Auguste Supper
Der Gaukler
Auguste Supper

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Erstes Kapitel

Kaum ist dein Fuß auf einen Pfad gestellt,
Eint schon dein Gehen sich dem Gang der Welt.
        A. S.

Längst hat sich die Stadt Luft gemacht. Damals aber lag sie eng zusammengekauert im Käfig ihrer alten Mauern und der Berghänge, die sie halb schützend, halb bedrängend umstanden und über deren Scheitel die endlosen Tannenwälder zogen.

Da und dort nur blieb eine windüberstrichene Hochfläche, ein steiler Hang, ein schmaler Talstreifen frei für die bescheidenen Äcker und Wiesen.

Stille Gärten klebten kühn am Berg und grüßten sich von Hang zu Hang über Fluß und Städtchen hinüber.

Schon vor mehr als einem Jahrtausend war auf dem Stadtgrund menschliche Siedelung. Wenn man heute durch die zu Straßen umgetauften Gassen geht, so wandert heimlich ein zarter Moderduft mit, ein Hauch und Ruch von Vergangenheit, wie er alten, selten geöffneten Truhen entsteigt.

Ein bescheidener Himmelsausschnitt steht über dem Tal. Der gewaltige Tierkreis, der die ewige 8 Feste säumt, hat bei weitem nicht Platz darauf. Aber was heruntergrüßt, ist immerhin genug, müde Herzen aufzurichten oder schlaflose Augen mit einem Strahl der Ewigkeit zu erquicken.

Man sollte meinen, die Bewohner des waldigen Kessels, die nirgends das Locken der Weite vor sich haben, müßten jederzeit verschont gewesen sein von der Qual fernehungriger Sehnsucht und besonders auch von der dunklen Angst vor der Uferlosigkeit des Daseins.

Man sollte meinen, das Umfriedetsein von den Bergen müsse wirken wie die Flügel der Glucke über den Küchlein. Man müsse sich hier warm, ruhevoll, geborgen fühlen und immer gefühlt haben.

Aber es ist in Wirklichkeit ganz anders.

Gar viele waren in jenem Tal allezeit durstig nach Ferne und Weite. Sie fluchten laut oder leise der Umfriedung und lechzten nach Kampf. Sie drängten nach dem Unbegrenzten, dem Uferlosen und wollten lieber draußen allen Teufeln gegenübertreten, als daheim die Sicherheit der Umzäunung genießen.

Manche sind draußen verschollen. Andere kehrten nach längerer oder kürzerer Zeit heim ins Tal, wie ein mattgehetztes Tier hinter die Käfiggitter zurückkehrt. Sie hatten genug von draußen. 9

Wieder andere lernten überraschend leicht und schnell die Weite zu meistern, als seien sie nie in der Enge gewesen.

Dann gab es auch noch solche, denen der heiße Fernedurst ungestillt blieb. Sie wurden unter seinem Druck gehalten, Jahr um Jahr. Soweit sie nicht leidliche Dichter wurden, sind sie Narren geworden, oder größere und kleinere Heilige und Seher. Auch Hexen und Hexenmeister entstanden auf diese Weise. Der Druck ließ die unbegreiflichen Kräfte in ihnen reif werden und überquellen.

 

In dem großen Buch, von dem zu Anfang die Rede war, schlägt der Wind eine Seite auf.

Da steht von einer starken Gilde in der Stadt geschrieben. Diese Gilde verstand es, allerlei gärende Sehnsucht einzufangen, wie Mühleflügel den sonst nutzlos wehenden Wind.

Zu Kraft, Tüchtigkeit, Unternehmungslust wandelte sie das Gärende um, und ihre Leute brachten neuen Zug ins stille Tal.

Da waren zum Exempel Zeugweber, die hinter ihren Stühlen standen und prächtige, dauerhafte Zeuge verfertigten. Aber sie sahen nicht nur die Schifflein von einer Stoffkante zur andern fliegen, sondern weit darüber hinaus nach fremden 10 Ländern, fremden Messen und Märkten, fremden Möglichkeiten ging ihr Sinn.

So gab es auch unter den Färbern, die am Flußufer an den dampfenden Kufen hantierten, Weitblickende, die ihre buntfarbigen Tuche als leuchtende Röcke um die Hüften schöner flandrischer Mädchen, die schwarzen aber als fromme Soutanen an den zahllosen Priestern des Welschlands sahen.

Das aber weiß man, daß etwas, das einmal im Geiste erschaut ist, sich auch bald zur Wirklichkeit verdichtet.

Bald genoß da die kleine Stadt eines weiten Rufs. Ihre Waren reisten durch die Welt, von ihrem Reichtum sagten Sprichwort und Kinderreim.

Aber sie selbst änderte sich nicht viel. Kaum daß nach und nach ein paar Häuser hinter den Mauern hervortraten und den Berghang zu erklettern versuchten, wie Schafe oder Ziegen, die aus den Hürden brachen.

 

Vor bald zweieinhalb Jahrhunderten ist's. Also nur einen Augenblick zurück.

Der Sommer wollte das Tal in jenem Jahr nicht verlassen. Zu wohl gefiel es ihm da, wo er 11 alle Herrlichkeit und Kraft entfalten konnte, ohne daß die Menschen stöhnen mußten über ermattende Tagesglut und schwüle Unerträglichkeit der Nächte. In Wälderdunkel und Tannenschatten, in den felsigen Schluchten rieselnder Wasser durfte er sein Wesen treiben, gesegnet von allem Lebendigen. Herrlich war der Tag. In tiefer, trunkener Bläue stand das Stück Himmel über dem Tal. Die Säume der Bergwälder, die Hecken an den Wiesen der Hänge und Hochebenen leuchteten, und stark strömte der Duft aus den Wäldern, wie das ist, wenn der Tag sich leise zu neigen anfängt.

Eines Habichts Schrei klang gellend über dem Talkessel, und nur ein völlig Kundiger mochte wissen, ob der Schrei Hunger oder Liebe, Leid oder Lust war.

Vielleicht war der Mann, der dort neben einem seltsamen Gespann über die menschenleere Höhe der Stadt zuschritt, solch ein Kundiger. Sein scharfer Blick hing eine Zeitlang an dem in ruhigen Kreisen schwebenden Vogel und das dunkle, ernste Gesicht wurde dabei freundlich, wie in einem wohlwollenden Verstehen.

Bald aber schaute er wieder auf den holperigen Weg und schien in Müdigkeit zu versinken. Ein schwarzer, langer Mantel fiel an der hageren 12 Gestalt herab bis auf schnallengeschmückte Schuhe. Beim Schreiten trat manchmal ein gutgeformtes, in schwarzen Strümpfen steckendes Bein zutag, das nach Jugend aussah, während im übrigen die hohe schlanke Erscheinung nichts aussagte über die Jahre des Fremdlings. Auf seinem Kopf saß, die Haare ganz bedeckend, ein turbanartiges Barett, oder ein barettartiger Turban. Aus den schwarzen Falten blitzte ein Stein, der als Agraffe zwischen den Stoffwülsten saß.

Der Mann hatte das Leitseil, einen hänfenen Strick, um den Arm geschlungen und ging in der Gleichgültigkeit großer Ermüdung neben dem kastenartigen Wagen her, vor dem ein übermäßig hochbeiniger Gaul die langen Füße so kühn durcheinanderwarf, als wolle er zu tanzen beginnen.

Aber so teilnahmslos des Mannes Augen blickten, es trat sofort eine jähe Wachsamkeit in sie, wenn sich etwas regte auf dem besonnten Weg, der sich jetzt langsam gegen den Rand der Hochebene hin senkte. Ein flüchtender Käfer, eine raschelnde Eidechse rief schnell den Schreitenden aus seiner müden Versunkenheit und machte ihn achtsam. Dann sank er wieder in sich zurück und schritt aus wie im Schlaf. 13

Über dem herben Mund, um den die Haut blau war von zurückgehaltenem Bartwuchs, stand eine schmalrückige Nase von guter Form. Die starken Stirn- und Backenknochen, die eingesunkenen Schläfen, das gespaltene Kinn gaben dem Gesicht etwas Kühnes und Verwittertes, das stärker hervortrat, wenn die Müdigkeit oft für Augenblicke von dem Schreitenden abfiel.

Ein zierlicher Affe kauerte auf des Mannes Schulter. Unbeweglich glotzte er ins Weite, als seien die hellen Augen von Glas. Wenn aber der Mann sich einmal umschaute, dann lebten gleichzeitig des Tieres Augen auf, wie vom gleichen Willen regiert.

So verzwickt der Gaul die Beine warf, – seine Schritte forderten nur wenig. Aber der Lenker trieb nicht zur Eile. Ihm mochte das langsame, fast feierliche Dahinziehen auf der stillen Höhe ganz nach dem Sinn sein.

Die sinkende herbstliche Sonne überglänzte leere Äcker und den Waldsaum, dem man nun nahe kam. Die goldenen Dolden des Rainfarn flammten und die blaßblauen Sterne der Wegwarten leuchteten neben dem Schreitenden. Der Abendwind machte sich auf und fuhr dem Mann in den Mantel und dem Äfflein ins Fell, so daß das kleine Tier 14 plötzlich aussah, als sträubten sich ihm die Haare in Zorn oder Angst.

Der Versunkene hob jetzt erwachend den Kopf. Er sah, wie der Wald sich hinabzog gegen die Mauern der Stadt, und ein wenig nachher hörte er das hastige Bimmeln einer kleinen Glocke.

Es war zu spät zur Vesper, zu früh zum Abendläuten, und der Mann schüttelte verwundert den Kopf, als könne er sich keinen Vers darauf machen. »Maja,« sagte er leise, sich gegen den Affen wendend, »man darf ja nur an einen ihrer Ameisenhaufen kommen, dann fängt das Rätselraten an und mit der Ruhe ist's aus.«

Der Affe rückte auf seinem Sitz und kratzte sich.

Da lachte der Schreitende. »Ja, ja, dich juckt und beißt es, wenn du von Ameisen hörst. Doch meinst du eine andere Sorte. Aber wegbleiben können wir beide nicht, bis wir sie wieder im Fell haben und die Bisse spüren.«

Zwischen dem unruhigen Läuten klang jetzt das starke Rauschen des Flusses auf, dessen Wasser über ein Wehr strömten. Und dann die Geräusche, wie sie den Siedelungen der Menschen entsteigen.

Der letzte Zug von Ermüdung auf dem dunklen Gesicht wich gestraffter Aufmerksamkeit.

Mauern sah man und spitze Giebel. Wie der 15 Hirte unter der Herde ein massiger Kirchturm, der aber vor dem Hintergrund von Berg und Wald Mühe hatte, stattlich auszusehen. Zwischen dem Gewirr auf der Talsohle des Flusses aufschimmerndes Band. Rings um die Stadt ein so enges Geschiebe von Bergen, daß es erstaunlich war, daß Fluß und Straße herein- und hinausfanden.

Der Fremdling verhielt den Schritt und ließ das Bild auf sich wirken. Er sah die ersten Schatten über dem Tal und den feinen Abendrauch über den Dächern. So lange schaute er hinunter, bis sein dunkler Blick etwas Abwesendes bekam, als sei es nicht mehr die friedliche Stadt allein, die er unten liegen sah, als dränge sich anderes her und bekomme Gestalt.

Reglos zusammengekauert saß der Affe. Er schien zu wissen, daß er mit der leisesten Bewegung seinen schauenden Herrn stören konnte.

Endlich wandte dieser den Kopf. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen und sagte leise: »Maja, ich fürchte, wir gehen in eine Mausefalle. Mir ist, als rieche ich schon den Speck und das schlimme Gitter. Aber ohne das Zweite kann ich das Erste nicht haben. Da bleibt keine Wahl.«

Er nahm den Affen von der Schulter und streichelte ihn zärtlich. Dann klopfte er auch dem Gaul 16 den Rücken. »Wir drei halten zusammen, komme, was da will. Schade, daß ihr mir nicht helfen suchen könnt. Aber suchen ist Menschensache. Es ist sogar ›die‹ Menschensache, das könnt ihr mir glauben.«

Der Affe fuhr mit einer zierlichen Gebärde dem Sprechenden über den Mund. Der lachte leise. »Du magst das nicht hören? Vielleicht weißt du es besser? Oder willst du sagen, es sei lang genug gesucht? Was hältst du davon, Prometheus?« wandte er sich an den Gaul.

Der ließ die Ohren spielen und fing an, mit dem Huf zu scharren.

»Gut, gut,« beschwichtigte der Herr. »Du willst, wir sollen das unnütze Gerede lassen und einen ordentlichen Stall suchen! Du bist wohl der Klügste von uns dreien. Wir wollen uns fertig machen.«

Der Gaul bekam einen Federbusch über die Stirne und hob in stolzer Freude die Lefzen. Für den Affen entnahm der Mann eine rote Schabracke dem Wagen. Das Tierlein sträubte sich gegen den Schmuck und blickte verdrossen.

»Nun bist wieder du klüger,« sagte leise der Mann, »du verachtest den Mummenschanz. Es ist mir wie dir; aber sieh: wenn wir unter die Menschen kommen, geht es nicht anders. Wo sollen sie 17 sonst ihren Glauben hernehmen an uns? Das ist ja der große Jammer, daß ihnen kein Glaube in der Seele wächst, sie sähen denn etwas, davor sie stutzen. Rote Schabracken, oder Zeichen und Wunder – sonst glauben sie nicht. Meinst du, ich trüge dieses da« – er stieß mit dem Fuß gegen den Mantel – »wenn die Seelen reich genug wären, ohne dies zu glauben?« Er nahm seinen Turban ab und setzte ihn so auf, daß zwei lange kohlschwarze Strähnen des Haares rechts und links an den Ohren herunterhingen. So geschmückt, oder entstellt, bestieg er den Wagen. Hochragend, steil, ernst stand er droben, als lenke er eine römische Quadriga, und so fuhr er durch das offene Tor, ohne angehalten zu werden.

Noch immer läutete die hastige Glocke. Sie schien alles Lebendige aus Häusern und Gassen weggefegt zu haben, denn der Fremdling, der nur im Schritt fuhr, konnte lang niemand erblicken. Endlich kam vom Fluß her ein rußiger Mann in der Lederschürze der Schmiede. Gaffend besah er das Fuhrwerk. Sein geschwärztes Gesicht war halb frech, halb neugierig, das Weiße seiner raschen Augen stach seltsam aus der Rußschicht.

Der Wagenlenker hielt an und rief ihm zu: »Freund, was soll wohl das Läuten?« 18

Lachend und frech kam die Antwort: »Es wird dir gelten! Auf einen wie du hat die Stadt längst gewartet.«

Ein großes, schlankes Mädchen in dunklem Kleid war plötzlich da. Sie schaute an dem Fremden hinauf und schalt dann den Schmied. »Wasch dir den Mund,« klang es zornig, »gibt man so einem Fragenden Antwort?« –

Dann wandte sie sich höflich an den Wagenlenker. »Der Herr Spezial läßt gegen die Welschen läuten. Sie sollen wieder im Land und nicht weit sein,« gab sie Bescheid.

Mit einem seltsamen Lächeln schaute der Fremdling in das schöne, junge Gesicht: »Ach so,« sagte er halblaut, »das ist's! Bis wann erwartet man sie?«

Das Mädchen errötete. Sie fühlte sich verspottet. Abweisend klang's: »Wenn man sie erwartete, würde man nicht wider sie läuten.«

Der Mann stieg von seinem Wagen. Er schien nicht zu beachten, daß sich ein Kreis Neugieriger gesammelt hatte, so rasch, wie Bienen den Honigtopf wittern.

Er zupfte den Mantel zurecht, streichelte den Affen und nahm das Leitseil ganz kurz.

»Es ist zu früh noch, das Läuten,« sagte er wie 19 beiläufig. Sein Blick traf des Schmieds grinsendes Gesicht. »Dein heldischer Sinn kann es wohl nicht erwarten?«

Der Rußige fuhr auf. »Du kannst mich – –«

»Was er kann, das weiß der Doktor Sansasyl selbst am besten,« entgegnete der Fremde, und es klang etwas Gespreiztes hindurch, das die Umstehenden zurückzudrängen schien.

»Er ist ein Welscher,« rief von hinten eine Stimme.

Der Fahrende lachte auf. »Klug sind hierzulande die Leute. Sie kennen jeden an seiner Nase.« Er wandte sich an einen gutgekleideten Mann. »Wo finde ich Herberge für mich und meine Tiere?«

Unsicher schaute der Befragte. Er mochte sich überlegen, welche Art von Unterkommen für solchen Gast in Betracht kommen könnte.

Da wetterleuchtete es in des Fremden dunklem Gesicht. Unterdrückt sagte er: »Haltet mich vorläufig für euresgleichen! Bin ich mehr, so ist es genug, daß ich dies weiß.«

Der Gutgekleidete erschrak, als hätte ihm der andere ins Herz gesehen.

»In der Krone sind die Herren,« sagte er hastig.

»So werde ich in die Krone zu den Herren gehen,« entschied der Fremdling, und dann mit 20 einer kurzen Handbewegung zu den Umstehenden: »Ihr alle mögt euch zu den Knechten in der Kirche gesellen.«

Es war ein verdutztes Schweigen über dem Kreis. Der freche Schmied brach es. »Eben sagtet Ihr, es sei zu früh.«

Mit zusammengekniffenen Augen sah ihn der Fremde an. »Bleibt dir das Du im Halse stecken? Merkt deine Dumpfheit, daß hier anderes ist als deinesgleichen? Wohlan, wenn du höflich wirst, so werde ich redselig: Wisse, euer Herrgott nimmt Läuten und Beten auf Vorschuß. Er weiß, daß keine Zeit mehr dafür vorhanden sein wird, wenn die Zeit dafür gekommen ist.«

Der Schmied wandte sich um und deutete auf seine Stirn. »Der Kerl ist zu lang in der Sonne gegangen, jetzt schäumt ihm das Hirn,« rief er mit erzwungenem Lachen unter die Gaffenden hinein.

»Dir aber,« fuhr unbewegt der Fremdling fort, »dir läßt dein Herrgott noch extra sagen, – –« er verstummte und sah in die Luft.

Es war ein Schweigen über den Gaffern und vom nahen Flußufer herüber kam ein häßlicher Brodem, wie er den Gruben der Lohgerber, den Kufen der Färber, den Kesseln der Seifensieder und Leimkocher entstieg. 21

Der Fremdling hob die Nase. »Viel Gerüche auf einmal,« sagte er laut zu seinem Affen, »wer hier auf einer Fährte geht, hat es nicht leicht.« Aber der Affe konnte nicht auf seinen Herrn hören. Er war schwer bedrängt von der langen Gerte eines strohköpfigen Jungen, der sich verschlagen herangepirscht hatte und nun, solang der Herr nicht acht hatte, seinen groben Unfug trieb mit dem überraschten, sonst so wohlgehüteten Tierlein.

Ehe der Fremdling begriff und den kleinen Gefährten schützen konnte, faßte eine rasche Hand des Buben gelben Schopf und traktierte ihn mit saftigen Ohrfeigen.

Das schlanke Mädchen war's, das vorhin den Schmied zurechtgewiesen hatte.

Stumm und prüfend sah der Fremde sie an. Ihr von Zorn und Eifer belebtes und rosiges Gesicht wurde unter seinem Blick langsam wieder blässer. Sie wandte sich, als wolle sie gehen.

Der Mann vertrat ihr den Weg. »Ich bin in Eurer Schuld,« sagte er leise; »kaum angekommen, mache ich schon Schulden. Da geht es denn in einem! Zeigt mir jetzt noch den Weg!«

Sie blickte sich um. Es war fast, als suche sie zu entwischen.

Dann sagte sie kurz: »So kommet!« 22

Der Gaul, als sei an ihn das Wort gerichtet, zog in großem Eifer an. Im Arm seines Herrn wieder sicher geworden, reckte das Äfflein zum Abschied die Zunge gegen die Gaffer.

Der Weg, der vom Tor her gegen die Brücke zog, war frisch, aber schlecht gepflastert. Bös ratterte der Wagen und ein Klirren kam dann und wann aus seinem Innern. Der Lenker, der nebenher schritt, lachte.

»Um so schlimmer für die Stadt,« sagte er, und man wußte nicht, sprach er mit dem Mädchen oder mit dem Affen, »zerbricht mir ihr Pflaster die Kolben, so müssen die Siechen an den Scherben lecken.«

Die Häuser am Fluß waren wenig ansehnlich. Leere Werkstätten und die dunklen Gelasse all der Gewerbe, die die Luft verpesteten, boten keinen freundlichen Anblick. Nur rechts, unfern der Brücke, zusammengebaut mit dem kleinen Kirchlein, in dem die Glocke ging, war ein größeres, langgestrecktes Haus, dessen gelber Bewurf neu herübergrüßte, ohne aber viel Freudigkeit zu zeigen und zu wecken.

Aus einer nahen Schmiede kam Feuerschein. Darüber schaute aus kleinem Fenster ein bleiches, hübsches Frauengesicht, das ein mächtiger Kranz dunkelbrauner Flechten krönte. Sie blickte erstaunt 23 auf den Fremdling und noch mehr erstaunt auf seine Führerin. Dann grüßte sie diese mit einem raschen Kopfnicken.

»Gehört hierher der Rußige?« fragte der Fahrende, »ist dies die Schmiedin zum Schmied?«

»Gott verhüt's!« entfuhr es dem Mädchen, »er ist ihr Knecht. Die Meisterin ist eine Witfrau.«

»Ihr seid befreundet mit ihr?«

»Sie ist einsam und oft krank,« entgegnete die Führerin, als sei das Antwort genug.

Der Fremdling schaute sie an. Etwas Verhaltenes, man wußte nicht, war es Freude, Verwunderung, Spott, lag in seinem dunklen Blick. Dann pfiff er, als gelte es dem Gaul, durch die Zähne.

Das Mädchen blieb jetzt stehen und deutete über die Brücke. »Ihr brauchet mich nicht,« sagte sie, »der Weg ist nicht zu verfehlen. Da hinüber und dann rechts, bis – – –«

Kühl fiel der Mann ihr in die Rede. »Es ziemt sich wohl nicht für Euch, einen Fahrenden zu geleiten?«

Da ging sie, ohne zu entgegnen, dem Gespann voran auf die Brücke. Träg und schwer trieben die in die Breite gezogenen Wasser zwischen den Brückenpfeilern hindurch einem Wehr zu. An den hohlen Uferrändern, an den verwitterten Mauern 24 naher Häuser sah man, daß der Fluß wohl nicht immer so zahm einherwallte wie heute, daß er sich ändern konnte, wie der Bedächtige, über den nur selten, dann aber stark und stürmend, der Zorn kommt.

Schmale Höfe, bescheidene Gärtchen stießen da und dort ans Wasser. Über zerfressene Mäuerlein hing Kapuzinerkresse. Herbstnahe Verwilderung lag über abgeernteten Beeten. Weiter abwärts standen prächtige Weiden am Wasser und ließen die Äste bis auf die ziehenden Wellen hängen.

Der Fahrende verhielt sein Gespann und ließ die Blicke wandern.

Da blieb ohne weiteres und ohne jegliche Ungeduld auch die Führerin stehen. Einen stillen, träumenden Ausdruck auf dem jugendschönen Gesicht, sah sie den ziehenden Wassern nach. Hinter ihr stiegen in klaren und edlen Linien die alten Mauern einer kleinen Brückenkapelle auf.

Des Fremdlings Augen faßten das Bild. Über ein paar mitgelaufene Kinder hinweg fragte er: »Seid Ihr die Heilige dieses Heiligtums?«

Des Mädchens Blicke trafen ihn kühl und fragend.

Er lachte. »Heißet Ihr Klara, oder Agnes, oder Cäcilia?« 25

Sie runzelte die Stirn. »Lutherisch ist man hier,« sagte sie abweisend.

Er streichelte seinen Affen. »Also Heiliges verpönt?« fragte er mit leisem Lächeln.

Sie fand keine Antwort und schaute ihn halb feindselig, halb hilflos an.

Er ließ die Augen wieder wandern und sah den aufglühenden Abendglanz auf den Flußwellen, die grünen, nahen Berge, den lohenden Himmelsausschnitt. Langsam und selbstvergessen hob er die Hand. Er machte eine kleine Geste, als segne er nach allen Seiten.

Dem Mädchen entfuhr es: »Ihr seid Papist?«

Er schaute sie verwundert an: »Warum?«

»Ihr machtet das Zeichen.«

Er schien nicht gleich zu verstehen: »Das Zeichen? – Ach so! Ja, hätte ich sollen lieber mit den Füßen stampfen, wie der Bauer auf der Kirmes? Was macht denn Ihr für ein Zeichen, wenn Ihr hinter der Schönheit die Heiligkeit wittert?«

Sie blickte ihn überrascht an. »Wir, – wir,« stammelte sie verwirrt.

»Nun ja,« sagte er ungeduldig, »nicht die Kirmesbauern natürlich, die überall die gleichen sind, sondern du zum Exempel.« 26

Sie fand keine Antwort. Die Himmelsröte, oder was es sonst war, färbte ihr schönes Gesicht.

Dringender fragte der Fremdling: »Will nichts dabei in dir überquellen und Form und Zeichen werden, so, wie dereinst die Welt wurde, als dem Unerforschlichen das Herz überquoll? –«

Immer noch schaute sie hilflos und stumm. Aber dann, als hätte doch irgend etwas aus des Mannes Rede den Weg in ihr Inneres gefunden, drückte sie einen Augenblick, vielleicht ohne es zu wissen, die Hand aufs klopfende Herz.

Der Fahrende nickte. Vorsichtig nahm er den Affen von der Schulter und setzte ihn dem Gaul auf den Rücken. Dann wandte er sich dem Mädchen zu. Es lag stiller Ernst auf seinem dunklen Gesicht.

»Also du drückst die Hand aufs Herz? Das ist dein Zeichen? –«

Sie konnte nicht antworten. Verwundert blickten ihre klaren Augen.

Er trat an den Brückenrand und schaute ins Wasser. Dann kam er wieder her. »Ich dachte mir das,« sagte er halblaut, »es war auch das Zeichen der Regula Mussa.«

Beunruhigt drehte das Mädchen den Kopf. Sie suchte loszukommen. »Fritz,« rief sie einem der gaffenden Buben zu, »geh du mit und zeige die 27 Krone!« Die Buben stiebten davon, wie ein Schwarm Vogel, wenn ein Schuß fiel.

Der Fremde lachte laut auf. »Es bleibt an Euch hängen, Schönste. Ihr hättet Euch nie mit mir einlassen sollen. Ich bin wie die Klette im Haar.«

Sein spottender Ton machte sie ruhig. »Kommt mit!« sagte sie und wollte vorangehen.

Da schüttelte er den Kopf. »Es tut nicht weiter not. Ich weiß jetzt meinen Weg. Macht mir den Preis für Eure Dienste. Doch stellt ihn nicht zu hoch; ich bin der reiche Mann nicht, für den mich alle halten, die etwas von mir wollen.«

Unmut, Befremden überschattete das junge Gesicht. Dann warf sie mit einer schönen, unbewußt stolzen Bewegung den Kopf zurück. »Ich tat noch nie etwas um Lohn.«

Leises Lächeln irrte um des Mannes Mund. »Mädchen,« murmelte er, »du kennst dich selber nicht. Wer dein Zeichen hat, der tut alles um den einen Lohn.«

Sie wich zurück. Ihr klarer Blick trübte sich wie ein Spiegel, den ein Hauch berührte.

Er trat ihr ganz nahe. »Mache den Preis, Mädchen! Damit wir voneinander loskommen! Ich kann mir von dir nichts schenken lassen. Dort, wo man schuldig bleibt, erwürgt man seine Kraft.« 28

Er sprach so dringlich, fast flehend, daß sie ihn in tiefer Verwunderung anstarrte.

»Ich weiß nicht, was Ihr von mir wollt,« sagte sie benommen, abweisend, zurücktretend.

Er folgte ihr. »Ich will nur das Eine, daß du etwas von mir wollen sollst, damit wir fertig werden miteinander.«

Sie streckte die Hand aus. »Geht! Wir sind fertig miteinander.«

Er trat zurück. »So geht das nicht, du Törichte. So große Macht steht dir nicht zu, mich loszusprechen, ehe ich bezahlte.«

Unwille trat in ihr Gesicht. »Wenn ich doch nichts von Euch nehmen will!«

Er nickte vor sich hin. »Ich sehe schon, du willst, daß ich den Preis selber mache! Die, die das Höchste herausschlagen wollen, nennen nie eine Summe. Aber du mußt mir noch stunden, Madonna; ich muß erst einen Überschlag machen. Verlaß dich drauf, daß du bezahlt wirst, und wenn ich für dich das letzte aus dem Beutel kratzen müßte.« Er lachte seltsam auf. »Mir schwant, es wird ein teurer Spaß für mich, der Tag, da ich hier einzog.«

»Man rief Euch nicht,« sagte sie unwillig und abweisend. 29

»Ich wüßte nicht, daß ich jemand dessen geziehen hätte,« gab er kühl zurück.

Die Glocke, die eine Zeitlang geschwiegen hatte, fing jetzt wieder zu bimmeln an.

»Geht,« wandte sich mit aufreizendem Lächeln der Mann an seine Führerin, »sie kommen jetzt hier vorüber und möchten Euch neben mir sehen, die tapferen Beterscharen.«

Grollend gab sie zurück: »Beten ist tapferer als spotten.«

Er zuckte die Achseln. »Wer weiß? Ich kenne tapfere Spötter und feige Beter. Die hiesigen kommen mir vor wie Maja, mein Affe.«

Sie blieb trotzig stumm und schaute an ihm vorüber auf die ziehenden Wasser.

Er raunte ihr zu: »Soll ich dir verraten, warum? Sieh, Mädchen, alles, was ihnen geschenkt ist, ihren heißen Zorn, ihre gerechte Empörung, ihre gesunden Knochen – sie schieben es in ihre Backentaschen und strecken die Pfoten aus nach des Herrgotts Hilfe. Findest du das tapfer, ja, findest du es klug?«

Sie antwortete nicht. Er drängte: »So rede doch! Sieh sie dir an! In jedem Heute sind sie gemeines Bettelvolk, das von einem stolzen und herrenhaften Morgen lallt. Im Heute greinen sie 30 um zugeworfene Brocken, in aller Zukunft aber gedenken sie vom Eigenen zu leben, aus den Backentaschen, verstehst du! –« Er lachte schallend auf und fuhr sich dann über den Mund, als wolle er dieses Lachen wegwischen.

Sie blieb noch immer stumm. Unruhe lag auf dem jungen Gesicht. »Sieh, Mädchen,« fuhr er leiser fort, »solang sie der Widerpart sind zu dem, den sie umbetteln – – was kann er ihnen schenken? Etwa einen neuen Lappen auf ihr altes Kleid, den neuen Most in ihre alten Schläuche? –«

Sie gab immer noch keine Antwort. Langsam stieg ihr das Blut in die Stirne.

Er reckte sich auf. »Gehe, Mädchen, ehe sie kommen und dich neben dem Vaganten finden.«

Sie blitzte ihn an. »Und wenn ich bleiben will! –«

Er klopfte seinem Gaul den Hals. Sein Gesicht war verändert, und leichten Tones sagte er: »Ich nahm mir eine Stute vor den Wagen. Wißt Ihr, Jungfer, warum? Nun, weil sie sicher folgt, wenn ich es richtig angreife. ›Hist‹ muß ich sagen, wenn ich ›hott‹ meine. Mir ist's geringe Mühe. Das Tier hieß einstmals Eva. Sie fand den Namen unwürdig und hörte nicht darauf. Jetzt nenne ich sie Prometheus. Seht hin – nun dreht sie schon den Kopf. Mir macht's nichts aus, mein Wort 31 nach ihrem Ohr zu wählen, wenn schon ihr Ohr sich nicht nach meinem Wort richten mag. Verzeiht, daß ich Euer Ohr noch nicht so kenne, daß ich mein Wort danach zu richten weiß.«

Ein flammendes Rot überflutete ihr Gesicht. Langsam schritt sie von hinnen.

Gruppen stummer Menschen kamen jetzt vorüber. Der Fremdling und sein Wagen schien sie einigermaßen aus ihrer Bangigkeit zu reißen. Vielleicht wehte sie ein Hauch von Jahrmarktsfreuden an, von jenen nahen und plötzlich tiefversunkenen Zeiten, da man drolligen Affensprüngen zusah und für Gauklerstücke ein Scherflein übrig hatte.

Wie ein zirpender Vogel, der sich in die Kirche verirrt hat und über den Köpfen zerknirschter Büßer schwirrt, daß sie aufschauen, so lenkte das Gespann und sein Herr die düstere Stimmung der Vorübergehenden für einen Augenblick ab. Aber sie vergaßen sich nicht so weit, daß sie sich um den Fremden gesammelt hätten. Sie ließen ihn ziehen und drehten nur lang die Köpfe nach ihm.

Mühelos fand er den Markt und die Krone, die den stattlichen neuen Schild weit hinausreckte.

Durch eine gepflasterte Einfahrt, in der der Hufschlag des Gaules und das Rollen des Wagens zu ratterndem Dröhnen wurde, fuhr der Mann in 32 den hinteren Hof. Dort stand ein Knecht, der unfroh gaffte, als sei ihm der Gast nicht sonderlich willkommen. Erst als er den Affen erblickte, leuchtete sein Gesicht auf.

Dieses Gesicht war häßlich und blöd, der ganze Mann ungestalt, wie ein riesiger, knorriger Weidenstumpf.

»He,« rief ihn der Fahrende an, »willst du nicht ausschirren?«

Der Mensch schüttelte den Kopf und ließ die langen Arme hängen. Einen eindringlich prüfenden Blick warf ihm der Ankommende zu, dann sagte er freundlich und aufmunternd, wie man zu einem störrischen Kinde spricht: »Greife nur an! Mache die Stränge los und tu die Stalltüren auf, mein Gaul ist müde.«

Aber der Ungestaltete schien nicht zu hören. Wie gebannt hingen seine Augen an dem Affen.

»Willst du mir den Wirt rufen?« bat ohne Ungeduld der Fremde. Der Knecht schüttelte wieder den Kopf. Weinerlich, verzerrt wurden seine Züge.

»So rufe die Wirtin,« sagte aufmunternd der Gast.

Auch das wollte der Knecht nicht. Die grunzenden Laute eines Blöden kamen aus seinem Mund, er fuchtelte mit den großen Händen. 33

»Auch das ist also nicht nach deinem Sinn?« sagte ruhig der Fremde, »nun, so wirst du deine guten Gründe dafür haben; soweit kenne ich deinesgleichen.« Er tat selbst die Arbeit, die dem Knecht gehört hätte, schirrte aus, führte die Tiere in einen leeren Gaststall, holte Futter aus seinem Truhenwagen und streute auf.

Neugierig, mit lebhaftem Blick, folgte der schmutzige Mensch all diesem Tun. Als der Fremdling die Stalltüre zutat, trat er herzu und zog aus seiner schmierigen Tasche einen Rötelstein. Damit malte er zwei übereinandergeschobene Dreiecke auf die Türe und grinste den Fahrenden an, als wolle er gelobt sein.

Der lachte hell auf. »Du meinst es gut, aber nötig wäre es wohl kaum. Die Teufel und Hexenmeister schädigen selten ihre Verwandtschaft. Ich werde mir jetzt die Hände waschen.« Er nickte dem Knecht freundlich zu und ging ins Haus. 34

 


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