geliebt? Jedenfalls hatte er dazumal nicht den Mut gehabt, sich diese 257 Liebe zu gestehen. Er hatte gewußt, daß kaum ein Bursch' zu Bologna war, der nicht von sich behauptet hätte, das frühlingshafte, maienschöne Kind des alten einarmigen Obristen zu lieben. Sie rühmten sich dessen, wie sie sich rühmten, mit Bürgern und Profosen üble Sträuße bestanden zu haben.
Des Mädchens Vater hatte aus dem großen Krieg nichts herausgerettet als einen siechen Körper, eine tief verbitterte Seele und das mutterlose Kind, das viel zu jung, viel zu schön und lebensvoll war für den verbrauchten Soldaten.
Es hieß von ihm, er wolle die Tochter nützen wie den Köder im Dohnenstieg. Einen der schwerreichen Burschen wolle er durch sie und für sie einfangen, wie sie an der hohen Schule nicht selten waren.
Diese Zügellosen, die weniger den Studien oblagen, als hohe Wechsel verpraßten, sprachen von dem holden Mädchen wie von einer zum Kaufe Angebotenen, ja Käuflichen. Aber in Wahrheit war ihnen die, die sie mit frechen Reden besudelten, eine ferne und nicht erreichbare Heilige.
Zum prahlerischen, zynischen Wort gesellte sich mancher heimliche Schmerz, manches verzehrende Sehnen, manche echte, bittere Herzensnot.
Das kindhafte Mädchen zügelte mit der Lauterkeit ihres unbekümmerten, innigen Wesens alle, 258 die ihr nahten, wie sie alle lockte, ohne es zu wissen. Eine Blüte, die im Licht steht und nichts will, als selbstvergessen blühen.
Benommen von dem Glanz des lang hinabgesunkenen Tages hob der Magister den Kopf und sagte: »Wir alle liebten sie. Euch fiel sie zu.«
Das Gesicht mit der Hand beschattend, saß der Fremdling. Nach langer Zeit sagte er rauh: »Wovon sprecht Ihr? Denkt Ihr an Küsse, an Stunden, wie die Burschen sich's erträumten?«
Der Weißkopf gab keine Antwort.
Da sprang der andere erregt auf. »Greifet höher! Dachtet denn auch Ihr nur, ein schönes Kind sei mir in den Arm gefallen? –«
Dem Magister ging es wie eine heiße Welle übers Herz und machte ihn hellsehend. »Sie glaubte an Euch,« kam es ihm unwillkürlich auf die Lippen.
Der Fahrende trat dicht an den Wegrand, wo das steinige Gelände jäh abfiel. Abgewendet sagte er: »Wie konntet Ihr, ihr alle wissen, was das heißt und ist!«
Er streckte selbstvergessen die Hände ins Leere. »Man sieht sie ausgebreitet, die fernsten, letzten Ziele. Die Grenzen sinken hin. Nur Kraft, nur Kräfte sind noch da.«
Als er sich jetzt umwandte, lagen tiefe Schatten 259 auf seinem hageren Gesicht. Mühsam, als gehorche ihm die Stimme nicht, stieß er hervor: »Das ist vorbei. Heut wissen Ratten mehr als ich.«
Vor dem Magister stieg es empor, wie dieser Mann einstmals einer der glänzendsten Studenten der Schule gewesen war. Erst Jurist, dann Mediziner, dann – ja, was dann? Der Vielbewunderte, Vielbeneidete tauchte in einem fahlen Dunkel unter. Schüler eines alten Chymisten von zweifelhaftem Ruf, Widersacher und Verunglimpfer der angesehensten Lehrer an der Schule, Beflissener geheimer Künste, Genosse und Anführer dunkler Existenzen – so stieg er aus einem dumpfen, nie gelüfteten Gedächtniswinkel des ehrbaren Magisters auf und dazu als der Erkorene des wunderlieblichen Mädchens, das wie süßer Frühling war.
Umbrodelt von seltsamen Gedanken saß der Weißkopf auf seinem Steinsitz. Es kam ihm vor, als sei sein arbeitsreiches, aber ruhiges, geordnetes Leben, das wohl nicht ohne jeden inneren Kampf, aber doch ohne jedes Abenteuer gewesen war – als sei es ein unendlich einförmiger, staubiger, schnurgerader Weg und das des anderen ein Gebirgspfad voll wechselnder Bilder und Ausblicke, voll Reiz und voll Gefahr; beneidenswert! Ach, wie beneidenswert! 260
Als ein Reichtum ohne Maß und Grenze erschien es ihm, von dem fernen holden Kind geliebt worden zu sein.
Fast gegen seinen Willen fragte er, das alte Du wieder gebrauchend: »Was hast du aus ihr gemacht?«
Lang kam keine Antwort. Dann klang es kurz:
»Fragt erst, was andere aus ihr machten.«
»Nun? –«
»Nun,« fuhr der Schwarze auf, »der Alte riß sie mir vom Hals. Sie wurde nicht gefragt und ich noch weniger. Irgendein Kerl, ein reicher Pfeffersack vom Norden, bekam sie. Wißt Ihr nun genug?«
»Weißt du mehr?«
Der Schwarze schaute in die Luft: »Vielleicht noch eins: Zum Abschied gab ich ihr ein Angebinde, das Beste, was ich hatte.«
Der andere wartete still.
»Sie hatte einen großen Glauben,« fuhr nach langer Zeit der Fremdling fort, als rede er mit sich selbst;»so, wie einst ich, so sog wohl auch dies Angebinde Kraft aus ihrem Glauben. Über sich selbst wuchs es in ihrer Hand hinaus. Auch so wie ich. Sie litt nicht, sie war glücklich.«
Des Magisters Augen hingen an dem Verstummten. In den Lärchen raunte der Wind. 261
Der Schwarze strich sich übers Knie. »Dem Pfeffersack gebar sie einen Sohn. Nun ja – mehr hatte sie ihm nicht zu geben. Bald ging sie von ihm und hielt sich nur noch an mein Angebinde.«
Der Weißkopf sagte nichts. Sein klares Gesicht spiegelte eine ferne Bangigkeit.
Mit einem seltsamen Lächeln blickte ihn der andere an. »Nicht so, wir Ihr denket! Es war nicht Schierlingssaft und Bilsenkraut. Es war –« Er reckte sich jäh auf mit einer Gebärde, die etwas Maßloses an sich hatte. »Was weiß ich denn, was es war? Nach Namen und nach Unzen hab' ich's längst vergessen. Nur einmal macht man so etwas im Leben; so, wie Jungfräulichkeit nur einmal zu vergeben ist. Mein Bestes war's.«
Er sank in sich zusammen und schien den anderen vergessen zu haben.
Nach langer Zeit fragte der leise: »Sie ist tot?«
Da schaute der Fahrende mit leerem Blick auf. Aus weiter Ferne schien er zurückzukommen. »Tot? fragtet Ihr?« Er schüttelte den Kopf. »Es läßt sich schlecht mit Toten über Tote reden.«
Der Magister schrieb mit seinem Stock im Sand. »Vielleicht bin ich so tot nicht, wie du meinst. Ich habe manches erlebt – ich sagte es schon.« 262
Leise lachte der Fahrende. »Aha, mal ein Gespenst, ein bißchen Spuk zur Nacht am Gottesacker, ein wenig Kettenrasseln und Gepolter.«
»Du ließest dir nichts erzählen, so hast du kein Recht zu spotten.«
»Gut gesprochen,« sagte der Schwarze, »ich will es Euch nicht vorenthalten: sie ist hinübergegangen.«
»Und der Gatte, der Sohn?« –
Der Fahrende verzog den Mund. »Gatte! Ein eklig Wort, von unten, von der Tierheit her. Der Pfeffersack ist tot. Der Sohn – –« Er atmete tief und schwieg.
»Kennst du ihn?«
Der Schwarze stützte den Kopf in die Hand und sah zu Boden, als lese er dort ab, was er jetzt sagte: »Das fraget Ihr so hin! Ihr setztet Fett an in den letzten dreißig Jahren und habt Euch Amt und Würden zugelegt. Ich war derweilen immer unterwegs, ob ich nicht irgendwo den Sohn möchte kennenlernen. Es war ein gut Stück Arbeit, so neben allem anderen her, was unsereiner treibt und treiben muß, wenn er leben will.«
»Und? –«
»Ich hatte wenig Glück in dieser Sache. Doch, um jetzt etwas anderes zu reden: wie kommt die 263 Stadt zu ihrem Bürgermeister? Der Mann ist jung und fremd, der Sprache nach zu schließen.«
Der Magister lachte. »Wenn ich dich vorher nicht erkannt hätte, jetzt würde ich dich kennen. Du liebtest immer tolle Sprünge in der Rede.«
Auch der andere lachte. »Man ändert sich nur wenig mit den Jahren. Das Wesentliche bleibt.«
»Wenn du's denn wissen mußt: Hans Wakker kam zur Wahl als Aktuar bei einem Gericht. Er bekam alle Stimmen.«
»So muß seine Sippe in gutem Ansehen stehen in der Stadt.«
»Er hat – so heißt es – keine Sippe und keinen Anhang. Vielleicht verhalf ihm das zum Sieg. Es spielte weniger Neid herein als sonst bei diesen Dingen.«
»Nun ja! Doch irgendwo muß er doch Wurzel haben.«
»Wenn du Genaues wissen willst: er hat eine alte Magd. Was in der Stadt die Neugier nicht zu zügeln vermochte, suchte Freundschaft mit der Anastasia.«
Der Schwarze lachte hell. »Ich danke Euch. Die alten Weiber sind nicht meine Sache. Wünscht Ihr jetzt noch etwas aus mir herauszuholen?« – 264
»Man erfährt wenig, wenn man einen Unwilligen ausfragt.«
»Ich war so willig heut wie lange nicht. Die alten Zeiten taten mir es an. Wißt Ihr wohl noch, wie ich den einen ein Ärgernis, den anderen eine Torheit wurde? Der Spaß hat mich viel lachen gemacht.«
»Du siehst nicht aus, als hättest du zuviel gelacht.«
Der Schwarze fuhr sich übers Gesicht. »Traut dieser Fratze nicht! Sie ist so schwer zu ritzen wie Büffelhaut. Das wenigste steht darauf geschrieben.« Schwerfällig stand er auf. »Mich schläfert mit einemmal. Eine unruhige Nacht liegt mir in den Knochen.« Er tat ein paar Schritte und stand dann unbeweglich, den Blick nordwärts ins dunstverhangene Tal gerichtet, wo die fernen roten Türme undeutlich hinter den Bergkulissen hervorschauten.
Lange stand er. So lange, daß den Magister ein seltsames Unbehagen überschlich. »Was siehst du dort unten?« fragte er scheu.
Der Schwarze wandte sich um. Sein Gesicht war verfallen und alt. Er rieb sich mit hastiger Gebärde die Stirne. »Also ist doch nicht alles an die Ratten gefallen,« murmelte er mit verzerrtem Lächeln. 265
Den Magister überfiel ferne Erinnerung. So hatte er ein paarmal den jungen Studenten stehen und in unbegreifliche räumliche und zeitliche Tiefen hineinblicken sehen. Mißtrauen, Spott, Feindseligkeiten hatte der Gezeichnete dafür geerntet; nicht einer der Genossen jener Tage rang sich durch zu ein wenig Glauben. Als ein Stück Narrheit, als eine tolle Fratze sah man das Ungewöhnliche an dem glänzenden, dem reichbegabten Kommilitonen; abgleiten vom geraden Weg sah man den Vielbewunderten und dann ins Dunkel tauchen.
Nun stand er wieder da, ein Heimatloser, ein Gaukler, ein Schnurrant? –
Der Magister wagte nicht, dem Mann ins dunkle Gesicht zu sehen. Er hatte das quälende Gefühl, als sei diesem Menschen viel Unrecht angetan worden, als schleppe er ein Stück vom Schicksal der Propheten, deren Kraft ersticken muß im Unglauben ihrer Zeitgenossen.
Rauh sagte jetzt der Schwarze: »Euer Liebden täten vielleicht gut, auch aus der Stadt zu gehen.«
»Du meinst? –«
»Was ist da zu meinen? Wenn ihr eine Wolke sehet aufgehen, so sprecht ihr alsbald: es kommt ein Regen. – Ihr wißt sicher, wie es weiter heißt.«
»Sage mir, was du sahest!« 266
Der andere lachte auf. »Nun bin ich schon dabei, die Sprüchlein des Einen anzuziehen. So will ich auch noch sagen: Ihr sollt das Heiligtum nicht den Hunden geben und die Perlen nicht vor die Säue werfen. Verzeiht! Nicht ich erfand ja diese Worte. Gehabt Euch wohl!«
Er ging ohne Weg durch den steilen Wald bergan und sah nicht zurück. 267