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Zwölftes Kapitel

Das Sommersemester ging zur Neige, und die Vorlesungen rollten vor leeren Bänken ihrem Ende zu.

Die Hospitanten waren zuerst ausgeblieben. Aber auch viele Beleger verkrümelten sich, noch ehe die Zeit des Abtestierens gekommen war.

Eines Tages ließ selbst Fritz Kühne sich nicht mehr blicken. Wunder auch! In den Zeitungen stand zu lesen, daß vor Semesterschluß das Sommerfest der Cherusker in Rauschen gefeiert worden war. Dabei hatte er unmöglich fehlen können. Fackelzug um den Dorfteich herum. Scheiterhaufen hoch oben auf dem Kamm der Düne. Tanz auf dem Rasen bis gegen den Morgen.

Eine unausmeßbare Fülle von Wohlsein und Jugend sprach aus den wenigen Zeilen.

Rauschen! Der bloße Name strömte Fluten von Meer und Wind und Glück und Sonne, von Einsamkeiten ohne Störung, von Denkorgien ohne Alltagskram über den Zufluchtsuchenden hin.

Der Ort schwer zu erreichen freilich. Mehrstündige Fahrt durch Sand und Heide. Nicht einmal ein Stellwagen, der regelmäßig ging und kam.

Von dort bis nach Cranz eine Ewigkeit, selbst das nahe Neukuhren weltenfern.

Trotzdem: man mußte es wagen.

Und als Sieburth fragte und forschte, ergab sich's alsbald, daß ein Häuschen, das abgelegen zwischen Weiher und Küste von einer eben nach dem Reich versetzten Beamtenfamilie erbaut worden war, noch immer leer stand und sich für wenig Geld wohl mieten ließ.

Nicht viel besehen und sich besinnen, dann hatte man's.

Und Sieburth griff zu, froh, für die Ferienzeit geborgen zu sein.

Aber so leichten Kaufes, wie er gehofft hatte, kam er nicht aus der Stadt.

Kurz vor Semesterschluß trat eines Morgens Professor Auerbach an ihn heran und sagte: »Sie erinnern sich, lieber Kollege, daß Sie mir vor einiger Zeit versprochen haben, an einer Sitzung des neuorganisierten fortschrittlichen Vereins teilzunehmen. Die Landtagswahlen stehen vor der Tür. Wir müssen an die Arbeit gehen. Sonst überrennt uns die Reaktion womöglich selbst in der von Grund aus freisinnigen Stadt, oder die Nationalliberalen werden die lachenden Erben.«

Sieburth entschuldigte sich mit seiner bevorstehenden Abreise.

»Wo wollen Sie hin?« forschte Auerbach.

»Ich habe in Rauschen gemietet«, sagte er zögernd.

Aber mit diesem Bekenntnis war er bereits gefangen.

»Nun, dann warten Sie hübsch die paar Tage, oder wenn das nicht geht, so kommen Sie einfach herüber.«

Dagegen ließ sich nichts erwidern. Und wohl oder übel sagte er zu.

Die Frühaugustsonne brannte auf grellweiße Mauern hernieder, und die erhitzten Straßen erschienen müde und leer.

Erst zum September mußte sich alles wieder beleben, denn aus Anlaß der in der Provinz bevorstehenden Manöver hatten die Majestäten ihren Besuch angesagt, und große Festlichkeiten standen bevor.

Da auch der erlauchte Rektor der Universität, der Kronprinz, selber erwartet wurde, so hatten die akademischen Würdenträger sich entschlossen, ihre Ferienreisen zu verschieben, um des Empfanges gewärtig zu sein. Und die farbentragenden Verbindungen hatten sogar Rückkehr sämtlicher Angehörigen befohlen, um den geplanten Festkommers, von dem die Kamele, wie sich's gehörte, ausgeschlossen waren, so glanzvoll wie nur möglich auszugestalten.

Sieburth hoffte, sich drücken zu können, denn als Außerordentlicher stand er allem Repräsentieren noch fern. Hildebrand dagegen, obwohl er kein Amt versah und keine Gnadenbezeugung erstrebte, wollte aus bloßer Lust am Glanze des Herrscherhauses seine geliebte Dolomitenkletterei unterbrechen und die weite Reise nicht scheuen, um für ein paar Stunden mit dem Kaiserpaar die gleiche Luft zu atmen.

Er hatte für sich und seine Frau in Cranz Quartier genommen, wo sie nach seiner Abreise als Marions Gast verweilen sollte, während er dem September an Kraxelfreuden abgewann, was irgend noch zu erraffen war.

›Warum geh' ich nicht auch nach Cranz‹ fragte Sieburth sich oft, wenn das Verlangen nach Hermas Nähe ihm keine Ruhe gab.

Nein doch! Er wollte nicht. In ihrem Fahrwasser daherzutreiben, dazu fühlte er sich noch zu stark und zu freiheitsbegierig. Und die stolze Bitternis des Entsagens war auch etwas wert. Im Untergrunde von allem aber saß ein Gefühl des Unbehagens, vielleicht sogar der Angst, das allemal hervorbrach, wenn er an Marion Follenius dachte und die wachsende Intimität, mit der sie Herma in ihre Netze zog.

Dieser nahe sein hieß in jener Dunstkreis seßhaft werden. Und dem sich daraus ergebenden Doppelspiele fühlte er sich nicht gewachsen.

Darum wich er lieber beiden aus und harrte der gnädigen Stunde, die ihm die Ersehnte, die Geliebte abseits aller Späheraugen zu schenken willens war. – – –

Am Tage nach der Versammlung gedachte er nach Rauschen überzusiedeln. Die Bücherkisten waren schon gepackt, das Fuhrwerk schon gemietet, und Frau Schimmelpfennig, die bis zum letzten Augenblick gehofft hatte, mitgenommen zu werden, ging mit großen, vergrämten Augen umher, als könne sie den drohenden Verlust noch nicht fassen.

Helene aber war ihm böse.

Sie wich ihm aus, wo sie konnte, gab patzige Antworten, und die Augen standen ihr stetig voll Wasser.

Am Tage vor ihrer Abreise hatte Herma ihn zu sich bitten lassen.

Auch hier standen im Bibliothekraum die Koffer gepackt und die Bücherreihen mit Tüchern verhangen.

Als er eintrat, fand er sie wartend – allein.

»Mein Mann wird gleich hier sein«, sagte sie, als müßte sie sich darob entschuldigen. »Wir wollten nicht fort, ohne Ihnen noch einmal die Hand gedrückt zu haben. Schade, daß Sie nicht mitkommen! Wir hätten gewiß manche gute Stunde miteinander verlebt. Aber wir sehen uns doch später in Cranz, wenn die Festlichkeiten vorbei sind?«

»Ich fürchte, Sie werden durch das Haus Follenius so in Anspruch genommen sein, gnädige Frau, daß für mich nicht viel übrigbleiben würde.«

Sie schwieg und sah in die Weite. Ihr Nachdenken schien seinen Einwurf zu bestätigen.

»Halt, ich hab's«, sagte sie dann. »Während der Trubel in Königsberg sich abspielt, bleibe ich natürlich hübsch am Strande. In die Folleniussche Villa ziehe ich erst später, und wenn auch Sie keinen Wert darauf legen, unter den Jubilierenden mitzumachen –«

Sie stockte und wurde rot. »Das heißt, Sie müssen nicht denken«, verbesserte sie sich rasch, »daß ich meinem Manne seine Begeisterung verüble. Ihn kleidet das alles so gut. Ja, wenn's anders wäre, würde ich es an seinem Bilde vermissen. Und er meint auch, er dürfe nicht fehlen – des Lehrkörpers wegen … Übrigens Frau Follenius darf auch nicht … Wenn die Kaiserin das Krankenhaus der Barmherzigkeit besucht, muß sie dabei sein, und zu den Vorsteherinnen des Vaterländischen Frauenvereins gehört sie ja auch.«

»So würden wir also wirklich einmal ein paar Stunden für uns haben«, sagte er. »Ich weiß von nun an, worauf ich mich freuen darf.«

»Auch ich freu' mich darauf.« Sie sagte es mit jener koketterielosen Schlichtheit, die sie immer wehrlos erscheinen ließ und zugleich über jedes Wünschen hinaushob.

Dann wandte sie das Gespräch ihren Ferienplänen zu. Beschrieb das Treiben in den Berghotels und die allzeit sich wiederholende Bangigkeit, während ihr Mann an den Steilwänden emporklomm. Erst wenn am Spätnachmittag der schwere Schritt seiner Bergschuhe durch den Korridor dröhnend daherkam – –

Da war er selber. Eilig, herzhaft vergnügt und in seinem Reisefieber zwiefach erstrahlend.

Fröhliche Abschiedsworte wurden gewechselt – ein Blick noch in das Sonnenpaar, das kein Schatten der Wehmut verdunkelte, und dann versank alles, was seit Monaten Sieburths Welt gewesen war.

 

Der Abend der Versammlung kam heran.

Doch eigentlich war's gar keine Versammlung, sondern nur die Zusammenkunft eines sich selbst ernennenden Komitees, das die Richtlinien künftigen Handelns festlegen wollte.

In einem dunstigen Gasthaussaal, dessen Fenster etwaiger Horcher wegen fest geschlossen waren, eine langgestreckte Tafel, – und an ihr vor gerippten Biergläsern zwei Reihen alter oder doch alternder Männer, die ihre Parteistellung durch üppigen Haarbusch und lässige Wäsche zu betonen trachteten.

Denn wer modisch oder gar geschniegelt einherging, offenbarte schon hierdurch, daß er zu den Regierungstreuen gerechnet werden wollte, daß er Reserveoffizier oder alter Corpsstudent oder sonst ein Karrieremacher war.

Nur wenige, darunter Follenius und Professor Auerbach, schienen sich durch ihre soziale Stellung zu sorgfältigerer Äußerlichkeit verpflichtet zu fühlen.

Sieburth erhielt als Gast einen Platz neben dem Vorsitzenden angewiesen, einem bebrillten weißbärtigen und weißmähnigen Herrn, der »Herr Gerichtsrat« genannt wurde und – wie Sieburth später erfuhr – längst seinen Abschied genommen hatte, so daß ihm Widerwärtigkeiten aus seiner politischen Stellungnahme nicht mehr erwachsen konnten.

Die Präsenzliste wurde festgestellt und andere Formalien erledigt, dann hielt der Vorsitzende die Eingangsrede.

Sein Kopf war prächtig. Irgend etwas vom Jupiter tonans lag darin, und auch sein Pathos, wenngleich es hie und da in einen Heulton auslief, war das eines zürnenden Gottes. Schade, daß ihm ein Schneidezahn fehlte, was die Zischlaute erheblich vermehrte.

Als Kern- und Grundthema diente ihm der neue Zolltarif, der nach Bismarcks Forderungen durch das konservativ-klerikale Bündnis zustande gekommen war und nach des Redners Meinung den Mittelpunkt aller reaktionären Machenschaften bildete. Denn nur weil der liberale Kultusminister dem Hasse des Zentrums geopfert worden war, habe dieses sich dienstwillig erwiesen und den Petroleumzoll auf sechs Mark und den Kornzoll auf eine Mark erhöhen helfen – von dem Kaffee- und dem Tabakzoll gar nicht zu reden.

Wütende Zwischenrufe ertönten: »Und die Baumwollwaren?« – »Und das Sohlenleder?« – »Und die Schweineeinfuhr?«

Sieburth glaubte mit Recht folgern zu dürfen, daß jeder der Schreienden sich bis ins Mark der eigenen Interessen hinein getroffen fühlte und daß seine politische Überzeugung hierdurch Schwung- und Schlagkraft erhielt.

Und der Redner fuhr fort: Dieses aber sei nur der Anfang. Noch ganz andre Vergewaltigungen drohten dem deutschen Volke, das, weil ihm der richtige, der allein zur Freiheit führende Parlamentarismus fehle, jedem Streich, den die Machthaber planten, wehrlos verfallen sei. Sicherem Vernehmen nach sei eine Verdoppelung der Brausteuer geplant, auch das Schankgewerbe solle von neuem belastet werden. Selbst eine Börsensteuer und eine Inseratensteuer seien bereits unterwegs.

Und jedesmal, wenn ein neues Gewerbe genannt wurde, gab's irgendwo an der langen Tafel einen schmerzhaften Aufschrei, in dem eine Hoffnung auf künftiges Verschontsein zusammenbrach.

Sodann ging der Redner auf die von Bismarck geplante Verstaatlichung der Privateisenbahnen über und erklärte, daß damit eine so ungeheure Menge politischer Macht in die Hände eines Mannes gelange, daß fortan in Wahrheit der Absolutismus die herrschende Staatsform sein würde.

Allgemeine Empörung wurde laut, die sich noch steigerte, als der Redner zum Schluß die konservativ-klerikale Bundesgenossenschaft, wie sie nunmehr zur Tat geworden sei, als das Ende jeglicher Freiheit und den durch sie zustande gekommenen Zolltarif als den Zusammenbruch des deutschen Wirtschaftslebens schilderte.

»Darum, zurück auf die Schanzen!« schrie er in den Saal, und ein Widerhall antwortete ihm, so tobend und kampfbereit, als gäbe es nur noch ein Ziel: auf die Straße zu gehen und Barrikaden zu bauen.

Doch gar so ernst war es den wackeren Männern nicht mit dem Schanzenkampf. Das ergab sich alsbald aus der nun einsetzenden Diskussion, die sich unterschiedslos in Klagen und Ziffern auflöste.

Ein Zigarrenhändler fand, daß sein Geschäft bei einer Steuer von fünfundvierzig Mark für inländische und fünfundachtzig Mark für ausländische Tabake – dieser Greuel war im vorigen Monat beschlossen – ohne Rettung zugrunde gehen müsse. Und der Inhaber eines Eisengeschäftes wußte zu erzählen, daß als Folge des Eisenzolls der Preis der Röhren für eine Wasserleitung in Greiz sich per laufenden Meter von hundertdreizehn auf hundertvierzig Pfennig erhöht habe. »Wenn solche Preise gefordert werden, meine Herren«, so rief er in den Saal, »welche Stadt kann dann noch Bestellungen machen? Und heißt das nicht letzten Endes Untergang der deutschen Kultur?«

Wofür man ihm begeisterten Beifall zollte.

Noch dramatischer gestaltete sich die Verhandlung, als der Besitzer eines Manufakturwarenlagers die neuen Baumwollzölle einer vernichtenden Kritik unterwarf.

»Ganz abgesehen davon«, sagte er, »daß die Nähfäden, statt wie bisher sechsunddreißig Mark per Doppelzentner, siebzig Mark kosten sollen, wie soll ich fortan noch indische Kattune führen, wenn –«

» Haben Sie sich doch nicht«, rief vom anderen Ende der Tafel eine höhnende Stimme. »Ihre indischen Kattune stammen ja bloß aus Plauen!«

Aber da wurde der Redner böse. »Wenn Ihre indischen Kattune aus Plauen stammen«, schrie er, »müssen es darum auch die meinigen tun? Daß Ihr englischer Buckskin in Kottbus gemacht wird, das weiß schon lange ein jeder, und daß –«

Schade war's, daß der Vorsitzende sich nunmehr ins Mittel legte und den Redner bat, zur Sache zu kommen, sonst hätten die anwesenden Freiheitsmänner noch einiges mehr über die Geschäftsgeheimnisse der beiden Konkurrenten in Erfahrung gebracht.

Professor Auerbach, der schon seit einiger Zeit mit vor Verlegenheit zitternden Lippen zu Sieburth hinübergeblickt hatte, erbat sich das Wort und versuchte in kluger und ruhiger Rede den Wettkampf auf eine angemessene Höhe zu heben.

»Auch was wir soeben hörten, ist lehrreich für uns«, sagte er, »denn wir erkennen, daß die von Bismarck geschaffene wirtschaftliche Neuordnung dadurch, daß sie den Bürger die rücksichtslose Vertretung der eigenen Interessen lehrt, den Tod jeder politischen Moral im Gefolge haben muß. Aber wir stehen hier vor vollzogenen Tatsachen und tun besser, den Blick den künftigen Gefahren zuzuwenden. Daß der Hofprediger Stöcker, von dessen Wirken wir ja Genügendes gehört haben, (Rufe: Pfui! Pfui!) zum Generalsuperintendenten von Ost- und Westpreußen ernannt werden soll, das scheint ja, Gott sei Dank, von uns abgewandt. Aber daß das neue konservativ-klerikale Bündnis uns in kultureller Hinsicht nichts Gutes bringen wird, das ahnen wir alle.«

Und dann sprach er von den geplanten Einschränkungen der Eheschließung, von der Wiederbelebung des Zunftzwanges durch Gesellen- und Meisterprüfung und andern Ausfällen auf die persönliche Freiheit, wie sie in der Luft lägen, immer bemüht, Kleinlichkeiten als bedenksam darzustellen, ohne sie doch bis ins Lächerliche aufzuplustern.

Aber mit dieser Zurückhaltung hatte er nicht viel Glück. Man besah Fingernägel oder Zimmerdecke und begann sogar, sich in halblauten Sondergesprächen zu ergehen, bis er beifallslos sich wieder setzte.

Da war sein Nachfolger schon ein andrer Kerl. Breitbrüstig, pausbäckig, mit einer vergnüglichen Doppelknolle als Nasenrücken und verschwollenen Augenspalten, aus denen ab und zu ein pfiffiges Lichtchen hervorschoß, so stand er da, von denen, die ihn kannten, mit lachendem Beifall empfangen.

»Herr Rektor Handtke«, hatte der Vorsitzende aufgerufen.

»Wissen Se auch, meine Harren«, begann er im breitesten Akzent seiner ostpreußischen Heimat, »wer der Ochse aus Sizilien war?«

»Nein!« hallte es fröhlich zurück.

»Na, dann war' ich's Ihnen sagen. Das war nämlich ein Heiliger. Der heilige Thomas von Aquino war's, der jätzt der Schutzpatron is von der chanzen Clerisei. So hatten ihn nämlich seine Mitschieler, als er beim Albärtus Machnus in die Lehre jing, bespitznamt, und Albärtus Machnus sachte: ›Laßt ihn man in Ruh! Das Brillen dieses Ochsen wird noch einmal die chanze Wält vernähmen!‹ Na, und hat er nich rächt jehabt? Am vierten August hat der Papst eine Enzyklika erlassen, worin er ihn als jreesten Kirchenlährer den Jleibigen anpreist. Sechshundertfufzig Jahre also vernähmen wir ihn schon. Da kann man, warrhaftigen Gott, sagen: ›Chut jebrillt, Ochse!‹ – Was? (Gelächter, Bravo!) Nun aber, meine Harren, kommt das Ärnste von der Sache. Was hat er denn eijentlich jelehrt, der heilige Thomas von Aquino? Dem reemischen Pontifex, hat er jelehrt, missen sich alle Keenige der Christenheit unterwarfen. Und er ist Keenich der Keenige, und Härr aller Härrscher. Und alle wältlichen Keenige sind seine Vasallen. Das hat er jelehrt. Und wenn der Papst das heit noch für wahr hält und Bismarck sich mit so 'nem Mänschen einläßt – denn das tut er, das wissen wir, in Kissingen wird er mit dem reemischen Nuntius neechstens zusammenträffen –, dann is uns auch schon klar, wohin der Weg fiehrt. Muß ich's Ihnen erst noch sagen, meine Harren, wohin der Weg fiehrt? Nach Canossa fiehrt der Weg!«

Er stieß die letzten Worte posaunenhaft in den Saal hinaus, und jauchzender Beifall gab ihm Antwort.

Das war die Tonart, die diesen schlichten Männern fehlte. Sie hob sie über die Flauheit des Alltags, über die Enge ihrer Bürgerlichkeit zu einem Rausche der Entrüstung empor, der sie nichts kostete und ihnen die Würde von Vaterlandsrettern verlieh. Das Blut von Achtundvierzig, das andre hingegeben hatten, sang noch in ihren Adern und machte sie jenen gleich, denen um der Freiheit des Volkes willen Gefängnis und Tod ein stolz dargebrachtes Opfer gewesen war.

Und als er schloß: »So, meine Härren, sehen wir unser lutherisches Bekänntnis, sehen wir die Kraft und die Sälbständigkeit des Deitschen Reiches durch den, der sie geschaffen hat, sälber zuchrunde jehen«, da gab es wohl nicht einen einzigen, der es ihm glaubte, aber nur wenige, die nicht durch tobende Begeisterung kund taten, daß sie sich einen solchen Glauben einzureden versuchten.

Sieburth spähte die Tafel entlang, um sich das Bild dieser Massennarretei ins Gedächtnis zu prägen. Da fiel sein Blick auf Follenius, der, das Seidel in der erhobenen Hand, mit lautem »Bravo!« den Redner begrüßte.

Selbst dieser umsichtige und welterfahrene Mann, der mit kühler Berechnung den Reichtum seines Hauses mehrte und dessen scharfem Auge – außer den Wirrnissen in der Seele seines Weibes – nichts entging, was rings um ihn geschah, hatte sich von der wohlfeilen Rhetorik dieses Bierbankpolitikers überwältigen lassen.

Nur Auerbach schaute verkniffen vor sich nieder – und gleich ihm ein paar andere, die Sieburth nicht kannte und von denen einer, wie er später erfuhr, ein Märtyrer der Reaktion gewesen war.

Der mochte sich wohl an den bittern Ernst vergangener Zeiten erinnern und daraus schließen, daß dies alles nur ein müßiges Spiel war.

Was nun folgte, bot ein wirres Nach- und Durcheinander von Klagen, Forderungen, Mahnungen und Hochflügen in irgendein demokratisches Wolkenkuckucksheim. Und immer wieder ertönte das Wort »Parlamentarismus« als Inbegriff aller Sehnsüchte, deren die lammfrommen Seelen fähig waren.

Ja, wenn erst der Parlamentarismus eingeführt wäre, der wahre, der echte, wie er in England und in Frankreich im Schwange war, mit Mißtrauensvoten und Parteiministerien und anderen Herrlichkeiten mehr, dann, ja dann hätten alle Nöte ein Ende, und das Himmelreich blühte auf Erden.

Zum Schlusse ereignete sich ein Überfall, den der Vorsitzende gegen Sieburth ins Werk setzte.

»Wir haben einen hochgeschätzten Gast in unsrer Mitte«, sagte er, nach ihm hingewandt, »den wir hoffentlich demnächst als unser Mitglied betrachten werden. Möchte er nicht aus seinem Schweigen hervortreten? Es würde uns von höchstem Werte sein, auch von den Meinungen und Urteilen eines noch Außenstehenden etwas in Erfahrung zu bringen.«

Nach dieser Anzapfung mußte Sieburth sich wohl oder übel zum Reden bequemen.

Er machte das bescheidene und harmlose Gesicht, das ihm immer sehr gut gelang, und begann: »Sie irren, meine Herren, wenn Sie glauben, daß ich Ihnen irgend etwas Bedeutsames zu sagen hätte. Zudem würde die Übervortrefflichkeit der gehörten Ratschläge jedes Zutun meinerseits überflüssig machen, auch wenn ich deren eine Fülle zu geben hätte. Und selbst da, wo ich nicht ganz Ihrer Ansicht bin, werde ich jeden denkbaren Fleiß anwenden, um mich zu ihr zu bekehren.«

»Bravo! Bravo!« schallte es die Tafel entlang.

»Ich muß gestehen«, fuhr er fort, »daß ich, als ich herkam, den Argwohn hegte, daß der Federbusch der bürgerlichen Demokratie von dem Sturmwind, der sich Bismarck nennt, ein wenig zerrupft sei, ersehe aber aus der Vehemenz, mit der sie an ihrer Erneuerung arbeitet, wie sehr ich im Irrtum war. Eine Postkutschenreform ist sicherlich auch noch im Zeitalter der Schnellzüge von hoher Bedeutung, denn die Freunde dieser Fortbewegungsart werden nicht aussterben, solange der Sinn für die Freude an der Natur lebendig ist … Ich gebe auch zu, daß die neue Wirtschaftsordnung ein hervorragendes Motiv sein kann, politische Ideale wieder aufleben zu lassen. Die Fischbrut, von der die Hechte groß und fett werden, ist schließlich nicht allein zum Gefressenwerden da, obgleich es ihr nicht viel helfen wird, wenn sie plötzlich Stacheln an sich entdeckt, denn die Hechte fressen sie leider auch mit den Stacheln … Immerhin gibt es allerhand Möglichkeiten, an denen selbst der ausgepichteste Raubfisch sich den Magen verdirbt. Und hierauf hinzuarbeiten ist sicherlich des Schweißes der Edlen wert. Aus manchem der armen verfolgten Dinger kann so selber einmal ein tüchtiger Raubfisch werden.«

»Ich verstehe kein Wort«, hörte er eine flüsternde Stimme in seiner Nähe, und eine andre, welche sagte: »Jedenfalls sehr geistreich! Sehr geistreich!«

»Was die Gefahren einer gedanklichen Reaktion betrifft«, fuhr er fort, »so bin ich allerdings nicht so pessimistisch wie Sie, meine Herren, denn man kann mir wohl die Wurst aus der Kammer, aber nicht so leicht den Rauch vom Dache stehlen … Dürfte ich als Wissenschaftler abergläubisch sein, so würde ich sogar sagen: der Papst, der von uns ißt, der muß dran sterben. Sie werden mir erwidern: solch ein Heiliger Vater stirbt nicht so leicht. Aber eines bemerken wir ja doch: Wissenschaft überlebt jede Heiligkeit … Trotzdem ist Unruhe auch hier die erste Bürgerpflicht. Und unruhig sind wir ja heute nach Kräften gewesen. Jedenfalls danke ich Ihnen, meine Herren, daß Sie mich an Ihren Besorgnissen haben teilnehmen lassen. Ich habe mein Schlachtschwert nicht bei mir, sonst würde ich gerne damit rasseln. Aber seien wir froh, wenn wir nicht mit unseren Ketten zu rasseln brauchen! Und dieses, meine Herren, wünsche ich Ihnen und mir.«

Damit setzte er sich und heimste den Beifall ein, der durch den letzten Satz herausgefordert war. Aber aus den Augen des Mannes, der ihn hergebracht hatte, traf ihn ein Blick des Unwillens und der Enttäuschung.

›Den hab' ich mir wohl verscherzt‹, dachte Sieburth und ärgerte sich, daß die Spottsucht immer wieder mit ihm durchging.

Doch als die Sitzung aufgehoben war und er männiglich von seinem Sitze aufstand, trat Auerbach an ihn heran und sagte: »Glauben Sie nicht, daß ich die Lächerlichkeiten, die in einer solchen Gesellschaft losgelassen werden, weniger scharf sehe als Sie. Trotzdem halte ich an ihr fest, denn eine andre Möglichkeit, darüber hinaus zu wirken, gibt es nicht. Und ich hoffe, Sie werden zu dem gleichen Ergebnis kommen.«

»Ich bitte notieren zu wollen, daß ich mich nicht zum Sprechen gedrängt habe«, erwiderte Sieburth.

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Auerbach, »und deshalb hab' ich auch kein Recht, Ihnen böse zu sein.«

Damit drückte er ihm die Hand und ging still seiner Wege.

In der Garderobe traf Sieburth mit Follenius zusammen.

»Man hat Sie so lange nicht mehr gesehen«, sagte der. »Wenn's Ihnen recht ist, gehen wir eine Strecke miteinander.«

So traten sie gemeinsam auf die dämmerige Straße hinaus, in der Hochsommerschwüle regierte, und Follenius fuhr fort: »Ich habe Ihnen ja nicht ganz folgen können. Aber man weiß ohnehin von Ihnen, daß Sie ein böser Bruder sind.«

»Was hab' ich denn so Großes verbrochen?« fragte Sieburth.

»Das wird einem nicht ganz klar, man fühlt es nur. Hätten Sie offen Ihre Meinung gesagt, wär's besser gewesen.«

»Dazu hatte ich als Gast nicht das Recht.«

»Auch wieder richtig. Aber Sie hätten gar nicht kommen sollen, denn nun sind Sie gefangen, wie wir alle es sind. Als Überläufer will man nicht gelten. Und mit diesem Wort arbeitet die Welt nur zu gerne.«

»Dabei wundert mich nur«, sagte Sieburth, »daß Sie dem wild gewordenen Schulmeister ein so begeistertes Bravo zuriefen.«

»Was wollen Sie?« erwiderte Follenius und wandte das ruhige, kluge Gesicht mit einem Lächeln entsagender Selbstironie zu ihm empor. »Wir nüchternen Leute suchen die Steigerung, und wenn ein Wort wie ›Canossa‹ einen trifft, dann fliegt man hoch. Von solchen Anreißereien leben wir Armen im Geiste alle. Und die drüben machen's genauso. Man wirft sie dem Gegner an den Kopf wie die Pferdeäpfel und nennt das dann Überzeugung.«

»Ich bin nur neugierig«, lachte Sieburth, »wann auch Sie drüben angelangt sein werden.«

Erschrocken sah jener zu ihm auf und lachte dann gleichfalls.

»Vielleicht begegnen wir uns beide einmal im feindlichen Lager«, sagte er scherzend.

»Bei mir wird das wohl schwer halten«, erwiderte Sieburth.

»Bei mir auch«, sagte jener. »Ich müßte mir gleichzeitig eine Sense anschaffen, das Gras zu mähen, das vor meiner Türe wachsen würde. Und da wir gerade von meiner Türe reden, warum kommen Sie eigentlich nicht mehr? Ich glaube, meine Frau ist schon sehr gekränkt. Wenn ich von Ihnen rede, macht sie jedesmal einen schiefen Mund. Haben wir Ihnen was getan?«

Mit Wärme beteuerte Sieburth, daß hier nur ein leidiger Zufall vorliege, der durch Arbeitsüberbürdung entstanden sei und dessen Folgen sich leicht erledigen ließen, wenn man es ihm gütigst gestatte.

»Kommen Sie mit uns nach Cranz«, sagte Follenius. »Von unserem Hause geht der Blick auf die See. Und wir haben Platz. Sie könnten gut bei uns wohnen.«

Sieburth fühlte ein Herzstechen und erwiderte rasch, es sei jammerschade, daß er in Rauschen bereits gebunden sei. Aber wenn er vielleicht einmal hinüberkommen dürfe!

Und mit dieser Vereinbarung trennten sie sich.

Der graue Augustmond schwamm durch verwaschene Wolken, und wo ein Glanz sich auftat, war's Hermas Antlitz, das zu ihm niedersah.

›Was würde wohl werden‹, dachte er, ›wenn ich so eines Tages Tür an Tür mit ihr wohnte?‹

Und hievon träumend ging er noch stundenlang durch die Straßen.


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