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In den ersten Tagen des Mai, als das Sommersemester seinen Anfang nahm, öffnete das Haus Follenius dem großen Kreise seiner Freunde noch einmal die gastlichen Pforten.
Das war ein altes Herkommen. Wenn ihm diesmal mit größerer Feierlichkeit als sonst gefolgt wurde, so geschah es, weil ein Anlaß vorlag, den jeder kannte und zu würdigen verstand.
Die Berufung Frank Hildebrands, des genialen Historikers, der sich durch seine Forschungen über die Urkunden aus der Ottonenzeit schon damals einen Namen gemacht hatte und der später durch seine Geschichte der Hohenstaufen berühmt geworden ist, bildete seit Monaten einen beliebten Gesprächsstoff in allen den Kreisen, die sie des näheren oder des weiteren anging.
Trotz seiner dreißig Jahre schon beim Ordentlichen angelangt, versprach er eine Leuchte der Albertina zu werden und eine Schar begeisterter Schüler aus dem Reiche nach sich zu ziehen. Ein Jünger Treitschkes war er, glühend in Vaterlandsliebe wie er, wie er ein Prophet künftiger deutscher Größe, dem hingegeben alles lauschte, was sich von dem neuerprobten Kriegsruhm der Hohenzollern tragen ließ.
Man war ihm mit offenen Armen entgegengekommen, und wer noch etwa an ihm zweifelte, wurde durch seine Persönlichkeit sehr bald entwaffnet.
Eine anima candida, das fühlte man, sobald man ihm entgegentrat und in seine blitzenden Augen schaute, auf die ein bajuvarisch blonder Haarschopf tief herniederfiel. Seine Anrede erquickte durch eine biedere und ahnungslose Freudigkeit, und nur sein Händedruck tat weh.
Eine junge Frau hatte er sich mitgebracht, die nicht mindere Verheißung bot als er.
Sie stammte aus einem hochadeligen, aber verarmten Geschlechte Frankens und war bis zu ihrer Verheiratung Hofdame an einem süddeutschen Königshofe gewesen, aus dem der zu einem Vortragszyklus hinberufene junge Gelehrte sie sich herausgefischt hatte.
Und ohne Zaudern war sie ihm gefolgt, denn der Zauber seines Redeschwungs hatte sie mitgerissen, wie jeden, der, wenn er auf dem Podium stand, an seiner Hochstimmung sich erhitzte.
Noch wenige hatten sie bisher gesehen, aber man erzählte sich Wunderdinge von ihrem blumenhaften Liebreiz und ihrer fremdländisch gearteten Schönheit und fragte sich besorgt, wie sie es in dem rauhen und robusten Nordosten aushalten würde.
Dieses seltene und vornehme Paar in die Gesellschaft einzuführen, diente das Fest, zu dem auch Sieburth sich rüstete.
Wohl war er entschlossen gewesen, seines neuen Heftes wegen, das die naturwissenschaftlich-philosophischen Strömungen der Gegenwart behandelte, für die nächsten Wochen jeder Geselligkeit aus dem Wege zu gehen, aber Marion Follenius hatte der Einladungskarte eines ihrer mattgrauen, silberberänderten Briefchen hinzugefügt, die seit einem Jahr mit und ohne Veranlassung zu ihm hinflatterten. Darin hieß es: »Ich verspreche Ihnen, daß ich Ihnen mit Selbstentäußerung den besten Platz zuteilen werde, den mein Tisch zu bieten vermag, und rechne dafür auf Ihr Kommen.«
Hiegegen gab es keinen Widerspruch, denn ein inneres Sichauflehnen gegen das Erlebnis, das sich Marion Follenius nannte, kam noch gar nicht in Frage.
Als er die festlichen Räume betrat, herrschte darin schon helles Gewühl.
Frauen in Fülle, nackte Schultern neben dem hohen Schwarzseidenen, das nach Lavendel und Kampfer duftete, Diademe im künstlichen Haarturm neben Blondenhäubchen auf wassergeglätteten Scheiteln.
Und Männer in allen Schattierungen äußerer Weltfremdheit. Neben Fräcken von jeglicher Form der langweilige Bratenrock mit der blumigen Samtweste. Neben weißer Schleifenkrawatte und gesteiftem Kragen das mehrfach gewickelte Halstuch, von den Spitzen der Vatermörder biedermeierisch überragt.
In diesem Kreise galt Sieburth als elegant, und er legte Wert darauf, diesem Rufe gewachsen zu sein. Je weniger er seine proletarische Herkunft verbarg, desto mehr wünschte er, sie durch seine Erscheinung vergessen zu machen. Auch seine Redeweise hatte er weltmännischem Wortgefüge sorgsam angeähnlicht, und niemand war je in der Lage gewesen, ihn in Gesellschaft auf irgendeiner Derbheit zu ertappen. So hob er sich in dem Lande rustikaler Naturwüchsigkeit, die selbst von den Höchstgestellten gepflegt wurde, mit erwünschter Wirkung von denen ab, die sich ohne Bedenken gehen ließen, sobald die immer sprungbereite Aufrichtigkeit sich anschickte, Hirn und Zunge zu lösen.
Nachdem er Marion mit fremdtuender Höflichkeit begrüßt und den vielsagenden Druck ihrer Finger empfangen hatte, nachdem er geräuschvoll und herzlich von dem Hausherrn bewillkommt worden war, zögerte er nicht, sich der Gruppe alternder Damen zu nähern, um die herum unwillkürliche Scheu eine kleine Leere geschaffen hatte.
Das waren die drei Professorenfrauen, die er einmal die »Schicksalsschwestern« genannt hatte, weil auf ihren Kaffeekränzchen mancher Gelehrtentochter Los geworfen und manches Dozenten Zukunft gestaltet wurde. Sich ihren Paarungsplänen zu widersetzen, brachte Gefahr. Berufungsvorschläge und Neuernennungen ließen sich häufig bis zu ihrem Sofatisch verfolgen. Und wer sich mit ihnen nicht zu stellen wußte, konnte schwarz werden auf seinem Platze, ehe ihm ein Aufstieg vergönnt war.
Sieburth wurde mit unverkennbarer Gönnerschaft empfangen. Jede erhielt ihren Handkuß und lächelte gnädig.
Frau Geheimrätin Kemmerich, die vornehmste unter den dreien, verstieg sich zu dem liebevollen Vorwurf, daß er infolge seiner Zurückhaltung drohe, ihnen ein Fremdling zu werden, und wenn Frau Professor Ehmke und Frau Professor Vallentin ihr auf diesem Wege nicht folgten, so geschah es nur aus behutsamem Takte, denn bei ihnen daheim saßen heiratsfähige Mädchen, Sieburth aber war nach hohem Beschluß einer der beiden Chirurgentöchter bestimmt.
Und nun betrat das Ehepaar Hildebrand den Saal.
Er unbekümmert und leuchtend wie immer, den gelbblonden Schopf beständig aus der Stirne schüttelnd.
Sie – also das war sie! Dies zerbrechliche Püppchen mit dem überschlanken Vogelhalse, den keine Kette und kein Bandstreif verkürzte, mit dem aufstrahlend schwarzen Augenpaar und dem Gemmenprofil, das die Goldlinie eines Reifes, waagrecht durch dunkles Wellenhaar gezogen, noch nobler, noch griechenhafter erscheinen ließ.
Also das war sie!
Und Sieburth verspürte einen Ruck, wie man ihn fühlt, wenn man im Straßengewühl einer großen Stadt eine bekannte, eine vertraute Gestalt plötzlich auftauchen sieht.
Und doch wußte er: er war ihr noch niemals begegnet.
Eine kleine Stille entstand. Auch die Schicksalsschwestern beobachteten schweigend, bis sie sich – beim Vorgestelltwerden – in Liebe erschöpfen durften.
Und dann kam er selbst an die Reihe.
Die beiden Männer kannten sich schon vom Versammlungszimmer her und tauschten kollegiale Begrüßung.
Sie aber – stutzend und scheinbar verwundert – erstarrte für den Bruchteil einer Sekunde, und die Hand, die sie ihm reichen wollte, hing zögernd in der Beuge des Armes.
Doch sogleich legten sich ihre Finger kühl in die seinen, und im nächsten Augenblick durfte er ihren Nacken studieren, der die Schulterblätter in jungmädchenhafter Magerkeit hervortreten ließ.
Ein Schauer der Befriedigung rann an ihm herab. Was konnte es sein, das sie an ihm überraschte? Ein ähnliches Gefühl mystischen Wiedererkennens vielleicht, wie es ihn bei ihrem Anblick vorhin übermannt hatte? Sinnlos wie jenes! Und doch – wie hieß das Goethewort?
»Ach, du warst in abgelebten Zeiten
Meine Schwester oder meine Frau.«
Was ihm heute begegnete, das konnte ein jeder erleben, dem unversehens eine Erfüllung wird.
Grübelnd schaute er hinter ihr her.
Da stand Hagemann, sein Spezial- und Oberkollege, plötzlich vor ihm und streckte mit der gewohnten unsicheren Biederkeit die Hand nach ihm aus.
Der gute Hagemann! Der tüchtige Hagemann! Der verdienstvolle Hagemann!
Es gab kein Lob, das liebreich genug war, die Minderwertigkeit des Mannes zu kennzeichnen, der vor ihm die ordentliche Professur erreicht hatte.
Nicht daß er sie ihm mißgönnte! Beileibe nicht! Neid lag ihm fern.
Aber ein Würdigerer mußte es sein, nicht dieser unzulängliche Einpauker, der paragraphenweise diktierte, was er später beim Examen abfragen wollte. Der nirgends anstieß und überall die bequeme Mitte hielt, der, wenn er einmal polemisierte, so wehleidige Töne anschlug, als ob er gleichzeitig für sich und für den Angegriffenen um Verzeihung bitten müsse.
Da stand er in seiner ungeschlachten Massigkeit – ja wahrlich, er hatte über Winter ein Bäuchlein angesetzt –, strich sich über das dünnbebärtete, gutmütig feiste Gesicht und wartete in ängstlichem Verdachte die kleine Bosheit ab, die Sieburth sicherlich für ihn bereit hielt.
Aber diesem fiel es heute nicht ein, sich mit dem glücklichen Rivalen zu befassen.
Er warf ihm ein lässiges Kompliment über den starken Besuch seines Kantkollegs hin, worin sie semesterweise abzuwechseln pflegten, und wandte sich dann derjenigen Dame zu, die er zu Tisch führen sollte.
Und das war gerade die, die nach dem Spruche der Schicksalsschwestern sein Schicksal zu werden drohte.
Gern hätte er sie deshalb in Grund und Boden verachtet, aber halb wider Willen mußte er sich gestehen, daß etwas Klügeres, Gütigeres, innerlich Vornehmeres und äußerlich Reizvolleres in der ganzen Stadt nicht zu finden war.
Nur leider hatte sich diese Fülle von Vorzügen nicht an ein Exemplar, sondern an deren zweie geheftet.
Zwei Schwestern, kaum ein Jahr auseinander, tannenhoch und tannenschlank alle beide, mit dem Lächeln bescheidenen Selbstgefühls in den liebenswürdig runden Gesichtern, mit den gleichen slavisch-kurzen, gradsattligen Nasen und der gleichen urgermanischen Blondheit.
Wenn man mit einer der beiden zusammen war, so gab man ihr unbedenklich den Vorzug, um sie, kam man der andern in die Nähe, zu deren Gunsten unweigerlich zu vergessen.
Und da man das Pendeln nicht liebte und außerdem ein Ehehasser war, so hatte man sich entschlossen, sich an keine von beiden zu binden und nach glatter Hofmacherei den Kopf immer wieder aus der Schlinge zu ziehen.
Cilly und Milly hießen die beiden.
Dies aber war Cilly, die er vor anderthalb Jahren in seinen Armen an den Cranzer Strand getragen hatte und die seither als die erste Anwärterin galt.
Sie empfing ihn frohgemut, doch gelassen, allzu gelassen, als daß man der Echtheit dieses Gleichmuts hätte Glauben schenken können.
Als er, Cilly am Arm, die Tafel entlang schritt, begegnete er jenen schwarz flammenden Augen von neuem, die ihn vorhin fast aus der Fassung gebracht hatten, doch diesmal waren sie in lächelndem Gruße, als wollten sie sprechen, als wollten sie rufen, auf ihn gerichtet.
Und als er das Schmalende umschritten hatte und neben der schon Sitzenden angelangt war, da fand er des Rätsels Lösung: Der Platz zu ihrer Rechten war ihm selber beschert worden. Sie hatte seinen Namen auf der nachbarlichen Karte gelesen und erwartete ihn.
Der Hausherr, der sie führte, sagte lächelnd an ihr vorbei: »Nun, hat meine Frau nicht gut für Sie gesorgt?«
Und er bedankte sich mit einer Verneigung zu Marion hinüber, die vom andern Ende der Tafel her die kleine Szene beobachtet hatte.
Aber fürs erste nahm Follenius die Fremde in Anspruch, und er selbst hatte ja auch mit Cilly zu tun.
Zwischen ihnen beiden war jedes nur mögliche Thema längst abgehandelt worden. Sie kannten sich gut, sie verstanden sich gut, sie hätten ruhig ins Brautbett steigen können, ohne einander viel Neues zu bieten.
Und oft hatte er sich gefragt: »Warum tun wir es nicht?« Ihr Vater war durch seine Praxis längst ein reicher Mann geworden. Was ihm selber vielleicht zum Haushalt fehlte, würde mit Leichtigkeit von drüben ergänzt werden können. Ihr Herz war frei. Für ihn frei. Das wußte er auch. Das hatten tausend kleine Näherungen ihm zur Genüge bewiesen.
Und wäre das Spiel mit Frau Marion nicht dazwischen gekommen – – –!
Dort drüben thronte sie, hausfraulich um den greisen Prorektor besorgt, aber derweilen wanderten ihre Blicke unablässig zu ihm und den beiden Frauen herüber, in deren Mitte er saß wie zwischen zwei Schicksalen, die auf der Lauer lagen, ihn zu verschlingen.
Was hatte sie nur bewogen, ihn neben die schöne Frau zu setzen, an deren Seite, da sie ja Ehrengast war, ein Älterer, Würdigerer – zumindest ein »Ordentlicher« gehörte? Wollte sie ihn prüfen, ihn in Versuchung bringen? Oder war es selbstsichere Koketterie, um ihn damit nur noch näher zu sich heranzuziehen?
So überlegte er, während das kluge, durch Stolz und Reinheit ahnungslose Mädchen sich vergebens mühte, seiner Zerstreutheit Meisterin zu werden.
Endlich wurde sie von ihrem andern Nachbarn mit Beschlag belegt, so daß er frei war, sich der ersehnten Fremden zuzuwenden, die der Hausherr für ein paar Augenblicke losgelassen hatte.
Und: »Endlich!« sagte er laut.
»Endlich – was?« fragte sie lächelnd.
»Schade«, sagte er.
»Schade – was?« forschte sie weiter.
»Daß Sie fragen, statt mir zuzustimmen. Solch eine Wißbegier muß doppelseitig sein, wenn sie zu einem Resultate führen soll.«
»Und dieses Resultat wäre?«
»Kennenlernen!«
»Ich glaube, Herr Professor, uns Kollegenfrauen kennt man bald. Verheiratet sind Sie nicht, wie ich von Ihrem Ringfinger ablese – wie ich übrigens auch schon wußte. An meinem Mann und mir wird es nicht liegen, wenn Sie nicht ab und zu einen einsamen Abend bei uns zubringen sollten.«
Er gab seiner dankbaren Freude geziemenden Ausdruck, und sie sagte lachend: »Ich höre aus Ihrem Tone ein ›aber‹ heraus.«
»Sie haben recht gehört, gnädige Frau«, erwiderte er. »Was ich unter Kennenlernen verstehe, ist nicht dieses, wie sehr ich es auch als Wohltat empfinde. Bei einem ersten Zusammensein sieht man sich zumeist, ohne es zu wissen, vor eine ausschlaggebende Wahl gestellt: Entweder man wird in die Schar der vielen eingereiht, die das eigene Leben als Statisten umstehen, oder man wird zu diesem Leben selber zugelassen. Es ist mein Ehrgeiz, zu den letzteren zu gehören … Später, wenn die Rollen verteilt sind, läßt sich wenig mehr ändern … Die Beziehungen versteinern sich, man haspelt seinen Part herunter – jahrelang –, und eines Tages ist die Commedia finita.«
»Und wenn's keine Komödie war?«
»Damit es keine wird, darum lege ich soviel Wert auf diesen Augenblick.«
Sie drehte schweigend eine Kugel aus ihren Semmelkrumen. Nachdenken – oder Unmut gar – lag auf ihrer sich wölkenden Stirn.
»Ich bin mir nicht im klaren«, entgegnete sie dann, »ob ich Ihnen für Ihr Interesse dankbar sein darf oder ob ich mich dessen erwehren muß!«
»Tun Sie ruhig das letztere, gnädige Frau. Dann habe ich meinen Urteilsspruch und werde nie mehr wagen, um Ihre Anteilnahme zu werben.«
Doch als sie nun stutzend und mit einer kleinen Enttäuschung im Blick zu ihm aufsah, ergänzte er rasch: »Womit nicht gesagt ist, daß ich nicht fleißig bestrebt sein werde, die Zigarrenkisten Ihres Gemahls um ein Bedeutendes zu erleichtern.«
Sie lachte hell und unbefangen auf. »Unter diesen Bedingungen fiele auch das Sich-Wehren nicht schwer. Aber wozu erst? Ich habe in den drei Wochen, die wir hier sind, genug von Ihnen gehört … Bitte, zeigen Sie mir mal Ihre Hände! Das sollen ja höchst fein konstruierte Maschinen sein.«
Er ließ ruhig die Gabel sinken und legte seine beiden Hände, die Rücken nach oben, vor sie hin.
»Wie kommt ein Mann zu Frauenhänden?« fragte sie mißbilligend.
»Um dem Satz des Widerspruchs zu widersprechen«, entgegnete er, »und nicht bloß in einem Sinne, denn als Erbstück müßten es Pratzen sein.«
»Man kann sich nicht vorstellen, daß diese Rechte zu einem treuherzigen Drucke fähig ist«, tadelte sie weiter.
»Und der sie hat, auch nicht zur Herzenstreue – wie?«
»Wohl möglich.«
»Wollen Sie prüfen?« fragte er.
»Die Herzenstreue? – Nein«, wehrte sie lachend.
»Auch nicht die Treuherzigkeit?« Und er streckte die Hand nach ihr hin.
Sie besann sich ein wenig. »Gut«, sagte sie dann entschlossen und streckte nun ihrerseits die Rechte gegen ihn aus.
Für den Bruchteil einer Sekunde ruhten die Hände ineinander, und die Augen taten dasselbe.
»Bestanden?« fragte er.
»Bestanden«, gab sie zur Antwort.
»Wenn Sie jemals an mir zweifeln sollten«, sagte er mit Nachdruck, »dann werde ich Sie an diesen Augenblick erinnern.«
»Sie sprechen das so feierlich«, versuchte sie zu scherzen.
»Mir ist auch feierlich zumute«, entgegnete er. »Mir ist, als habe ich einen Bund geschlossen. Den Bund, den ich mir wünschte, als ich Sie vorhin zum ersten Male sah.«
Fast erschrocken blickte sie ihn an und wandte sich dann rasch nach der Seite des Hausherrn hin, der schon längst auf sie wartete.
Damit war das Zwischenspiel zu Ende, denn auch Cilly wollte betreut sein.
Ihm war, als habe er in fünf Minuten eine Wegstrecke durchflogen, zu der sonst Wochen, vielleicht Monate oder gar Jahre gehörten.
»Hermione« hieß sie. So stand auf der Tischkarte zu lesen, die sie achtlos nach ihm hingeschoben hatte.
Hermione!
Allerhand Erinnerungen an Euripides stiegen in ihm empor. Wie sagt doch ihre Namensschwester zu Andromache?
»Die Liebe wird zur Krone für ein jedes Weib.«
»Nur wenn es keusch ist.
Sonst zerbricht ihr ganzer Reiz.«
›Hier hat der alte Dichtersmann mal ausnahmsweise recht‹, dachte er, die zarte Schulterlinie im Auge, von der man sich nicht vorzustellen vermochte, daß jemals der Arm eines Mannes, es sei denn der des eigenen, sich über sie hinwerfen könnte.
Da ertönte von der andern Seite Cillys Stimme an seinem Ohr: »Wann segeln wir wieder einmal, Herr Professor?«
Mit Vorliebe gedachte sie des kleinen Abenteuers, das ziemlich ungefährlich gewesen war, das aber ihre beunruhigte Phantasie zu immer größeren Maßen anwachsen ließ.
»Vor drei Monaten wird nicht viel daraus werden, mein gnädiges Fräulein«, erwiderte er, sich rasch nach ihr umwendend, und dazu dachte er bei sich: ›Bis dahin könnten wir schon beinahe wieder geschieden sein.‹
Doch sogleich schämte er sich dieser Entwürdigung. Das liebe, stolze, feinfühlige Mädel hatte was Besseres verdient. Und so erfüllt war er von dem Bilde jener neuen andern, so gerührt und gesteigert durch das eben mit ihr Erlebte, daß er dieser – Gott sollte behüten! – beinahe eine Liebeserklärung gemacht hätte.
O nein doch! Noch gab es soviel zu erleben auf Erden! So viele Münder, die der Erfüllung harrten, waren noch ungeküßt, so viele Gedanken, die nur in Einsamkeit gediehen, noch ungedacht! Wozu den Selbstmord, der sich Ehe nennt, schon jetzt begehen?
Cilly, die gescheit war wie eine und in allen Winkeln seiner Wissenschaft Bescheid wußte, fragte ihn nach seinen Arbeiten. Besonders von dem für das neue Semester angekündigten Publikum wollte sie Näheres wissen.
Er hatte von seinen Absichten oft mit ihr gesprochen. Das Recht, mehr zu verlangen, konnte ihr nicht aberkannt werden.
Und mit größerer Aufrichtigkeit, als er sich sonst zu gönnen pflegte, sagte er: »Ich quäle mich sehr, denn ich sehe täglich klarer, daß mir die eigentliche Vorbildung fehlt.«
Sie lachte fröhlich und vertraut. Sie hielt sein Wissen für unbegrenzt und glaubte, er habe einen Scherz gemacht.
»Mir war nie ernster zumute«, beteuerte er. »Und zum Beweise ein Beispiel: Vor ein paar Sekunden plagte ich mich mit einem Zitat aus Euripides herum … Ich bitte Sie, was geht einen Mann, der sich und andere mit den Resultaten moderner Erfahrung unterhalten will, der brave Euripides an? Warum fällt ihm nichts Besseres ein? Weil er, wie die meisten unter uns, wenn er nicht gar der Theologie entlaufen ist, aus der Philologenecke herkommt und seinen Assoziationsspeicher mit altsprachlichem Kram angefüllt hat … Was meinen Sie, wie ich zum Beispiel Sie beneide?«
»Mich, Herr Professor? Um Gottes willen, mich?«
»Und zwar wegen der Naturwissenschaftsatmosphäre, in der Sie aufgewachsen sind. Wie oft schon habe ich Sie auf einem Gedankengange ertappt, wie er dem Biologen – und gerade nur ihm – geläufig ist! Während mir statt dessen allerhand gedankliche Rückständigkeiten einfallen, die seit zweitausend Jahren keinen Sinn mehr geben oder Truismen geworden sind.«
Sie war so sehr an sein Spiel mit Paradoxen gewöhnt, daß sie sich erst aus seinem Gesichte die Gewißheit holen mußte, wie unnachsichtig die Kämpfe waren, die diesem Geständnis zugrunde lagen.
»Was ich ohne Überheblichkeit kann, um Ihnen zu widersprechen«, erwiderte sie, »ist, Ihnen auszumalen, wie ich in meinem dummen Laienverstand die philosophischen Dinge sehe. Ein großes Drama sehe ich, so alt wie der menschliche Wahrheitsdrang –«
»Warum gerade ein Drama?« fragte er.
»Weil alles Konflikt ist und Spannung und Entwicklung. Weil alles sich in Akte gliedert und auf eine Katastrophe hindrängt … Wie wollen Sie helfen, diese Katastrophe herbeizuführen – und das werden Sie – ich fühl's, das werden Sie! – wenn Sie sich von den Voraussetzungen loslösen, unter denen alles Denken – und das Ihrige doch auch – bisher gestanden hat? Die Naturwissenschaften, scheint mir, können da noch nicht viel nützen. Die kommen erst 'ran, wenn die Katastrophe gewesen ist.«
»Was verstehen Sie unter Katastrophe?« fragte er weiter.
»Das weiß ich nicht. Das habe ich nur so im Gefühl, seitdem ich Sie kenne. Sie sagten einmal, Ihr Handwerk sei nichts wie ein Geduldspiel mit leeren Hülsen. Das war natürlich Scherz.«
»Nicht ganz«, warf er ein.
»Ich weiß. So was ist immer zu einem Bruchteil Ernst, und dieser Bruchteil, mag er noch so klein sein, genügt, um so ein Spiel eines Tages über den Haufen zu werfen. Ich denke mir immer, das werden Sie tun. Das wird Ihre Aufgabe sein. Und dem werden Sie einst Ihre Stellung verdanken.«
In ihren Augen glomm ein Leuchten, das ihm das Herz heiß machte. So viel aufblickende Schätzung, so viel gläubiges Zutrauen – wie hatte er das verdient? Und welche Künste wandte sie an, um den Kern geheimsten Strebens aus seiner Seele herauszuschälen?
Dieses vierundzwanzigjährige Mädel mit der Stupsnase und dem aschblonden Wirrhaar sprach wie eine Seherin. Und schöne Schultern hatte sie, Frauenreize lagen in Bereitschaft – seelisch wie körperlich. Er hatte nur nötig, eine Frau, seine Frau aus ihr zu machen.
Immer wieder schlug der Gedanke an ihn heran, und wieder prallte er zurück.
Noch nicht! Heute nicht! Nicht heute, da zu seiner Linken eine neue Rätselwelt sich aufgetan hatte und ein neues Frauendasein gebieterisch in sein Leben trat.
Nicht umsonst war der Schlag gewesen, der auf ihn niedergefahren war, als er sie kommen sah; nicht umsonst hatte sich in ihr wiederholt, was ihn, halb Ahnung, halb Erinnerung, immer von neuem durchzuckte.
Ein Schicksal rüstete sich, ihn zu begnaden.
Darum nicht feige sein! Nicht ausweichen und sich im Ehebett verkriechen!
Da hob Frau Marion die Tafel auf.
Als dankbarer Kamerad drückte er Cillys Hand, die sich ihm müde darbot wie ein fallendes Blatt, und von der linken Seite her traf ihn ein leuchtend verheißender Blick. – – –
Was an diesem Abend noch kam, ging in einer Wirrnis von Bildern und Phrasen zugrunde.
Als ihm die Hausfrau, die mit geheimem Einverständnis im Lächeln des Auges sein Nahen in Empfang nahm, die Hand zum Kusse bot, hörte er ihr Flüstern dicht über sich: »War's Ihnen recht so?«
Dann, als er sich mit gebührender Inbrunst bedankt hatte, kam das Flüstern noch einmal: »Da Sie morgen kollegfrei sind, bitte zum Tee.«
Und während er sich bejahend verneigte, dachte er bei sich: ›Wer bist du? Was warst du noch vor einer Stunde – du Gespenst aus dem ewigen Gestern?‹
Dann hatte er noch ein halbes Dutzend Kollegen begrüßt. Hatte sich Ausführliches von Frank Hildebrand erzählen lassen, obwohl dessen ratterndes Pathos ihm ein wenig auf die Nerven ging – aber man war ja zur Freundschaft vorherbestimmt … Hatte die Schicksalsschwestern lachend um gnädige Strafe gebeten, die sie ihm lachend gewährten, obwohl sie nicht wußten, wofür … Hatte der Schwester Cillys, die von nun an noch weniger in Frage kam als bisher, freundbrüderliche Huldigung dargebracht. Und war schließlich lange vor der Zeit, müde von geredetem Unsinn, von Lichtern, Frauen und Wein auf die Straße hinausgeschlichen.
Ein leichter Maienschnee blies ihm scherzhafte Flocken entgegen. Die Luft war wie ein eiskaltes Bad, in das er sich jauchzend hineinwarf.
In dem kühlen Begriffsmenschen tobte der Lebensrausch so arg, daß er die Arme ins Leere breitete, als ließen Hoffnung und Traum, Gnade und Frevel sich ans Herz drücken wie Kronen oder wie Schwerter.
»Heute nacht wird durchgearbeitet«, beschloß er, denn das Übermaß des Glückes wollte verdient sein.
Vorher aber zog er den Überzieherkragen hoch, drückte den Hut in die Stirn und ging noch ein wenig auf die Weiberjagd.