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Was willst du untersuchen,
Wohin die Milde fließt!
Ins Wasser wirf deine Kuchen,
Wer weiß, wer sie genießt!
Goethe.
Als in der regenschweren Nacht der Schuß in den Wäldern verhallte, war in der fast ausgeleerten Stadt kein Ohr, das ihm nicht in Bangigkeit nachgehorcht hätte.
Aber die Verängstigten konnten wenigstens den Kopf in die Kissen graben; sie konnten die Hände falten oder die Knie beugen, konnten sich sonst irgendwie durchwinden, damit das Entsetzen nicht Herr über sie werde.
Aber der Weißbärtige, der in der Krone unter dem Betthimmel lag, der gelähmte Kronenwirt, konnte all das nicht.
Jeder Schrecken der Nacht kroch ihm wie giftiges Gewürm durchs unerstorbene Ohr, und er vermochte keinen Finger zu rühren, um sich zu wehren. So lag er Stunde um Stunde. 205
Jenem Unseligen glich er, der, an den Felsen geschmiedet, sich von den Geiern mußte ausweiden lassen.
Und es waren schreckliche Geier, gefräßige Ungeheuer, die den Betthimmel und den Mann darunter umflatterten.
Ein Licht brannte neben dem Lager, ein glimmender Docht auf einer Schale voll Wasser.
Der trübe Schimmer hatte etwas Erbarmungsloses; er scheuchte keinen Schatten aus den Winkeln.
Aber am erbarmungslosesten war doch der harte Schritt, der oben über der Balkendecke wuchtig hin und her ging, daß die Wände knisterten.
»Ich werde jetzt Hab und Gut bergen,« sagte dieser Schritt, »alles Wertvolle werde ich vor den Welschen in Sicherheit zu bringen suchen. Die starken Gäule im Stall müssen morgen den hochbepackten Wagen flußaufwärts ins Versteck führen –«
Der Mann im Bett horchte und wartete. Horchte und wartete, ob nicht noch etwas komme. Ob es nicht endlich heiße: »Auch du, Kronenwirt, darfst mit. Ich, die Kronenwirtin, lasse dich nicht hilflos liegen.«
Aber es kam nichts dergleichen. 206
Die Frau über der Balkendecke dachte vielleicht gar nicht an den Reglosen unter ihren Füßen. Oder sie dachte, dieser hingestreckte Mann habe in seinen guten Tagen auch nur an sich, an die eigenen unmäßigen Gelüste gedacht und nicht an Weib und Pflicht. Sie dachte an ihr hartes, böses Leben neben dem Trinker.
So sausten die Schnabelhiebe der Geier hernieder auf den Gelähmten. Auf seinem von Haus aus gutgeschnittenen, kühnen Gesicht hatte das mächtige Zeichen des Todes die Spuren des Trunkes und der Niedrigkeit fast ausgewischt und mit schweren Schatten zugedeckt. Seine Augen gingen hin und her wie unruhige Tiere, die das Feuer am Stall lecken sehen und nicht von der Kette können.
Es war ein Toben ohne Laut und ohne Bewegung, daher doppelt schrecklich anzusehen. Bis ins Morgengrauen hinein währte es.
Jetzt liegt plötzlich ein regennasser Hut neben der Leuchte, und am Bett steht ein Mann im Schäfermantel.
Auf leisen Sohlen mußte er gekommen sein, oder es hatten die Tritte von oben die seinigen verschlungen.
Lang schaute er stumm über den Elenden hin; dann wischte er ihm die nasse Stirn ab und setzte 207 sich neben das Lager. Leise kam seine Frage: »So allein läßt man dich liegen! Aber laß gut sein! Du müßtest diesen deinen Weg einsam wandern, auch wenn viele um dich wären.«
Nach langer Stille klang es wieder: »Der Gottesnarr, dein Roßknecht, weiß, wann und wonach dich dürstet. Ich wollte, ich wüßt's jetzt auch.«
Der Regen schlug an die Fenster, und des Kranken ruhelose Augen wurden starr.
»Ob du ein Schlummertränklein möchtest für deine arme Seele oder einen Schluck der bitteren Wahrheit, davon man wach wird?«
Den Schäfermantel ließ der Fahrende von der Schulter gleiten und setzte sich auf den Bettrand. Dann griff er in die Tasche und suchte. Einen Lichtstumpf brachte er hervor, entzündete ihn an dem glostenden Docht und stellte ihn neben die kümmerliche Leuchte.
»So,« murmelte er, »wenn ich auch kein strahlendes Licht bringe, es ist doch besser als das Dunkel um dich her.«
Er streichelte des Kranken bleiche Hand wie einem Kind.
»Was soll ich jetzt erzählen? Du möchtest Worte hören, damit du dich selbst nicht hören mußt. Und doch – ich kann dir's um der Wahrheit willen nicht 208 verhehlen: – das letzte Wort hast du; das nimmt dir niemand ab. Sprich's aus: Gott sei mir Sünder – – –«
Es stolperte ein Schritt gegen die Türe. Unwillig wandte der Fahrende den Kopf.
Der Roßknecht trat herein. Als er den Fremdling sah, ging erst ein Stutzen, dann ein Begrüßen über sein bekümmertes Gesicht. Er fing erregt zu stammeln an, ehe seine schwere Zunge gebahnte Wege fand.
Die Teufel stünden schon vor dem oberen Tor, berichtete er, und die Frau und die Magd seien am Packen. Aber der Herr müsse auch mit.
»Schickt dich die Kronenwirtin?«
Der Blöde schüttelte den Kopf. »Nein, das weiß der Franz allein.«
Er fing an, mit einem Bandmaß an der Bettstatt zu messen. Eine Kiste wolle er machen, erklärte er stotternd.
Ein furchtbarer Laut, ein hilfloses Gurgeln kam aus des Gelähmten Mund.
Im flackernden Lichtschein sah des Fahrenden Gesicht grau aus, als er den Knecht am Arm nahm und den Nichtwiderstrebenden zur Tür führte. »Laß nur,« murmelte er dabei, »das macht der Schreiner besser.« 209
Er kehrte an das Lager zurück und setzte sich wieder auf den Bettrand. »Siehst du,« sagte er tröstenden Tons, »du bist nicht vergessen. Der Gottesnarr könnte deiner nicht gedenken, wenn sein verborgener Gebieter es ihn nicht heißen würde.«
Dann nach langem Schweigen, indem er sich tief zu dem Unseligen neigte: »Möchtest du das Wort an jenen Schächer hören? –«
Er sah sich um, als scheue er einen Lauscher, und sank dann vor dem Lager auf ein Knie. »Heute noch sollst du im Paradiese sein,« flüsterte er in die weißen Linnen hinein.
Dann sprang er auf. Er beugte sich zu dem Gefesselten, der jetzt mit geschlossenen Augen lag. Vorsichtig tastete er nach der mächtigen Brust. Vielleicht hoffte er, den Schlag des Herzens nicht mehr zu finden; zu fühlen, daß dies schreckliche Leben endlich am Entfliehen sei.
Aber das Klopfen war noch immer nicht erstorben, so fern und schwer und langsam es auch war.
Er zog ein Fläschchen aus der Tasche und roch daran. »Ein Tropfen nur,« murmelte er. Aber er steckte es wieder ein.
Die Schritte über der Decke wurden eiliger. Jetzt kamen sie die Treppe herab. 210
Der Fremdling schaute zur Tür, als denke er ans Fortgehen. Und blieb dann doch.
Eine stattliche, noch nicht alte, aber schon weißhaarige Frau trat mit einer brennenden Ampel in der Hand herein. Hinter ihr die junge Schenkin. Das Mädchen kreischte laut auf, als es den Fahrenden neben dem Bett erblickte.
»Da ist er ja, der Schwarze, der fort ist und seine Zeche nicht bezahlt hat,« schrie sie.
Der Mann sah ihr ins Gesicht. »Deshalb kam ich zurück, den Wirt um meine Schuldigkeit zu fragen.«
Leichtfertig lachte die Magd: »Da möcht' ich wissen, was der sagte.«
Der Fremdling trat ihr näher. »Ich will dir's im Vertrauen sagen: er meinte, wir seien gleich auf gleich.«
»Das könnt' dir passen.«
»Still jetzt!« gebot mit harter, ungedämpfter Stimme die Frau, und dann, nach dem Fremdling hinwinkend: »Ist denn das nicht der, der am Brunnen feilhielt?«
»Der ist's,« bestätigte die Magd, »wenn er kein Geld hat, hätte er doch dem Kronenwirt einen Theriak geben können.«
Der Mann nickte. »Daran habe ich auch schon 211 gedacht. Aber den einzigen, der hilft, darf man nur mit ganz reinen Händen reichen. Und die fand ich hier im Haus noch nicht.«
»So redet er daher, weil er nicht bezahlen will,« sagte geringschätzig die Magd zur Wirtin hin.
»Wie hoch ist meine Zeche?« wandte sich der Fahrende an diese.
»Das muß die Kathrin wissen.«
»Also, Kathrin! –«
Das Mädchen hob den Kopf, als besinne sie sich hart.
Er lachte. »Ich will dir helfen; es hing so viel an dir in jener unruhigen Nacht. Also: ich wusch mir erst die beschmutzten Hände, dann nahm ich eine Nase voll Rosenduft aus einem Rattenwinkel und hörte allerlei durch dünne Wände. Zuletzt schlief ich bei den Gäulen, die auswärts waren. Was tut das alles zusammen? –«
»Oho,« rief die Magd, »und das Glas Bier, mit dem du hinter dem Franz her bist?«
Er schaute sie eine Weile groß an. »Ja, ich vergaß! Habe ich damit eigentlich Brüderschaft mit dir getrunken?«
Sie lachte auf und deutete auf Hut und Schäfermantel. »Das nahmst du dann wohl aus Versehen mit.« 212
»Ganz richtig,« gab er zu, »es kam mir in die Finger.«
Die Wirtin mischte sich ein. »Tragt's hin, wo Ihr's genommen habt! Das Bier soll Euch geschenkt sein. Aber in des Kronenwirts Schlafstube hat keiner was zu suchen.«
Der Fahrende sah sie an. Leise sagte er: »Ich bin Euch wohl im Weg, weil Ihr nun auch da unten räumen wollt? – Falls eine Truhe leer bleibt, nehmt auch den Mann dort mit!«
»Ist er jetzt endlich tot?« schrie die Magd auf.
Er trat hart neben sie, als wolle er sie auf den Mund schlagen.
»So tot nicht, wie du. Er hat noch Ohren, zu hören.«
Er wandte sich und ging hastig aus der Stube.
Im Hof war es noch schwül, als könne die regenfrische Luft den Weg nicht in das Gewinkel finden. Die Schwärze der Nacht wich einem ersten, grauen Zwielicht, das fast bedrückender und düsterer war als die tiefe Dunkelheit.
In den Ställen wurde manchmal das aufgeregte Grunzen der Schweine laut, ein widerlicher Lärm, den das helle, gilfende Pfeifen der Ratten durchbrach.
Der Fahrende schritt über den Hof, dem 213 Pferdestall zu. Ein Strom von süßem Duft lockte ihn seitwärts, nach der Stelle, wo der Rosenbusch über einen Schuppen kletterte. Lang stand er davor, obgleich es noch zu dunkel war, etwas zu sehen.
Jetzt trat er in den Stall. Bei einer dürftigen Laterne Schein sah er den Roßknecht in der Streu liegen. Entspannt ruhte der ungeschlachte Körper in tiefem Schlaf; wie bei einem rasch entschlummerten Kind war der Kopf leicht seitwärts gewendet und sah in der Ruhe und Ausgeglichenheit des Schlummers verschönt aus.
»Du hast das beste Teil erwählt,« murmelte der Fremdling und legte sich behutsam neben den Schläfer ins knisternde Stroh.
Aber es war nur eine kurze Ruhe. Bald richtete er sich wieder auf und schaute sich verwirrt um. Das Licht der Laterne war am Verglimmen.
Er rüttelte den Knecht. »Wach auf, Gesegneter!«
Es dauerte lange, bis Leben in den Ungeschlachten kam und damit die Verstörtheit, die Hilflosigkeit. »Was willst du?« greinte er.
»Ich brauche meinen Mantel und mein Barett.«
Der Verschlafene wurde völlig wach. »Die hast du mir geschenkt,« beteuerte er eifrig. 214
»Nur für die Nacht geliehen, weil du des Christian Günthers Mantel verachtest.«
»Geschenkt, geschenkt,« beharrte zäh der Knecht.
»Es ist uns nichts geschenkt auf Erden, ist alles nur geliehen,« wollte der Fahrende überreden.
Aber der Blöde wiederholte nur: »geschenkt, geschenkt.«
»Nun ja, so schenke mir's wieder!«
Augenblicklich stand der Knecht auf und holte Mantel und Barett aus der Futterkammer. Zerknüllt und mit Häcksel behängt war beides.
Stillschweigend fing der Fahrende an, die Sachen zu reinigen. Den blitzenden Stein nahm er aus dem Barett und reichte ihn dem gaffenden Knecht. »Hier, der ist dein fürs Aufbewahren.«
Dem Blöden zitterten die Hände vor Gier. Aber er schüttelte den Kopf und lallte scheu: »es brennt.«
Der andere ließ den Stein in die Manteltasche gleiten. »Du bist noch weiser, als ich dachte,« murmelte er und schlüpfte in den Mantel, das Schäferkleid zur Seite hängend.
»Gehst du fort?« fragte weinerlich der Knecht.
Der andere nickte. »Ich muß wirken, solang es noch nicht Tag ist. Bei Tag nehmen sie mich nicht ernst, je ernster mir ums Herz ist. Was ich sagen wollte: Ist dein der Rosenstock da drüben?« 215
Des Knechtes Gesicht leuchtete auf; doch gab er keine Antwort.
Leise sagte der Fahrende: »Es ist niemand sonst in diesem Haus, der eine Rose im Winkel emporlieben konnte; du mußt es sein.«
Es arbeitete in des Verkürzten häßlichen Zügen. Vielleicht spürte er dumpf ein hohes, seltenes Lob, vielleicht auch ging ihm durch den wirren Sinn, wieviel Mühe und scheue Sorgfalt er in langen Jahren auf das schöne, nie recht begriffene und doch so heiß geliebte Wunder dieses Rosenstocks verwendet hatte, ohne daß ihm je aus Menschenmund ein Wort, ein Dank dafür geworden. Vielleicht gedachte er an all das Blut, das ihn die scharfen Dornen dieser seiner schönen Liebe schon gekostet. Scheu, wie schuldbewußt, stand er und schwieg.
Der Fahrende legte ihm die Hand auf die breite Schulter. »Wenn ich dir gut zum Rat bin, so schneide heute noch die Rose überm Boden ab und häufe Erde und Steine über die Wurzel!«
Ein tiefes Entsetzen brach aus des Blöden Gesicht. Erst stand er starr, dann war er wie ein Hund, der seinen Herrn pfeifen hört und nicht weiß wo. 216
Unruhig warf er den Kopf hin und her. Dann stieß er schnaufend hervor, als wisse er plötzlich Bescheid: »Es gibt ein Brennen?«
Der Fahrende zuckte die Achseln.
Im Schweinestall pfiffen jetzt die Ratten laut auf, als sei ein Streit auf Leben und Tod entbrannt.
Des Knechtes erregtes Gesicht entspannte sich und wurde sorglos. »Euer Liebden,« sagte er vernünftig und gehalten, »die Ratten sind noch da, es gibt noch kein Brennen.«
Über des Fahrenden Züge glitt Betroffenheit. Dann sagte er mit einem müden Lächeln: »Wenn du mich Euer Liebden nennst, muß ich dir glauben. Halte dich immerhin an die Ratten; sie sind verläßlicher als Propheten, die Brot essen.«
»Ißt du Brot?« fragte der Knecht.
»Schon lang,« klang es kurz.
Das Pfeifen im Schweinestall wurde durchdringender.
Der Fahrende schaute hinüber. »Die höhnen, weil unsereiner die Stunde nicht weiß. Ich sehe wohl Gipfel, aber wie sie hintereinanderliegen, weiß ich nicht. So eine Ratte wühlt im Kot, bis eines nahen Geschehens Schatten auf sie fällt. Dann wandert sie und quickt: hie Prophete.« 217
Er legte zum zweitenmal dem Knecht die Hand auf die Schulter. »Freund, wenn die Ratten gehen, schneide erst den Rosenstock ab! Dann aber sieh nach dem Kronenwirt; er hat sonst niemand als dich.«
»Er will trinken,« lallte verständnisinnig der Blöde.
»Ja,« murmelte der Fremdling und zog ein kleines Fläschchen aus der Tasche, »dies will er trinken.«
Der Knecht schüttelte den Kopf. Weinerlich klang's: »er will Bier.«
»Dies ist Bier.«
»Ist zu wenig Bier.«
»Er will nicht mehr, wenn er dies getrunken hat.«
»Er will mehr, viel mehr,« beharrte zäh der Knecht und nahm das Fläschchen nicht.
Da steckte es der andere wieder ein. »Gottesurteil,« murmelte er, »so bleibt meine Zeche hier stehen bis auf weiteres.«
Er winkte dem Knecht grüßend zu und schritt, das Tor selbst entriegelnd, auf den Markt hinaus.
Fremd, als graue Schatten, ragten die Giebelhäuser. Das Geplätscher des Brunnens klang verstört. Die Frühglocke hatte noch nicht geläutet, und 218 doch schimmerten schon Lichter hinter den Fenstern, als könnten Ruhelose den Anbruch des Tages nicht erwarten.
Der Fahrende schritt den Markt aufwärts, der Kirche zu.
Von den Linden vor dem Chor rieselten Blätter. Gestern hatten sie noch festgesessen. Über Nacht war offenbar ihre Stunde gekommen. Ein Pudelhund kam, im welken Laube schnuppernd, auf den Mann zu und erkannte ihn freudig.
»Ah, du bist schon auf, bist wohl gar wie jener eine, jener Samariter, der allein den Dank nicht vergaß für widerfahrene Heilung!« Er streichelte freundlich des Tieres klugen Kopf. »Sag an: salbt dich dein Herr fleißig, indes die Schöne den Glockenstrang zieht? –« Er lachte leise auf: »Sie machen ja tolle Sprünge, sobald mein schwarzer Mantel etwas gebietet.«
Der Pudel winselte.
»Ja, du bist ein kluger Kerl; aber nur, solang keine Katze um den Weg ist. Dann macht der Haß dich dumm. Aber das glaubt man erst, wenn man durch jede Dummheit hindurchgegangen und schwer blessiert ist.«
Vom Mesnerhäuslein herüber klang ein Pfiff.
Der Pudel zögerte, als falle ihm das Gehorchen 219 schwer; dann stob er durch das aufrauschende Laub davon.
»Aha, nun wird geläutet und gesalbt,« murmelte lächelnd der Mann hinter ihm her.
Aus dem Mesnerhaus trat Esther Kleinmann. Mit der Hand eine Lichtflamme schützend, schritt sie an der Kirche hin durch die graue Dämmerung und verschwand in der Glockenstube, als hätte der Berg sie eingeschluckt.
Langsam folgte ihr der Fremdling.
Es war ein enges, düsteres Gelaß, in dem die Stränge aus der Höhe hingen. Zwischen schwarzem, spinnwebverhangenem Gebälk stand die armselige Leuchte der Glöcknerin. Ein dünnes Läuten stach jetzt in die Dämmerung.
Da klang eine Stimme auf: »Wen wollet Ihr wecken, Jungfer? Ihr selbst wißt doch am besten, daß heute keine Schlafnacht war.«
Kurzes Stocken im Geläut erzählte von dem Schrecken, der das Mädchen durchfuhr. Sie kehrte das bleiche, übernächtige Gesicht dem Eingetretenen zu, ließ aber den Strang nicht los und gab keine Antwort.
»Es sind dünne Klänge, findest du nicht?« sagte die Stimme wieder, »die Hochzeitsglocke fehlt dabei.« 220
Stumm läutete das Mädchen.
Der Mann griff nach den hängenden Strängen. »Esther, glaubst du nicht, daß du die Feuer- und die Sterbeglocke nehmen solltest? –«
Wieder gab sie keine andere Antwort, als daß sie die Augen schloß und weiterläutete.
Der Fremdling ließ die Stränge wieder fahren und sah ihr lange zu. »Jetzt ist's genug,« sagte er endlich, »die, die jetzt noch nicht wachen und beten, sind schwerlich zu erwecken.«
Das Mädchen läutete fort.
Er trat ganz nahe zu ihr. »Esther, ich weiß, wo Elsebeeren wachsen.«
Ein leerer Strang schwang jetzt zwischen den Balken und im Turm bimmelten letzte, irre Klänge.
Da haschte der Mann den Strang, zog noch einmal, so daß ein geller Schlag herunterschallte und trat zurück. »Das war für die, die in dieser Nacht allzuspät in die Federn kamen.«
Aus des Mädchens Mund klang es erloschen: »Ihr seid – Ihr habt –«
»Rede aus!« ermunterte der Mann die Stockende;»es wäre mir ein Dienst, wenn du mir dies Geheimnis endlich lösen würdest. Wer bin ich? – was habe ich? –« 221
Sie nahm die Ampel aus dem Gebälk und zerdrückte die Flamme. Aschgrau lag der Morgen im Raum.
Leise sagte der Mann: »Du wolltest mich wohl schmähen und fürchtest, das Licht könnte mir dein Erröten zeigen?«
Sie hob den Kopf. Gequält klang's: »Was wollt Ihr von mir?«
»Ich bin in dieser Nacht daran, meine Schulden zu bezahlen und komme so auch zu dir.«
»Bei mir habt Ihr keine.«
Er schüttelte den Kopf. »Überall will man mir die Zeche schenken. Man sieht mir scheint's die Armut an der Stirne an. Aber glaube mir, Mädchen, auch der Bettler träumt einmal vom Austeilen.«
Sie hob die Augen zu ihm. »Sagt doch, was Ihr von mir wollt!«
Er fuhr sich über die Stirne. »Es ist so schwer zu sagen. Tu ein Stoßgebetlein, daß ich die rechten Worte finden möge! – Ist's so weit? – Nun also: Habe Glauben, damit Kraft von mir strömen kann!«
Erschreckt und ratlos sah sie ihm ins Gesicht.
»Ist das zuviel verlangt?« fragte er still.
»Ich kenne Euch doch nicht,« murmelte sie hilflos. 222
Er lachte. »Ach so! Das ist's! Auch du brauchst noch Geschlechtsregister, brauchst Zeugungs- und Geburtsgeschichten, um an legale Sohnschaft zu glauben. Halb hatte ich gehofft, du seiest jenen zugezählt, die des Vaters Söhne auch in denen erkennen, die im Straßengraben geboren sind.«
Sie atmete tief. »Ich kann Euch nicht verstehen.«
»Das sollst du auch nicht,« sagte er mit flüchtigem Lächeln, »nur Glauben sollst du an mich haben. Dem Herrgott selber gegenüber hältst du's ja auch nicht anders.«
»Jetzt lästert Ihr.«
»Also du kannst nicht an mich glauben? –«
Sie stand unbeweglich und stumm.
Er sah sie unverwandt an. »Jetzt denkst du gar an Gift und schwarze Kunst. Damit bemüht sich unsereiner nicht. Für den, der Giftes bedarf, schwitzt es aus jedem alten Mauerstein.«
Als sie noch immer schwieg, legte er ihr die Hand auf die Schulter.
Sie zuckte zusammen und trat weg.
»Meine Hand ist gewaschen,« sagte er seltsam still, »mir ist die schärfste Lauge nicht zu scharf dazu.«
»Ich muß gehen,« murmelte sie scheu. 223
Er gab den Weg frei. »Mädchen,« klang es fast unhörbar, »weißt du, daß das Leben furchtbar werden kann, wie ein reißendes Tier? –«
Ihr Fuß stockte; ihr Blick hatte etwas Erloschenes.
»Mädchen,« begann der Mann wieder, »du trägst das Zeichen, das auch Regula Mussa trug. Einst kannte ich's nicht, jetzt kenne ich es längst. Der Preis für dieses Wissen ist bezahlt. Kannst du mir immer noch nicht Glauben schenken?«
Sie sah ihn an und wußte vielleicht nicht, daß ein herzbewegliches Flehen in ihrem Blicke lag. »Was soll ich tun?« fragte sie erstickt.
Er trat ihr ganz nahe. »Das fragst du mich? – Ich bin es nicht, der dir dein Zeichen aufprägte. Unsäglich lieben und unsäglich leiden steht auf dir geschrieben; das mußt du tun. Was ich dir geben kann und geben möchte, ist wie der Dämpfer auf das Saitenspiel: es läßt den allzu lauten Klang zusammensinken und nach und nach ermatten. Mehr ist es nicht. –«
Sie sah ihn mit großen, furchtsamen Augen an.
Er lächelte ihr zu. »Tust du's nicht dir, so tu es mir zulieb! Sieh, was ich so an Glauben finde bei Krethi und Plethi, das gilt dem Gaukler, gilt dem Wunderdoktor; gilt nicht mir. Ich sage dir: 224 einst war das anders. Einst hat ein Mensch an mich geglaubt, da wuchsen mir die Flügel über Nacht. Dann kam etwas dazwischen. Nun ist's ein mühsam Flattern.«
Seine Stimme erstarb; er schaute verloren vor sich hin.
»Ich muß jetzt gehen,« stammelte verstört das Mädchen.
Er hob den Kopf. »Esther,« sagte er rauh, »der Boden zittert schon. Ich glaube, daß bald die Ratten wandern werden. Willst du dies nicht nehmen?«
Er griff in die Tasche und hob mit spitzen Fingern die Dose hoch, die einem abgebrochenen Kuhhorn gleichsah.
Das Mädchen wurde todesbleich. Sie griff nach ihrer Brust, betastete ihr Kleid und zog aus dem Busentuch das zweite Horn.
Aus des Mannes Mund kam ein kurzer, ächzender Laut. Seine Augen weiteten sich. Wie in Erschöpfung sank er an die Wand.
Im Turm rumorte der einförmig schwere Gang der Uhr und doch war es, als stehe die Zeit stille. Waren Minuten, waren Stunden vergangen, als endlich der Erschütterte dem reglosen Mädchen das Horn aus der Hand nahm? 225
Zu der fahlen Helle an der Türe trat er und hielt die beiden Dosen nebeneinander. Mit verzerrtem Mund lächelte er. »Soll ich jetzt Thalatta rufen nach heißer Fahrt, wie jene Griechen? Also ich ging auf rechter Fährte, so schwach sie war.«
Sie stand unbeweglich, den Blick gesenkt.
Er hielt ihr die Dosen hin. »Kannst du lesen?«
Einen Augenblick wartete er. Dann, als sie stumm blieb, las er, die erste Dose langsam drehend: »Zwei sind wir, ich und du, rastlos, wie Stromeswellen,« dann auf der zweiten: »und keines kommt zur Ruh, es fänd denn den Gesellen.«
Er schaute das Mädchen an. Wie ferner Glanz, wie Schein von Glück und Jugend lag es auf seinem dunklen Gesicht. Auf ein Wort von ihr schien er zu warten.
Sie streckte die Hand aus. Hilflos, verwirrt flüsterte sie: »Gebt!«
Er schüttelte den Kopf. »Ach nein. Spürst du denn nicht: man darf sie nicht zum zweiten Male trennen, nun sie sich haben.«
Erglühend murmelte sie: »Er schenkte mir's.«
»Also der Bürgermeister, der Herr der roten Beeren, dein Herr –« 226
Sie hob die Augen und wußte nicht, wie selig das Leuchten war, das daraus hervorbrach. »Wie könnt Ihr – –«
»Nimm beide,« unterbrach sie der Mann und hielt ihr die Dosen hin.
Sie wehrte ab.
Dringend bat er: »So laß dein Schicksal, laß dein Glück, laß deinen Gott entscheiden, Mädchen, – wähle!«
Mit leise zitternder Hand griff sie nach dem einen, öffnete zögernd die Finger wieder und nahm dann das andere.
Der Mann, als wolle er ihre Wahl nicht sehen, hatte die Augen mit der Hand verdeckt. Jetzt besah er, was ihm geblieben war. Still sagte er: »Also auch diese Zeche bleibt mir stehen.«
Das Mädchen wandte sich zum Gehen. Er vertrat ihr noch einmal den Weg. »Ei, nun hätte ich fast vergessen, weshalb ich eigentlich zu dir kam. Kannst du mir sagen, wo des Leutnants Drimmer Liebste wohnt, die Elisabeth? –«
Sie sah ihn unwillig an. Das Blut stieg ihr in die Stirne. »Sie ist ehrbar, wie redet Ihr!«
»Nun, – ist's nicht ehrbar, eines Mannes Liebste sein? Ich glaubte das. Doch weißt du's vielleicht besser. Sag, wo sie wohnt.« 227
Als sie stumm blieb, lachte er auf. »Wäre auch das schon zuviel des Glaubens, des Vertrauens? –«
Sie schloß die Türe. Er streckte die Hand nach dem schweren Schlüssel aus. »Laßt ihn mich dem Mesnerlein bringen, ich habe dort zu tun.«
Dann, als sie zögerte: »Nicht einmal so weit reicht's? –«
Sie gab ihm den Schlüssel. Leise sagte sie: »Die Elisabeth wohnt drunten am Wasser. Der Physikus wohnt im gleichen Haus.« Sie kehrte sich kurz ab und ging die Kirchenstaffel hinab. Das dürre Laub raschelte unter ihrem Fuß.
»Ein kleines Angeld,« murmelte der Mann und sah ihr nach.
Langsam schritt er jetzt dem Mesnerhäuslein zu.
Hinter einem der kleinen Fenster brannte noch ein Licht. Die Haustüre war unverschlossen. Hundegebell schallte dem Eintretenden entgegen und wurde dann zum freudigen Winseln.
Der Mesner schlürfte daher und hielt die Leuchte hoch. »Der Teufel auch,« stammelte er überrascht.
»Also Ihr erkennt mich, auch wenn ich ohne Pferdefuß komme,« sagte ruhig der Fremdling. 228
In dem zwiespältigen Gesicht des Mesners wurde der Musikantenteil lebendig. »Für einen Spezial konnte man Euch halten, so schwarz seid Ihr, doch der ist gestern fort.«
»Fort? Sagt Ihr, fort? –«
Er trat mit dem Kleinen in die offene Stube, legte den Schlüssel auf die Tischecke und ließ sich schwer auf eine Bank fallen, die unter den grünumsponnenen Fensterlein herlief.
»Also fort ist dieser Gottesmann, der seinen Mesner jeden zweiten Tag gegen die Welschen läuten ließ, daß männiglich die Ohren davon gellten! Glaubt er vielleicht, Ihr hättet die ganze Zeit am falschen Strang gezogen? –«
Das Männlein stellte die Leuchte ab. »Ich weiß auch nicht, was der glaubt,« murmelte er unwillig.
»Ich kann's Euch sagen,« meinte der Fremde und trommelte auf dem Tisch: »ich glaube, der glaubt: glauben sei gut für die Dummen. Ich glaube, der glaubt: glauben sei gut, solang nicht Schüsse knallen.«
»So wird's wohl sein,« gab der Kleine trübselig zu.
»Genug davon!« sagte kurz der Fahrende und scharrte mit dem Fuß. 229
»Habt Ihr nicht eine Tochter, Mesner?«
Das Männlein schnappte. »Woher –? Was? –«
»Nun ja,« kam es ungeduldig, »und einen Enkel habt Ihr auch.«
Des Kleinen aufgestützte Hände fingen zu zittern an.
»Herrgott – was ist, – die Salome – –«
Der andere lachte. »Setzt Euch, eh Euch der Schreck umwirft! Es ging bei ihr hart auf hart; aber sie hat's geschafft, die Salome. Die kleinen, kinderhaften Weiber sind in dieser Sache oft die tapfersten.«
Der Mesner saß wie geschlagen. Stammelnd kam's: »Die Salome – ein Enkel – woher –«
»Danach frug ich nicht,« lachte der Fremde, »ein Gelbköpfiger tut, als ob er der Vater wäre, ein langer Scherenschleifer.«
»Ein Enkel und ich weiß von nichts –«
»Hätten sie Euch vorher fragen sollen?« spottete der Schwarze. »Ist Euch beim vielen Läuten das Herz verschrumpft, daß es sich nicht mehr freuen kann, wenn es heißt: ein Enkel?«
Der Kleine sah nicht auf.
Da schlug der andere mit der Faust auf den Tisch. »Das Kind hat nicht Fehl noch Makel am 230 Leib. Die Mutter lebt. Sie hätte auch tot sein können; der mit der Hippe war ihr höllisch nah. Und Ihr sitzt da und greint in Euch hinein.«
Jetzt hob der Kleine die Augen. Sie waren trüb, als sei Schlimmes aufgerührt und hochgestiegen bis zu ihrem Spiegel. Rauh sagte er: »Was schwatzt Ihr mir. Ich kenne Euch nicht und weiß nicht, wo Ihr herkommt. Geht's Euch um Botenlohn, oder was soll's?«
Der Fahrende pfiff dem Hund und nahm dessen zottigen Kopf zwischen beide Hände. Eingehend und lang besah er das kranke Auge. Dann sagte er laut: »Gut geschmiert hat dich dein Herr. Aber darüber hinaus ist nichts von ihm zu wollen. Ein Mesner ist kein Chymist, kann weder scheiden noch unterscheiden.«
Dann zu dem Männlein hinüber kurzen Tons: »Schickt heute Eure Glöcknerin hinauf auf den windigen Hof. Dort liegt in des Günther Kammer eine Wöchnerin, die Hilfe braucht von Weiberhänden. Für beide Teile wär es gut, wenn die Schöne bald ginge.«
Unsicher blickte der Kleine. »Schickt Ihr sie doch!«
Der Schwarze lachte. »Mir traut sie so, wie Euer Spezial seinem Herrgott. Und dann ist's 231 meine Tochter nicht, die dort oben den feinen Knaben geboren hat.«
Der Mesner sank in sich zusammen. Ein tiefer Seufzer kam aus seiner Brust. »Zu jung war sie, die Salome, als ihr die Mutter starb. Ich hätte wieder heiraten sollen, dazumal.«
»Das wäre klug gewesen.«
»Wie konnte ich denn wieder heiraten,« erregte sich der Kleine, »mir war doch immer, als sei mein Weib gar nicht tot. Als hause sie neben mir weiter wie zuvor.«
»Dann wäre es nicht klug gewesen,« murmelte der Schwarze.
Der Mesner fing selbstvergessen zu erzählen an: »Siebzehn war die Salome, als sie sich an den Johann Rist hängte. Damals war er noch Messerschmied, rechter Leute Kind und tüchtig auf dem Handwerk.
Was hätte ich da machen sollen! Er hatte Haus und Hof und war ein Waise. Im Mai gab's eine Hochzeit und alles war recht und gut.«
Der Fahrende nickte. »Warum sollte da nicht alles gut sein: Hochzeit und Mai dazu.«
Das Männlein ließ den Kopf hängen. »Bald darauf stach den Rist der Hafer, und es wurde ihm zu eng auf dem Handwerk. Große Dinge spukten 232 ihm im Kopf. Da verkauft er mir nichts, dir nichts, Haus und Geschäft und geht in des Herzogs Residenz, um großer anzufangen.
Da wäre noch nichts dagegen zu sagen; aber dort findet er bald viele Freunde, denn das Geld saß ihm locker. Schnell ist alles vertan. Ich gebe der Salome ihr Muttergut heraus. Mehr als tausend unbeschnipfelte Gulden. Das geht alles einen Weg. Ich sage der Salome: Komm heim! Mein Haus ist für dich offen, aber nicht für den Lumpen.«
Der Fahrende lachte auf. »Da ging sie natürlich mit dem Lumpen. Auch die besten Weiber machen solche Streiche.«
»Zehn Jahre schon,« warf bitter der Alte hin, »zehn Jahre schon zieht mein einzig Kind mit dem Schleiferkarren und ich sah sie kaum mehr.«
Die beiden schauten still vor sich hin; dann begann der Schwarze leis: »Zehnmal war Frühling um die Glücklichen her. Wie manches Bächlein hörten sie da rauschen, wie mancher singenden Lerche sahen sie ins Blaue nach! Zehn Sommer! Denkt: sie schliefen unter Sternen, wo tausend wundervolle Kräfte niederströmen; im Wälderschatten lagen sie zur guten Rast an kühlen Quellen. Beim Donner, Mesner, ist dein eigenes Leben trefflicher oder gemeiner? –« 233
Er blickte sich in der kleinen Stube um, die sich, dem Ampelschein zum Trotz, mit erstem Morgengrauen füllte. »Ein Tisch, ein Bett, die Bank hier und der Schnick-Schnack an den Wänden, das ist deine Mesnerswelt. Dazu die Schwielen an den Händen vom Glockenseil, und wenn die Not dann kommt, hält sich sogar der Spezial an die Metzgerpost und nicht an sich und seinen Herrgott. – Alter, wenn du den Pudelhund nicht hättest, würde ich sagen: du führst ein Leben, ärmer als im Spinnhaus. Denn wo man Wolle spinnt, gibt's Garn; wo man aber zum Glauben, zum Vertrauen läutet, ist man zuletzt ein Hanswurst.«
Zusammengesunken saß der Alte, als höre er nicht.
Der andere stieß ihn an. »Ich lobe mir deine Tochter. Ihr Leben muß nach Gottes Willen sein, sonst wär dein Enkelsohn nicht so wohlgestaltet. Es gibt nicht nur den Mesnersgott, der sich schwarz trägt mit weißen Bäffchen; es gibt auch noch den anderen, der in lichten Farben prangt und malt.«
Bekümmert sah der Kleine auf. »Führt nicht so lästerliche Reden.«
Der Schwarze lachte. »Das laßt meine Sorge sein! Ihr wißt jetzt, wo Euer Enkel atmet. Und daß ich zuletzt das Beste nicht vergesse: den Hund 234 dürft Ihr von heut ab ohne Glockenläuten salben, er ist nahezu gesund.«
Er stand auf, streichelte den Pudel und ging.
Als er die breiten Kirchenstaffeln hinabschritt, war drüben in der Apotheke noch Lichtschein. Der von schweren Wolken tiefverhangene Himmel ließ den Tag nicht recht eintreten in das Tal.
Der Fahrende schaute nach dem Schimmer hinter den Fenstern hinüber. »Aha,« murmelte er, »dieser Eifrige sitzt schon wieder, oder immer noch, hinter dem Thaumaturg. Vielleicht auch läßt er Farnsamen, Fenchel und Bier zusammenkochen gegen die Würmer rec. dreimal am Tag.« Er lachte kurz vor sich hin. »An Magen und Gedärm hat er Glauben. Wollte er auch ein wenig an das andere im Menschen glauben, an das, worin die wahren Kräfte schlafen – er ließe klugerweise eine Unze Unbegriffenes, vielleicht ein Quentchen Gruseln zum Rezepte fügen. Da schilt er: Unfug! und hält sich für redlich.« Er winkte leicht mit der Hand nach dem fernen Licht hinüber. »Apotheker, die zweiten Zähne müssen dir erst wachsen, dann ist der Thaumaturg nicht härter als ein Butterbrot.«
Vor der Einfahrt der »Krone« stand ein leerer Wagen und ringsumher Kisten und Truhen, die offenbar verladen werden sollten. An den 235 steinernen Brunnentrog hingeschleudert lagen Mantel und Hut des Schäfers.
Der Fahrende verzog den Mund. »Ach so, die Gerechten da drinnen wollen mit diesem Kleid eines Ungerechten nichts zu schaffen haben.«
Er war schon vorübergegangen, dann kehrte er noch einmal um und schritt auf den Mantel zu. Als wolle er ihn mustern, hob er ihn in die Höhe.
Langsam nahm er dann sein Barett ab, steckte es in die Tasche und setzte den Hut auf. Dann legte er den Mantel über seinen eigenen um die Schultern. »Ich bin so heikel nicht,« murmelte er, »mir ist es lieber, ich bin gerechter denn mein Kleid, als umgekehrt.«
Unten am Markt, wo der Platz sich zur Straße verengte, war ein neues Wachhaus nahezu aufgeschlagen.
Eine erlöschende Pechpfanne qualmte daneben, es lagen Balken und Bretter, Beschläge und Ketten umher.
Streitende Stimmen schallten heraus und der Fahrende ging langsam näher.
Ein grauhaariger Stadtknecht und der freche Schmied von der Brücke waren bei der Arbeit hintereinandergeraten. Jetzt schauten die Streitenden auf und gewahrten den Schäfermantel. 236
»Faulenzer,« rief grob der Schmied, und der andere, als wolle er nicht zurückbleiben, ergänzte: »Tagdieb.«
Der Fremdling zog den Mantel fester um sich. »Meint ihr mich, oder redet ihr miteinander?« rief er den beiden zu.
Frech schrie der Schmied: »Wenn man Tagdieb sagt und Faulenzer, meint man in der ganzen Welt einen Schäfer.«
»Oho,« entgegnete der Fahrende, »dort, wo ich herkomme, nennt man jeden Schäfer ›Euer Hochgelahrt‹, weil er das weiß, was den Schmieden verborgen ist.«
Der Stadtknecht schlug sich auf die Knie. »Du mußt aus einer guten Gegend stammen. Wie kamst du herein?«
Der Fahrende schüttelte den Kopf. »Das ist jetzt nicht die Frage. Es gilt bald, zu wissen: wie kommt man hinaus?« Dann zu dem Schmied hingewendet: »Auch du hast heute nacht aufgepaßt, ob die Ratten schon wandern?«
Auf dem ungewaschenen Gesicht des Gefragten ging eine Veränderung vor, und der Fremde fuhr fast drohend fort: »Du mußt unten bleiben am Fluß; in des Bürgermeisters Garten pfeifen sie nicht.« 237
Der Schmied hob den Hammer. »Dir zeig ich's.«
»Nichts zeigen,« wehrte gelassen der Fahrende ab, »alles für sich behalten ist die Kunst.«
Er ging weiter, vom rohen Schelten der beiden verfolgt.
Hochgegiebelte Häuser standen am Fluß, dunkle Winkel zogen sich gegen das leise rauschende Wasser hinab.
Auf einmal regte sich's in einem dieser Winkel.
Der Mann blieb stehen wie gebannt.
Schattenhaft, eine Unwirklichkeit, tauchte ein Zug wimmelnder, geschwänzter Tiere auf. Kein Quicken wurde laut, kein Pfeifen. Ein schleichendes Raunen nur am Boden hin. Ein ekles, unerhörtes, von Grauen umdrängtes Phantom, das am Flußrand verschwand.
Der Mann legte langsam die Hand an die Stirne. Sein bleiches Gesicht sah alt und verfallen aus.
»Also das sind Deine Propheten! Unsereiner steht im Dämmer, und diesen wird das volle Licht –.«
Wie plötzlich ermüdet ging er weiter auf ein schönes, stattliches Haus zu, das seine Nachbarn überragte. Nach Wohlstand und Vornehmheit sah 238 es aus; aber die Fensterreihen waren geschlossen und verhängt, als sei kein Leben dahinter.
Die hohe eichene Tür war reich geschnitzt und ein dicker Ring hing als Klopfer aus erzenem Löwenmaul.
Der Fahrende hob ihn und ließ ihn fallen. Dröhnender Hall ließ sich drinnen hören, aber kein nahender Schritt.
Er wollte ein zweites Mal klopfen, da kam der Physikus auf das Haus zu. Die steile Gasse vom Markt herab mußte er gekommen sein. Seine Kleidung war in Unordnung, als hätte er sie in großer Eile übergeworfen, sein langes, unbedecktes Haar zerzaust.
Wie von stürmenden Gedanken bedrängt, kam er daher und prallte fast mit dem Fremdling zusammen.
Barsch kam jetzt seine Frage: »Was will Er in meinem Haus?«
Der Fahrende verneigte sich artig. Seine Ruhe stach scharf ab von des Kleinen Erregung.
»Vielleicht zu wissen tun, daß Euer Liebden Wunsch erfüllt ist: die Augen sind gefunden, die in die Zukunft sehen.«
»Wahrscheinlich die seinen?« stieß unwillig der Arzt hervor. 239
Der andere schüttelte den Kopf. »O nein. Der Geist weht, wo er will, es sind – –«
»Da könnte Er recht haben,« fiel der Heißblütige ein, »sogar der Kronenfranz hat es mit dem Prophezeien.«
»Ihr wart schon in der Krone? – Die Stunde ist früh, das Bier mag schal vom Faß kommen.«
»Narrheit,« stieß der Kleine kurz hervor.
»So war es nicht ums Bier? –«
»Was treibt Er eigentlich? Heut sieht Er wie ein Schäfer aus und kürzlich –«
»Kürzlich wie ein Scheunenpurzler,« fiel unbewegt der andere ein und lüftete den Schäfermantel ein wenig, »zwei übereinander.«
»Kein gutes Zeichen,« knurrte der Arzt und dann barsch: »Will Er zu mir?«
Der Fahrende lachte. »Wohnt nicht ein hübsches Mädchen auch im Haus, die Demoiselle Elisabeth?«
»Treib Er nicht Possen, sie ist mein Patenkind,« und dann in erneuter Erregung: »Die Madam mère ist schon drei Wochen fort nach Lyon, wo sie den Herrn Sohn in der Lehre hat.« Er spuckte aus. »Was geht das Ihn an?«
»Ich fragte nach der Demoiselle,« erklärte höflich der Schwarze. 240
»Auch sie ist heute fort. Die Elisabeth ist keine Demoiselle.«
»Ich weiß; sie sagte es mir selbst; ich vergaß es nur,« klang es ruhig.
»Was will Er von ihr?«
»Ich wollte gern der Schönen sagen, daß die Ratten wandern.«
Man sah, wie sich der Arzt Gewalt antat, um nicht loszubrechen.
An seinem Unmut würgend, sagte er dumpf: »Wär Er soeben mit mir in der Krone gewesen, dann hätte Er keine Lust mehr zu seinen Faseleien.«
»Starb er so schwer?« fragte der Schwarze leise und verhalten.
»Mensch, sei du froh, daß dich's nichts angeht.«
Es blieb eine Weile still. Ein schreckliches Erinnerungsbild schien vor dem Physikus aufzusteigen und in der Luft zu stehen.
Dann raunte der Fremde: »Mensch nennt Ihr mich, und du? Habt Ihr das an diesem Bett gelernt, an diesem Sterben? –«
Es kam keine Antwort.
Der Fahrende wollte gehen und kehrte noch einmal um. Ganz nahe trat er dem anderen. »Also, freien Durchzug, wenn sie kommen! Ich habe die 241 Ordre selbst gelesen, sie lautet: Südwärts so schnell als möglich.«
Das Unbeherrschte loderte in dem Kleinen wieder auf. »Geschwätz,« schrie er, aufs höchste erbost, »ein Rattenfängergeschwätz.«
Der andere schüttelte den Kopf. »Ihr irrt. Mit den Ratten hat das nichts zu tun. Es ist meine eigene Rede. Trügt sie, so scheltet den, der das Licht ungleich austeilt unter seinen Propheten.« ^
Er ging ohne Gruß davon. 242