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Fünfunddreißigstes Kapitel

Als der Referendar Fritz Kühne in den Vorder-Roßgarten einbog, sah er schon von weitem die Straße mit Menschen gefüllt.

Wie immer bei feierlichen Begräbnissen hatte viel Volk sich auf die Beine gemacht, um die voraussichtliche Entfaltung des akademischen Pomps zu bestaunen.

Allmählich mischten sich grellbunte Flecke in die schwärzliche Menge.

Die studentischen Korporationen waren zum größeren Teile schon aufmarschiert. Die farbentragenden natürlich in Wichs. Die Banner, von Chargierten gehütet, aus viersitzigen Wagen hochmütig über die dicht gedrängten Köpfe emporgehoben.

Auch die Cheruskia war da. Und Fritz grüßte mit lächelnder Andacht die Farben, die sich gewalthaberisch einst zwischen ihn und die Welt geschoben hatten.

So groß war der Andrang, daß Schutzleute den Platz vor dem Trauerhause freihalten mußten.

Da er keine akademische Ausweiskarte bei sich trug, war es plötzlich mit dem Vorwärtskommen zu Ende.

Erst als er dem überwachenden Polizeileutnant vorgestellt hatte, daß ihm von dem Verstorbenen ein Amt übertragen sei, wurde ihm der Durchlaß verstattet. Sogar ein bewaffnetes Ehrengeleit erhielt er, das ihn die Treppe emporführte.

Im Hausflur stand der Sarg. Wahrscheinlich hatte das Arbeitszimmer für ihn und die Gäste nicht ausgereicht.

Kränze, buntschleifig, mit goldenen Inschriften prunkend, überwölbten den Deckel und lehnten sich an den Katafalk.

›Wo mögen die herkommen?‹ dachte Fritz, denn er wußte ja, wie einsam der Tote durch seine letzten Jahre gegangen war.

Weitgeöffnet standen die Türen, die zu seiner und zu der Wohnung der Wirtsleute führten. Trauergäste stauten sich, wo irgendein Raum für sie übrig war. Sogar die Treppe zum oberen Stockwerk war von ihnen besetzt.

Eilfertig schob der Sekretär seinen vierschrötigen Körper von Knäuel zu Knäuel, um den Professoren Platz zu verschaffen.

Mehrere von ihnen kannte Fritz nicht bloß dem Ansehen nach, hatte er doch einst bei ihnen gehört und unlängst das Rigorosum bestanden. Er machte seine Verbeugungen und spähte über die nächsten Köpfe hinweg nach Mutter und Tochter.

Dort hinten im Wohnzimmer, inmitten des Menschengewühls, stand Helene, mit leeren, erloschenen Augen irgendwohin starrend, wo nichts zu sehen war.

Er drängte sich zu ihr hindurch und bot ihr die Hand.

Erst blickte sie ihn an wie einen Wildfremden, dann erwachte sie langsam aus ihrer Versteinerung.

»Ich habe die Manuskripte aus dem Schranke genommen und auf den Schreibtisch gelegt«, sagte sie ganz ruhig und so selbstverständlich, als hätten sie längst über das alles gesprochen, »aber Feuer im Ofen hab' ich noch nicht gemacht, weil es ohnehin schon so warm ist. Sobald die Zeit da ist, werd' ich es tun.«

»Zweimal bin ich hier gewesen«, erklärte er leise, »aber die Wohnung ist immer verschlossen gewesen.«

»Wir sind erst gestern angekommen«, erwiderte sie. »Hätten wir die Nachricht nicht in einer Zeitung gelesen, so wäre er – fortgetragen worden, ohne – daß – –«

Und nun stockte sie doch, während ihre Unterkiefer sich knirschend bewegten, aber im nächsten Augenblick hatte sie sich wieder in der Gewalt.

»Als wir kamen«, fuhr sie fort, »fanden wir schon alles gemacht. Die Universitätsbehörde hat alles gemacht. Und der Sekretär sagte mir, was in dem Testamente bestimmt ist. Auch was Sie dabei zu tun haben, sagte er mir.«

»Wo ist Ihre Mutter?« fragte er.

Das Starren des Auges fand sich von neuem.

»Meine Mutter? Jawohl, meine Mutter … Die sitzt im dunkeln Alkoven hinten. Es ist nicht viel mit ihr –. Aber wollen wir uns nicht um die Papiere kümmern? Mir scheint, es ist bald – – so weit.«

»Ich werde Ihnen Platz machen«, sagte er und drängte sich ihr voran in das Arbeitszimmer.

Das war leerer, als er vermutet hatte. Wahrscheinlich hatte der große Respekt vielen den Eintritt verwehrt. Denn dort saßen Seine Magnifizenz und die Herren Dekane. Auch einzelne aus der näheren Kollegenschaft saßen da.

Von diesen hatte jeder einen Stoß beschriebenen Papiers auf den Knien und las darin so eifrig, als ginge ihn das Begräbnis nicht das mindeste an.

Da saß Geheimrat Auerbach, der große Kenner der römischen Welt, ganz in sich zusammengekauert, und las und blätterte und blätterte und las und wiegte dazu den greisen Kopf nach einem Takte, der nur ihm im Ohre klang.

Da saß Pfeifferling und stierte wilden Auges auf die Seite nieder, die er in Gier verschlang, von Zeit zu Zeit ein Grunzen ausstoßend, das halb Abscheu und halb Bewunderung schien.

Da saß des Toten Spezialkollege, Professor Hagemann, mit fleckigen Backen und kurzgehendem Atem, knüllte vor Erregung das umgeschlagene Blatt, und wenn er eine Hand freibekam, riß er damit an dem dünngezipfelten Bart. Aus seinem Munde kam kein Laut, aber ab und an sandte er einen scheuen Blick in die Runde, als fürchte er auf Diebeswegen ertappt zu werden.

Da saß noch einer lesend – und noch einer. Auch Geheimrat Wendland saß da, aber er las nicht. In dem grauen Apostelkopf, der tief auf die Brust herabgesunken war, malte sich ein Kummer, der kaum dem Toten gelten konnte, denn er hatte ihm niemals nahegestanden. Aber was im Schöße der Familie sich barg, das ahnte ja niemand.

In die Menschenmauer, die sich am Eingang des Arbeitszimmers aufgebaut hatte, kam wogende Bewegung. Der Sekretär, der solange für Ordnung gesorgt hatte, schob zwei teilende Arme nach vorne, um mit Gewalt eine Gasse zu schaffen.

Und als ihm dies gelungen war, erschien auf der Schwelle ein katholischer Priester in vollem Ornat, und zwei Chorknaben folgten ihm auf dem Fuße.

Der Prorektor, der sich als Hausherr und erster Leidtragender fühlte, stand auf und kam ihm entgegen. Ein Murmeln der Verständigung, ein verschwenderischer Händedruck, dann wandten sich ihre zwei Augenpaare, das eine verwundert, das andere voll Ungeduld, den Lesenden zu.

»Es ist Zeit, meine Herren«, sagte Seine Magnifizenz in dem gedämpften Tone, den die Stille des Totenhauses verlangte.

Die Lesenden hörten die Mahnung wohl, denn sie hoben kurz aufschauend die Köpfe, aber dann kehrten sie unbekümmert zu ihrer Lektüre zurück.

Helene war derweilen vor dem Ofenloch niedergekniet, um Feuer zu machen, und Fritz, der neben ihr stand, reichte ihr das Zeitungspapier, das sie zum Anzünden bereit gelegt hatte.

Der Geistliche, ein stämmiger, junger Mann mit klugen, alles einsaugenden Blicken, sah in befremdeter Frage zu dem Gesicht des Prorektors empor.

Der neigte sich seinem Ohre zu, um ihm flüsternd eine Erklärung zu geben, dann erhob er die Stimme ein wenig: »Noch einmal – es ist Zeit, meine Herren.«

Da stand Auerbach auf, preßte das Bündel Papier gegen den Leib und sagte ganz laut: »Hier geschieht ein Verbrechen.«

Durch die Menschenmauer im Hausflur ging wieder ein Wogen. Der Prorektor führte verweisend den Zeigefinger zum Munde und sagte dann in leisem Befehlston: »Ich bitte die Herren, zusammenzutreten.«

Endlich erhoben auch die andern sich und legten die Blätter zu den Stößen zurück, die den Schreibtisch erfüllten.

In Gier nach Vernichtung flackerte das Feuer im Ofen empor.

Fritz Kühne, der jeden Vorgang beobachtet hatte, ging zu der Gruppe hin, die sich in der Nähe des Fensters zusammendrängte.

Die draußen im Hausflur wollten wissen, was los war, aber der Sekretär pflanzte seine Breitschultrigkeit abwehrend vor die umlagerte Tür.

»Ich bitte Herrn Kollegen Auerbach«, sagte der Prorektor in geziemender Leisheit, »seine vorhin gesprochenen Worte zu begründen. Für ein etwaiges Verbrechen würde ich verantwortlich sein.«

Der schmächtige Körper des Greises zitterte. Ruckweise fuhr er mit tastender Hand unter die Brille nach den rotgeränderten Augen.

»Ich bin nicht vom Fach«, antwortete er ebenso leise, »aber soviel kann auch ich aus dem eben Gelesenen entnehmen, daß darin ganz eigenartige, vielleicht noch nie ausgesprochene Gedanken zum Ausdruck kommen. Deren Niederschrift zu zerstören würde sicherlich für die Wissenschaft einen schweren Verlust bedeuten. Im übrigen wird Kollege Hagemann sich mit größerem Gewicht dazu äußern können.«

Der Prorektor blickte fragend zu Hagemann hinüber.

Der massige Mann, der sonst mit unbeirrbarer Behäbigkeit seinen zunftmäßigen Weg ging, vermochte in plötzlicher Erschütterung keine Worte zu finden. Er bearbeitete stumm die graulichen Zipfel seines Bartes und stammelte endlich: »Meine Herren! Nach einer ha – halben Stunde ka – kann ich natürlich kein fa – fachliches Urteil fällen, – aber – aber so viel weiß ich: Ich ha – habe diesem Manne U – Unrecht getan … Wir alle – haben – diesem Manne – Unrecht getan. Denn – denn – wir glaubten – er a – arbeite nichts und er – er habe nichts – zu – veröffentlichen … Und – jetzt sehen wir hier – ein ganzes – ein ganzes – Lebenswerk – aufgeschichtet. Welches dessen Werte sind – mag unbestimmt bleiben, aber – zugrunde gehen, meine ich, darf es nicht.«

Der Prorektor zuckte abwehrend die Achseln und sagte: »Ich trage das Dokument bei mir, das seinen letzten Willen unzweideutig ausspricht. Bevor die Leiche aus dem Hause getragen wird, müssen jene Papiere verbrannt sein. Ich weiß nichts, womit sich diese Bestimmung anfechten ließe, denn die geistige Umnachtung, die wir –«

Er sandte einen vorsichtigen Blick nach dem Geistlichen hinüber, der in würdiger Zurückhaltung abseits stehen geblieben war, und senkte seine Stimme noch mehr.

»– – die wir dem katholischen Pfarramt gegenüber angegeben haben, um ein kirchliches Begräbnis nicht behindert zu sehen, können wir untereinander kaum aufrecht erhalten.«

Da nahm Pfeifferling das Wort.

»Wenn's darauf ankommt, Magnifizenz! Ich hab' ja dem Toten gewissermaßen am nächsten gestanden. Sogar 'n Abschiedsbrief hab' ich von ihm. Und ich kann bezeugen – eidlich, wenn es sein muß –, daß er in der letzten Zeit 'n bißchen – sagen wir – sonderbar war. Wenn wir hier einig sind – was dazu gehört – geistige Umnachtung oder verminderte Zurechnungsfähigkeit – oder wie sonst die juristischen Ausdrücke lauten, das würde sich reichlich feststellen lassen.«

Beifällig sahen die Universitätslehrer einander an. Ein jeder erwartete von dem Gesichte des andern die Zustimmung abzulesen, die er selbst in seinem Innern schon erteilt hatte.

Fritz Kühne fühlte sein Herz pochen. Nichts Dreisteres konnte es geben, als so jung und so grün, wie er noch immer war, diesen mächtigen und hochberühmten Männern in offenem Widerstande entgegenzutreten. Aber es mußte sein. Der Tote selbst hatte ihn zum Anwalt seines Willens gemacht.

Mit zwei entschlossenen Schritten schob er sich in den innersten Kreis.

»Ich bitte um Vergebung, meine Herren – –«

Ein halbes Dutzend unwilliger Augenpaare wandte sich dem Vermessenen zu.

»– – aber auch ich trage ein Dokument bei mir, das mein Eingreifen rechtfertigt. Darf ich Eure Magnifizenz bitten, Einsicht zu nehmen.«

Und er übergab dem Prorektor das Schriftstück, das er wie ein Heiligtum bisher gehütet hatte.

Der las es aufmerksam durch und reichte es weiter.

Dann bot er Fritz Kühne freundlich die Hand. »Wir kennen uns«, sagte er. »An Ihrer Legitimation würde kein Zweifel bestehen, auch wenn dieser Brief nicht wäre. Was haben Sie uns zu sagen?«

Fritz – im Vollbewußtsein der ihm auferlegten Pflicht – fühlte sich jetzt von jeder Scheu befreit.

»Es versteht sich von selbst«, antwortete er, »daß das, wofür ich einzustehen habe, mir das Herz ebenso zerreißt wie jedem, der weiß, um was es sich handelt. Aber ich glaube, wir haben es mit einem Entschlusse zu tun, der keinen umstoßenden Eingriff zuläßt … Von geistiger Umnachtung und dergleichen kann nicht die Rede sein. Mein verstorbener Lehrer hat bis zum letzten Arbeitstage Kolleg gelesen. Ich habe Erkundigungen eingezogen. Keiner von seinen jetzigen Hörern hat ein Anzeichen geistiger Verwirrung oder seelischer Unruhe an ihm bemerkt. Ich glaube nicht, daß unter diesen Umständen irgend jemand es unternehmen kann, sich an seinem letzten Willen zu versündigen.«

Ein betroffenes Schweigen entstand.

Der Geistliche, der sich offenbar Mühe gegeben hatte, von der gepflogenen Beratung nichts zu verstehen, hielt den Augenblick für gekommen, die gelehrten Herren an sein heiliges Amt zu erinnern.

Es war nur eine knapp abgemessene Bewegung, ein mildes, gleichsam wehrloses Armeausbreiten nach dem Prorektor hin, aber diese Geste genügte, um erkennen zu lassen, daß ein Zaudern nicht mehr am Platze war.

»Ich fürchte, meine Herren, für uns ist hier nichts mehr zu tun. Wenn ich Hochwürden bitten darf!«

Damit beschloß Seine Magnifizenz die entstandene Debatte und schritt hinter dem Geistlichen zum Treppenflur und nach dem Sarge hin, an dessen Kopfende etliche Stühle für die Großwürdenträger bereit standen.

Aus dem Rauchfaß stieg blauwirbelndes Gewölk, dem Weihwedel entsprang ein Schauer funkelnder Tropfen, dieweil die Litaneien ertönten.

Helene kauerte vor dem Ofenloch.

Mit wildentschlossenen Augen, wissend, daß ihr Gehorsam den Toten zehnfach tötete, sah sie erwartend zu Fritz empor, der die beschriebenen Bogen neu schichtete und herzutrug.

Ein Stoß nach dem andern versank in den Flammen.


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