Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Einundzwanzigstes Kapitel

Hielt Sieburth in dem Bummel von Kneipe zu Kneipe seine Persönlichkeit nur selten verborgen, so behandelte er im Gegensatz hiezu seine zärtlichen Passionen noch vorsichtiger als ehedem.

Seine Streifzüge spielten sich in den Abendstunden ab, die der matte Gaslaternenschein nur unvollkommen erhellte, und was er sich dabei zu eigen machte, hatte Gründe genug, liebreiche Abenteuer nicht an die große Glocke zu hängen.

Die meisten solcher Zufallsgefährtinnen erfuhren nicht einmal seinen Namen. Auf Umwegen geleitete er sie seinem Heimwesen zu, und wenn sie Straße und Hausnummer trotzdem erkannten, dann bot die Finsternis des Hofes sowie das Fehlen eines Schildes an seiner hinteren Tür ausreichende Sicherheit dafür, daß sie späterhin über den Ort des Geschehens im unklaren blieben.

Nur wenigen, mit denen ein fortgesetztes Zusammenkommen ihm lohnend erschien und auf deren Verschwiegenheit er bauen durfte, gab er Namen und Stellung preis. Wenn er ihrer müde war, entließ er sie in aller Güte. Und ob auch hie und da ein Tränlein floß, Katastrophen fanden sich niemals. Ein schmerzlinderndes Abschiedsgeschenk tat das Seine, sie mit ihrem Lose zu versöhnen, und begegnete er ihnen später einmal, so gab es je nach dem Helligkeitsgrad der Stunde entweder ein einverstehendes Blinzeln oder ein freundschaftlich kurzes Gespräch, dem ein kleiner Rückfall nicht selten auf dem Fuße folgte.

Buntscheckig und reich bewegt war die Bilderwelt, die so an ihm vorüberzog. Aber neben Trägerinnen schillernder Schicksale fand auch manch fades Durchschnittsgeschöpf Zuflucht auf seinem Schoß.

Ja, wenn er aufrichtig mit sich zu Gericht ging, mußte er sich gestehen, daß die letztere Gattung weit in der Mehrzahl blieb. Doch was tat's. Dem ermüdeten Hirn halfen sie alle. Und wollte die Not der Einsamkeit schreiend hervorbrechen, so warfen sie einen erstickenden Mantel darüber. Fest begründet in seiner Natur war das Vorhaben, seine Stellung zum weiblichen Geschlecht durch das, was ein minderwertiger Zufall ihm brachte, nicht beeinflussen zu lassen. Und wenn seine Frauenverehrung auch nicht gerade bis zur Kniefälligkeit gedieh, so hütete er sich doch, irgendein abschätziges Gefühl in sich Platz greifen zu lassen.

Ihm schien, als wäre er Teilhaber eines Geheimbundes, der die Priesterinnen verschwiegener Erotik miteinander vereinte. Ein Doppelleben führten sie alle – genau so wie er. Daheim, im Kreise der trauten Familie, im Banne des legitimen Berufes waren sie züchtig, ehrbar, – wenn's hochkam, mit jener Dosis schalkhaften Leichtsinns begabt, die ahnungslose Bürgerlichkeit als »kokett« gerade noch zuläßt; hier im Dunkeln und Verborgenen öffneten sich die Schleusen zwangsmäßig gestauter Triebe.

Von losgelassenem Mänadentum war freilich nicht viel an ihnen zu merken. Ein jubelndes Toben war nicht ihre Sache. Kaum, daß hie und da eine, die in Liebesdingen gewitzter war als die andern, sich in kicherndem und kreischendem Behagen der Lage gewachsen zeigte. Und die waren es dann, die jenseits der trennenden Wand in zwei erschrockenen Seelen Entsetzen emporsteigen ließen.

Die meisten nahmen das, was sie begehrten und was nach ihrem Willen an ihnen geschah, mit schmerzhaft verbissenen Lippen als Schicksalsfügung gefaßt und hilflos in Empfang. Erst wenn sie sich aus Not und Taumel zu sich selbst zurückgefunden hatten, erwachte ihre eigentliche Natur. Dann gaben sie ihr Innerstes preis, erzählten Geschichten, von denen, wie sie behaupteten, noch niemand, auch keiner der früheren Geliebten, eine Ahnung hatte, und sonnten sich in der Wichtigkeit ihrer Sünde.

Sieburth gewann von ihnen, was ihr frisch ergrünendes Menschentum nur irgend hergeben konnte, und immer wieder staunte er ob des töricht gewagten Spiels, das ihre Jugend mit ihnen trieb. Sie fälschten, sie logen, sie schlugen vernünftige Einsicht in den Wind, sie tanzten auf des Messers Schneide, und vor den Gefahren zitternd, von denen sie jeden ihrer heimlichen Schritte umgeben wußten, taten sie, als wären sie nicht auf der Welt.

Dann gab es wieder andere, die sich zu einer trotzenden Freiheit durchgerungen hatten, die sich selbständig zu fühlen trachteten, während sie doch mit gebundenen Gliedern in tausend Abhängigkeiten steckten.

Und andere, die Fertigen, die Erfahrenen, die sich ein kleines Abgleiten vom gebotenen Wege mit vollem Bewußtsein vergönnten und froh waren, nach abgetanem Abenteuer in die Schranken unbeirrbarer Pflichterfüllung zurückzukehren. Unter ihnen fand sich wohl diese und jene junge Ehefrau, die sich in aller Unschuld vergnügte, während ihr Gatte auf Reisen oder auf Nachtwache war.

Und das alles geschah in einer Stadt, die sich mit Recht ihrer strengen Gesittung rühmen durfte und mit neiderfüllter Empörung auf das Sündenbabel hinwies, als das die Gott sei Dank so ferne Reichshauptstadt erschauernden Seelen geschildert wurde.

So kam Sieburth allgemach zu der Ansicht, daß die Selbstverständlichkeit, die als weibliche Tugend die Kulturwelt regiert, nur eine dünne Verkleidung sei, unter der – wenn nicht als Tat, so doch sicher als Wunsch – das nackte Triebleben des Urzustandes immer noch fortlebe. Und daß das Weib, bevor das Kind in sein Dasein tritt, nur durch die selbstsüchtigen Gesetze, die die Herrschaft des Mannes ihm aufzwingt, von dessen eigener Lebensführung geschieden sei, Gesetze, die durchbrechen zu helfen fast ein Verdienst war, wo Luft und Gelegenheit es irgend vergönnten.

Manchmal freilich – wie ein Nachhall längst vergangener Zeiten – stieg der Gedanke in ihm hoch: ›Du hast doch schon einmal anderes erlebt. Frauen haben dein Dasein erfüllt, für die das alles nicht galt.‹

Aber es versank wieder – zusammen mit dem Bilde der einen, das in solchen Augenblicken sorgend und mahnend vor ihm erstand.

Niemals mehr – seit jenem Frühwintermorgen – war er ihr noch begegnet. Und er wollte auch nicht. Ausgestrichen aus seinem Leben mußte sie sein, samt allem, was ihn einst von seelischen Höhen herab beglückt und umfriedet hatte.

Statt dessen versuchte er, wo sich nur irgend ein Anhalt bot, sein jetziges Erleben in eine höhere Rangklasse emporzuheben. Er, der schwer zu täuschende Beobachter, las aus den Gestalten, die sein Heimwesen bevölkerten, Vollkommenheiten heraus, die ihm eine Art von Scheinbefriedigung verschafften und ihm das Gefühl gaben, seine Anteilnahme nicht sinnlos weggeworfen zu haben.

Sah er sich schließlich getäuscht, so lachte er sich wohl aus, aber bald fand er sich wieder auf dieser Irrlichterjagd.

Eines Abends – kurz vor Frühlingsbeginn – begegnete ihm eine barmherzige Schwester, schlank aufgerichtet in straffer Fülle.

Ihr fragender Seitenblick ließ ihn wissen, daß seine Annäherung nicht ungern empfangen sein würde.

Und er fand sein Bemühen weit über Erwarten belohnt.

Das war keine Durchschnittspflegerin, die sich den bitteren Ehemannsmangel durch Werke der Nächstenliebe versüßt. Das war ein Weib von hoher, umhüteter Herkunft und unverkennbarem Seelenadel, das dem Herrensitz seiner Väter entwichen war, weil das dumpfe Genußleben daselbst sein besseres Ich zu ertöten gedroht hatte, und das jetzt in Selbstaufopferung ein unversiegbares Glück fand.

Freilich, auf Liebe müsse man verzichten, und das sei hart, besonders, wenn nie zu stillende Sehnsucht die Nachtruhe störe.

Ob sie ihn wohl einmal besuchen würde?

Warum nicht? Falls er ein Ehrenmann sei. Und daß er es sei, das lese man in seinen schwärmerischen Augen. Er werde vertrauenden Hochsinn nicht täuschen und ein strenges Jungfrauentum nicht in den Abgrund ziehen.

So wurde eine nächste Zusammenkunft verabredet, bei der sie nicht in Schwesterntracht, sondern in eleganter Seidenrobe erschien, die sie bei einer Freundin rasch angelegt habe, um beim Eintritt in das fremde Haus nicht unnützes Aufsehen zu erregen. Ein Köfferchen trug sie in der Linken. Darin befand sich das Ordenskleid, das sie in seiner Wohnung wieder anziehen müsse, denn zu der Freundin zu gehen, sei es alsdann zu spät.

Hochsinn und Jungfrauentum hinderten sie nicht, alsbald in spitzenbesäumtem Hemde auf seinem Bettrand zu sitzen. Die strittige Frage war nur, ob es sich mit den Gesetzen der Keuschheit vertrage, die seidenen Strümpfe, die noch von dem elterlichen Edelsitz stammten, ebenfalls von sich zu tun.

In dem, was nun folgte, war von der ausbedungenen Zurückhaltung nicht mehr die Rede. Aber in der anererbten Noblesse blieb sie sich treu. Das trauliche »Du« verbat sie sich. Das schicke sich nicht für ein Mädchen ihrer Geburt. Und was heute geschehen, müsse vergessen sein für alle Ewigkeit; vor allen Dingen sei an die Heirat mit einem Bürgerlichen niemals zu denken.

Er vergnügte sich schon längst über sie, aber des Wiederkommens war sie immerhin wert. Und zur Bürgschaft dafür, daß sie ihm nicht entschwinden werde, bat sie ihn, das Köfferchen mit Seidenkleid und Zubehör bei ihm lassen zu dürfen bis – nun eben bis zum nächsten Mal.

Als dieses nächste Mal sich dem Abschluß näherte, wurde zur Abwechslung das Seidenkleid angelegt und das Schwesterngewand in den Koffer gepackt. Denn heute kehre sie nicht mehr in das Hospital zurück, sondern begebe sich zum Besuch auf das Schloß ihrer Väter.

Eine Strecke weit geleitete er sie und fand sich dabei von einem wenig vertrauenerweckenden Manne verfolgt, der, als er sich unwirsch nach ihm umwandte, um nach seinem Begehr zu fragen, mit schroffem Bedauern erklärte, er müsse ihn bitten, ihm mitsamt seiner Dame aufs Polizeibüro zu folgen.

Daselbst ergab es sich, daß in dem Krankenhause, in dem sie bisher gepflegt hatte, dauernd Kleidungsstücke verschwunden waren und daß das Seidenkleid, das sie trug, endlich den Beweis lieferte, wo man die Täterin zu suchen hatte.

Ein Glück war's, daß er hinreichend nachweisen konnte, wer er war und wie wenig er von seiner Begleiterin wußte. Und ein noch größeres Glück, daß ihm in dem folgenden Prozeß ein Erscheinen als Zeuge erspart blieb. Sonst hätte man in Kollegenkreisen von neuem Stoff zum Sichentrüsten gehabt.

Aber das Verlangen, in allem, was er auf diese Art erleben konnte, höhere Werte zu finden, wich nicht aus seiner Seele. Und wenn die Hände der Gebenden leer blieben, so mußte er selber sie füllen, mußte dem Geschehenen einen Sinn verleihen, der es über den Jammer banalen Zufalls zu den Genüssen weitsichtigen Erkennens und Wirkens emporhob. –

Als er eines Maimorgens um die Dreiuhrdämmerung von einer schweren, nicht ungeistigen und nicht unersprießlichen Sitzung nach Hause ging, sah er in den von knospendem Grün betüpfelten Bahnhofsanlagen auf einer Bank ein rundlich blondes Geschöpf in zuckendem Schlafe zusammengekauert.

Er weckte sie.

Schaudernd vor Kälte fuhr sie hoch und fing auf der Stelle zu weinen an.

Was ihr fehle.

Sie sei eine Gastwirtstochter vom Lande und nach der Stadt gekommen, um sich eine Stelle zu suchen. Aber die Verwandten, bei denen sie eine vorläufige Unterkunft zu finden gehofft habe, seien verzogen, unbekannt wohin, und nun wisse sie nicht aus noch ein.

Warum sie nicht in eine Herberge gegangen sei.

Dazu lange ihr Geld nicht. Aber das sei noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste sei ihre Angst vor den bösen Männern der Großstadt, vor denen man sie immer gewarnt habe, – Räuber und Verführer, von denen man den Tod haben könne.

Aufmerksam sah er sie an. Ein frisches, blutjunges Ding mit rotfleckigem Puppengesicht und rings um den Kopf gewundenen Zöpfen. Der grasgrün bebänderte Hut, der neben ihr lag, schien dem Trödelladen entnommen. Klumpschuhe hingen ihr an den Füßen, und die von grober Arbeit gedunsenen Hände krochen aus braunwollenen Pulswärmern hervor.

Was man »die Unschuld vom Lande« nennt. Und jedes ihrer Worte zweifellos von lauterster Wahrheit.

Prüfend blickte er in die Runde. Weit und breit keine Menschenseele. Und das Morgenlicht noch so ungewiß, daß ein Gang an ihrer Seite sich wagen ließ. Zum Überfluß standen drüben vor dem Bahnhofsgebäude mit schlaftrunken nickenden Kutschern und Gäulen etliche Droschken bereit.

Ob sie mit ihm kommen wolle. Auf seinem Sofa könne sie ein Nachtlager haben, und ausgeraubt oder verführt werde sie nicht.

Dankbar hingegeben, staunten zwei blaßblaue Augen zu ihm empor.

Ja, er sei ein feiner Herr, das sehe man gleich. Und wenn er sie mitnehmen wolle, komme sie gern.

In dem geruhsamen Bewußtsein, ein mildtätiges Werk zu tun, holte er eines der Gefährte herbei und brachte sie glücklich nach Hause.

Scheu kannte sie nicht mehr, und als er sie in das Arbeitszimmer geführt hatte, blieben ihre Augen sofort in starrem Verlangen an dem Abendessen hängen, das für alle Fälle auf dem Mitteltisch noch bereit stand.

Eines einladenden Winkes bedurfte es kaum, dann machte sie sich in schweigender Inbrunst darüber her.

Er dachte derweilen darüber nach, wie er ihre Anwesenheit vor Frau Schimmelpfennig rechtfertigen und wie er ferner die fortgezogenen Verwandten am raschesten ausfindig machen könne. Zur Polizeidirektion – zum Wohnungsmeldeamt – gleichviel: wer A sagt, muß B sagen.

Im Nu hatte sie die dastehenden Speisen vertilgt, hatte die Wasserkaraffe dazu ausgetrunken und sah sich verstohlen nach mehr um. Und als er die geheimen Vorräte an Schokolade und kandierten Früchten, mit denen er seine üblichen Besuche zu erfreuen pflegte, aus den Tiefen des Schrankes hervorhob, begann sie mit einem Seufzer der Wonne sich auch an ihnen gütlich zu tun.

Allgemach schien sie befriedigt, und er glaubte, sich endlich zur Ruhe begeben zu können. Das obere seiner Kissen überließ er ihr noch, eine warme Decke lag auch da – für beide Teile stand einem ausgiebigen Morgenschlaf nichts mehr im Wege.

Schmunzelnd ob der ungewohnten Guttat kroch er ins Bett, und während er noch nach dem Wohnzimmer hinüberlauschte, wo ein ruckweises Rascheln allmählich erstarb, schlief er hinüber.

Mitten in diesem Traume war es ihm, als würde die Verbindungstür leise geöffnet.

Eine weißschimmernde Gestalt schlüpfte herein, bückte sich suchend unter das Bett, machte sich an dem Nachttisch zu schaffen und schien erst befriedigt, als ein klirrendes Etwas, wie es neben der Ruhestatt eines Kulturmenschen nun einmal nicht fehlen darf, endlich in ihren Händen war.

›Ja, ja‹, dachte er, ›diese unschuldigen Mädchen! Auch sie müssen – – –.‹

Und schickte sich an, wieder einzuschlafen.

Aber der glockenhelle Ton, der nun zu erklingen begann und im weiteren Verlaufe immer breiter und härter und stimmloser wurde, ließ ihn nicht mehr zur Ruhe kommen, und als er sich nach einer Weile aufrichtete, sah er sie im Hemde dicht neben sich hocken, mit treuen Bettelaugen zu ihm aufwärtsschauend, während um ihn her eine Überschwemmung die Dielenritzen entlang sich auszubreiten begann.

»Das ist mir aber zu toll!« rief er aus.

Da wuchs sie langsam empor, schüttelte sich ein wenig, und – wohl aus dem ehrenhaften Verlangen heraus, ihm eine möglichst ausgiebige Genugtuung zu bereiten, sprang sie in aller Unschuld und Feuchte zu ihm ins Bett.

Aber er schob sie schleunigst wieder hinaus.

»Mach, daß du wegkommst«, herrschte er sie an.

Und in zwiefachem Schuldbewußtsein verschwand sie, die Tür des Nebenzimmers hinter sich zuziehend.

In seiner Verärgerung konnte er nicht viel mehr schlafen, aber für ein bis zwei Stunden kam die Ruhe ihm doch, und als er gegen acht Uhr, die Sintflut überturnend, das Arbeitszimmer betrat, um den Rückzug seines Schützlings in die Wege zu leiten, fand er das Nest bereits leer. Ebenso leer wie die Büchsen mit den wohltuenden Vorräten, die sie entweder noch rasch ausgeschleckt oder in ihre Taschen hineingeleert hatte. –

Dieser groteske Vorfall bot Anlaß genug, ihm jede nächtliche Einquartierung – ob mit idealen Werten begabt oder auch nicht – für geraume Zeit zu verleiden.

Und bis auf weiteres blieb seine Wirtin der einzige weibliche Umgang, dessen er sich erfreute.

Helenen war er seit jenem Weihnachtsabend nicht wieder nahegetreten. Sich abends zu den Frauen ins Wohnzimmer zu setzen, vermied er, und ob dem lieben Kinde auch oft genug sein Herz entgegenschwoll – in Reinheit und ohne Begehren, versteht sich –, er hütete sich wohl, es jemals wieder zu sich heranzuziehen.

Denn die Mutter paßte auf. Das fühlte er aus der schmerzlichen Verbissenheit heraus, mit der sie ihn betreute. Ein Schweigekomment war zwischen ihnen entstanden, den nur, wenn die Notwendigkeit es verlangte, ein sachliches Frage- und Antwortspiel, kühl oder scherzhaft, unterbrach. – – –

Anschwellend zu immer schwerer drückendem Reichtum spielte der Frühling sich ab. Heiße Tage, weiße Nächte – einsam die einen, einsam die andern und durchglüht von einem Verlangen nach etwas Unbestimmbarem, Unerfüllbarem, das immer lechzender wurde, je mehr Seele und Sinne in dumpfem Entbehren sich quälten.

Fast schien es, als ob diese Stimmung seiner Wirtin nicht verborgen blieb. Sie, die sonst still und ohne Verweilen ihre Obliegenheiten versah, hielt öfter und öfter vor seinem Schreibtisch an, fragte nach diesem, fragte nach jenem, das des Besprechens nicht wert war, und immer länger und starrer suchten die traurig verschleierten Augen nach seinem Angesicht.

Und auch sein Auge fing an, in Wohlgefallen auf ihr zu ruhen.

Denn reizvoll war sie noch immer. Das strenggeschnittene Profil, der indisch niedrige Ansatz des Haupthaares, das in schwarzglänzenden Wellen über die Ohren hinabsank, der mattgelbe, in seinem Welken noch samtene Hals, die vielversprechende Hochbusigkeit, die von verspäteter, mühsam gedämpfter Liebesbegierde geheimnisvolle Dinge erzählte, ob sie gleich mit dem hageren Gliederbau in seltsamem Widerspruch stand, das alles ließ verhaltene Wünsche wohl entschuldbar erscheinen.

›Hier ist eine, die hängt an dir wie an ihrem Herrgott‹, sagte er sich, ›über die könntest du verfügen, unumschränkt, nach Lust und Laune. Warum tust du es nicht?‹

Nach all dem leichtfertigen Volk, das nur die Reizungen der Stunde begehrte und sie vergessen hatte, sobald es die Straße wieder betrat, ein Menschenwesen im Arme zu halten, das ihm gehörte bis in die letzten Fasern des Leibes und der Seele, das mußte aller Zwiespälte Lösung – Erlösung mußte es sein.

Doch stets, wenn der Gedanke ihm kam, wies er ihn weit von sich fort. Ihm Folge geben, hieß sich und dem Leben Ketten anlegen für alle Zeit. Denn daß er nie wieder von ihr loskommen, nie einen ruhigen Augenblick mehr sein nennen würde, das konnte auch der Dümmste voraussehen. –

Immer heißer brannte der Sommer. Die Wände erhitzten sich unter den glutaushauchenden Dächern, und auch die Nachtstunden brachten keine Kühlung mehr.

Man vermochte kaum noch zu atmen, und zu schlafen erst recht nicht.

Mehr denn je versuchte Sieburth seine Ruhelosigkeit in Arbeit zu ertränken.

Selbst seine Kumpane ließ er im Stich, da er erkannte, daß ihre Gesellschaft den Hunger nach Erleben nur noch verstärkte.

Und eine Nacht kam, die quälender war als alle die andern.

Die Lampe heizte noch mehr als das Sonnenlicht. Ein Backofenhauch stieß ab und zu durch die geöffneten Fenster.

Die Buchstaben verschwammen. Die Feder entsank seiner Hand. Von jagenden Bildern umschwärmt, träumte er dem Morgen entgegen.

Marions Gestalt stieg rubenshaft vor ihm auf. Cillys wuschlige Blondheit streichelte ihn wie ein sich wiegender Blütenbusch. Und dann kam Herma und besiegte sie beide mit der holdseligen Zartheit ihres sich an ihn schmiegenden Leibes, mit dem Sonnenaufgang ihres ihn anstrahlenden Augenpaars.

Verloren das alles! Verloren der Reichtum eines von Liebe umdrängten Lebens!

Aber eine Liebe gab es noch immer, die sehnte sich und harrte seiner zwei Wände weit.

Dort auf der Schreibtischecke lag der Schlüssel, der ihm erlaubte, zu allen Stunden das Heimwesen zu betreten, in dem erstickter Jubel ihn empfangen würde – dessen war er gewiß.

Es wurde hell. Die Sonne färbte die Schornsteine rot. Er saß, den Schlüssel in der umklammernden Hand, und zauderte und überlegte.

Und plötzlich wurde die Sehnsucht nach einem zärtlichen Arme so mächtig in ihm, daß jedes Bedenken erstarb.

Er sprang in die Höhe, trat auf den Treppenflur hinaus und schloß die Tür auf, die zu der jenseitigen Behausung führte.

Das Vorderzimmer lag mit niedergelassenen Vorhängen in stickiger Dämmerung da.

Die Tür zu dem Alkoven, in dem ihr Bett stand, war angelehnt. Er öffnete sie so leise als möglich, denn in dem Zimmer dahinter schlief Helene.

Aus dessen Innerm fiel ein handbreiter Lichtstreif über den Nachttisch und das Kopfende des Bettes gegen die Wand hin, wo er wie ein goldheller Pfeiler inmitten des Halbdunkels dastand.

Gleichsam daran gelehnt und in gelblicher Blässe erschimmernd, lag, von dem gelösten Schwarzhaar umflossen, das Antlitz der schlafenden Frau, älter, müder, zermürbter, als es ihm jemals erschienen war.

›Seltsam, daß sie nicht aufwacht‹, dachte er, während er nach einem Grunde seines Eindringens suchte, den er angeben konnte, wenn es dennoch geschah.

Derweilen setzte er sich auf den Stuhl, der neben dem Bett stand, in zögernde Betrachtung versunken. Da, als sein Blick von ihr fort und über die Platte des Nachttisches glitt, sah er darauf, gegen den Fuß des Leuchters gestützt, etwas, das ihm noch niemals begegnet war und dessen Sinn er nicht gleich zu enträtseln verstand.

Zwei halbkugelförmige Wülste von doppelter Handgröße etwa, braungrau und locker gefüllt, wie aus Draht oder Wolle gesponnen.

Neugierig griff er danach und wog sie in der Hand. Roßhaar war's, woraus sie bestanden. Sie ließen sich eindrücken und formten sich neu, als wären Sprungfedern in ihnen verborgen.

Da begriff er langsam, wozu sie dienten, und begriff zugleich, woher die Fülle stammte, die der welkenden Frau den letzten Schimmer von Jugend lieh.

Für einen Augenblick stieg wohl der rührsame Gedanke in ihm empor: ›Für dich geschieht's, daß sie die Blühende spielt‹, aber er versank sofort, versank für immer angesichts eines Bildes, das gleich einer Vision in unglaubhafter Schönheit Augen und Seele begnadete. Wie er den Kopf zur hinteren Tür des Zimmers wandte, woher die goldgelbe Helle drang, und sich sagte: ›Die hättest du längst schon schließen müssen‹ – da sah er auf einem rotblumigen Kleidungsstück, das über die Dielen gebreitet war, von der Morgensonne mit einem Lichtnetz überspannt, ruhend den nackten Körper Helenens.

Der Hitze wegen hatte sie wohl ihr Lager vom Bett auf die kühlere Erde verlegt und auch die letzte Hülle von sich geworfen.

Das war kein werdendes Weib mehr, kein Fleisch und Blut, wie Jugend und Liebreiz sie formen – ein Lichtgebilde war es, von keuschester Phantasie ersonnen, ein Volksmärchentraum, eine eben erschaffene, noch kindhafte Eva, von einem Maler der Frühzeit in eine Altarnische gebannt.

Von Andacht gepackt, wollte er unwillkürlich die Hände falten, aber er konnte es nicht, denn die Roßhaarwülste lagen noch immer darin.

Mit einem kleinen Schauder legte er sie auf den Nachttisch zurück. Dann – einen letzten, abschiednehmenden Blick nach dem Nebenzimmer hinwerfend – glitt er so leise wie beim Hereinschleichen zur Tür hinaus.

Und gewahrte nicht mehr, daß die Frau, zu der er gekommen war, sich langsam aufrichtend in weinendem Jammer hinter ihm hersah.


 << zurück weiter >>