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Ein Wunder geschah in Sieburths Leben.
Der große Hegelianer, den seit Jahren kaum jemand mehr zu Gesicht bekommen hatte, der in seiner Einsamkeit fast zur Legende geworden war, hatte ihn zu sich gebeten.
Erschrocken starrte er die von ungeübter Frauenhand geschriebenen Zeilen an, die eines Nachmittags bei seiner Heimkunft vom Kolleg auf seinem Tische lagen.
Also – Mittwoch um Viertel auf eins.
Heute war Montag. Zwei Tage noch.
Wie sollte er mit unbeschwertem Gewissen vor den Greis hintreten, den er – wenn auch halb heimlich und mit selbstverständlicher Wahrung der Formen – allzeit bekämpft, den er in seinem Herzen immer den »alten Idioten« genannt hatte?
Wo nun die nötige Ehrfurcht hernehmen und den Augenaufschlag verehrender Demut?
Gleichviel! Wenn das Gerücht nicht trog, so war jener als der einzige dazumal für seine Berufung eingetreten, als die gesamte Fakultät sich dem Wunsche des Ministeriums – ob auch noch so wirkungslos – widersetzt hatte.
Hiefür zum mindesten mußte er ihm Dankbarkeit schuldig sein. Und war er auch seit seiner steifen Antrittsvisite nie mehr zu ihm gerufen worden, Ungunst und Übelwollen konnten die plötzliche Einladung kaum verursacht haben.
Immerhin war von seiner gegnerischen Stellungnahme vielleicht mancherlei in die dumpfige Altersklause gedrungen, und Gereiztheit und Vorwürfe warteten seiner.
Mit etlicher Bangigkeit trat er zur befohlenen Stunde den Weg zu dem großen Manne an, der, wenn er sich auch innerhalb des Lehrkörpers aller Macht entäußert hatte, doch auch jetzt noch fähig war, gerade in seinem Leben Schicksal zu spielen. Denn da er selbst für seine Nachfolge als erster Anwärter galt, so konnte das Wort des Vorgängers noch immer den Ausschlag geben.
Dessen Bild war ihm leidlich in Erinnerung geblieben.
Eine schmalschultrige, mittelgroße, etwas nach vorn herübergesunkene Gestalt … Der bartlose Kopf in hohen Vatermördern steckend … Geölte Faserlocken über den Rockkragen verstreut … Graugrüne Pinselbrauen und darunter ein wässerig müdes Augenpaar, wie mit einer Hautschicht überzogen, dessen Blick in mühsamem Suchen die Umgebung abzutasten bestrebt war.
Schön war der Klang seiner Stimme gewesen. Dunkel, klar, und voll gesättigter Ruhe. Hörte man sie, so konnte man sich den Zauber wohl erklären, der jahrzehntelang von ihm ausgegangen war …
Eine alte, nicht sehr saubere Person, die ein Dunst von Zwiebeln und Speck umgab, öffnete ihm und führte ihn wortlos durch den Hausflur nach dem Arbeitszimmer hin, das er von damals her noch kannte.
Die Danneckersche Schillerbüste auf der Ecke des Schreibtisches. Bücherreihen, ungepflegt und ungeordnet, in den Schränken. Die Dielen des Fußbodens hügelig und teppichlos.
Und nun drehte sich die Zwischentür.
Mit kurzen und sorgsam abmessenden Schritten kam der Hausherr ungeleitet ihm aus dem Nebenzimmer entgegen.
Wenn man Greise nach Jahren wiedersieht, so erscheinen sie meist ein Erkleckliches in die Erde gesunken. Hier war das Gegenteil der Fall. Eher gewachsen schien er seither. Die Brust dehnte sich in entschlossenem Zusammenraffen, und der Kopf saß steil auf den nach hinten gepreßten Schultern. Und da erklang auch die Stimme wieder, in der noch nichts erloschen war.
»Ich sehe nicht mehr viel«, sagte er, die Hand zum Drucke gegen seinen Besucher ausstreckend. »Darum müssen Sie Geduld haben, Kollege.«
Damit wies er nach der Richtung des Sofas hin, während er für sich selber den Schreibstuhl suchte, in dem er auch damals gesessen hatte.
Sieburth bedankte sich, und auf die Eröffnung des Gespräches wartend studierte er das Antlitz, das sich ihm nicht entgegenwandte, sondern mit gesenkten Lidern, ganz fernab und gleichsam zugeschlossen blieb.
Die Mundpartie war weiter eingesunken. Von den Backenknochen hing die Haut locker und rissig herab. Aus den Brauen stachen vereinzelte Haare schräg in die Luft.
»Sie werden sich gewundert haben«, begann er, das Schweigen brechend, »daß ich Sie plötzlich zu mir rief. Ich habe das Bedürfnis dazu manches liebe Mal verspürt, wenn ich von Ihrer Lehr- und Lebensweise hörte. Aber ich sagte mir, daß es mir schwerfallen würde, den Anschein zu vermeiden, daß ich Sie beeinflussen oder beirren wolle. Und diese Absicht lag mir fern. Nun aber ist es so weit mit mir, daß ich meinen Abgang aus diesem Leben vorbereiten muß. Und da erscheint es mir von Wichtigkeit, mit dem Manne, der ungeachtet mancher Widerstände höchstwahrscheinlich auf meinem Platze stehen wird, ein Wort der Verständigung zu sprechen. Sind Sie auch dieser Ansicht? Wenn nicht, sagen Sie es offen! Wir können ja von anders gearteten Dingen reden.«
Sieburth fühlte eine widersinnige Weichheit in sich emporsteigen.
›Wie gut würde es mir getan haben‹, dachte er, ›hätt' ich in diesen Jahren manchmal hier sitzen dürfen!‹
Und etwas Ähnliches sagte er auch, nur nicht so rückhaltlos hingegeben.
Seine Antwort schien den alten Mann zu befriedigen.
»Um so besser«, erwiderte er. »Wenn sich auch nichts mehr nachholen läßt, noch leben wir beide, und unsere Gedanken dürfen sich kreuzen. Ich weiß wohl, daß es unter den lebenden Philosophielehrern kaum etwas Gegensätzlicheres geben kann als uns beide. Das bringt schon allein der Wechsel der Generationen mit sich. Wenn selbst die Schüler, die sich mit Freuden zu ihrem Meister bekennen, dessen Widersacher werden können oder müssen, um wie viel mehr Männer, die von vornherein aus – wie soll ich sagen? – aus feindlichen Heerlagern will ich nicht sagen – aber schließlich kommt's darauf hinaus.«
»Die Freunde liefert uns meistens der Zufall«, sagte Sieburth. »Wenn ich könnte, würde ich sie mir immer im feindlichen Heerlager suchen.«
Der alte Mann lächelte in nachsichtiger Zustimmung. »Sie haben nicht unrecht«, erwiderte er. »Erst aus den Wunden, die wir am eigenen Leibe verspüren, erkennen wir den Wert des Menschen, der sie uns schlug … Leider sind sie ja zumeist vergiftet. – Mir wenigstens ging es so, als ich noch im Kampfe stand. Denn trotz aller Verhimmelung, mit der man mich hier unverdienterweise beschenkt hat, ist wohl niemand mit gemeineren Waffen angegriffen worden als ich. Und gerade von denen, die sich zuvor meine Freunde genannt haben.«
»Oh, ich weiß«, lachte Sieburth. »Was zum Beispiel Bayrhofer und Michelet sich Ihnen gegenüber geleistet haben, Herr Geheimrat, das ist von den Gegnern Ihrer Schule wohl niemals erreicht worden.«
Überrascht hob der Greis den verwitterten Kopf.
»So genau wissen Sie Bescheid?« sagte er anerkennend. »Ja, ja, ja – das hat einmal sehr weh getan. Aber lassen Sie mich Ihnen das Geheimnis allen Kämpfens sagen: Es war niemals da! … Selbst dann, wenn man glaubt, daß man daran zugrunde gehen muß, schließlich stirbt man an Krebs oder Lungenentzündung oder Altersschwäche. Und was einst Qual war, wird ein Lächeln. Manchmal auch das nicht einmal! So gründlich vergißt man es.«
Ein Schauer ging über Sieburths Körper hin. ›Wenn das das Ende ist‹, dachte er, ›wozu denn alles?‹
»Jedenfalls«, fuhr jener fort, »hat es mir Freude gemacht zu erfahren, in welcher rücksichtsvollen Weise Sie in der Zeit, in der Sie hier lehren, vom Katheder her mit mir verfahren sind. Wäre es anders gewesen, so hätte ich es mir versagen müssen, Sie vor meinem Ende bei mir zu sehen. Und hieran will ich gleich die Bitte anknüpfen, die ich gern an Sie richten möchte.«
Sieburth horchte auf. Was konnte der große alte Mann, dem ungezählte Lobredner zu Gebote standen, sich von ihm, dem unbekannten und einflußlosen Verfechter gegnerischer Meinung, wohl zu wünschen haben?
»Sie haben einmal über Schleiermacher geschrieben … Menschlich hat er mir nie nahegestanden, obwohl ich in meiner Jugend eine heiße Verehrung für ihn hegte. Gedanklich auch nur so weit, als – nun, hierin wissen Sie wohl Bescheid … Die Hochachtung, mit der Sie als sein ausgesprochener Gegner ihn behandelt haben, war der eigentliche Grund, daß ich bei Ihrer Berufung – doch Verzeihung – hievon wollte ich nicht reden, ich wollte vielmehr sagen: ist der eigentliche Grund, daß ich mich mit meinem heutigen Anliegen an Sie wende: Wenn ich tot bin, schreiben Sie auch über mich!«
Sieburth fuhr empor. »Das ist so überraschend –«, stammelte er.
»Ich weiß, ich weiß, was Sie sagen wollen. Sie stünden mir gedanklich in noch viel schrofferer Weise gegenüber als jenem liebenswürdigen Gottesmann … Sie würden sich entweder an der hiesigen Universität unmöglich machen oder sich zur Heuchelei gezwungen sehen und so weiter … Nein, lieber Kollege, ich verlange kein Sakrifizium des Intellekts von Ihnen. Sie sollen schreiben, wie es Ihnen ums Herz ist. Und wenn Sie nur dieselben Formen wahren, die Sie damals beobachtet haben, wird Sie kein Vorwurf treffen … Mir aber ist gerade für die Ausgestaltung des Bildes, das man sich später von mir zurechtmachen wird, das Urteil des Gegners von Wert. Denn die Anhänger pflegen sich für ihre Treue gern durch eine gönnerhafte Überheblichkeit schadlos zu halten. Die werden sich, wenn Sie das Beispiel geben, gleichfalls verpflichtet fühlen, vom Wege der Hochachtung nicht abzuirren.«
Und er lachte in bitterer Überlegenheit in sich hinein, wie einer, der falschen Freunden einen Streich gespielt hat.
»Ich bedaure aufrichtig, Herr Geheimrat«, sagte Sieburth, »daß Sie in Ihrem eigenen Kreise so betrübliche Erfahrungen gemacht haben.«
»Ja, ja«, rief jener im gleichen Ton weiterlachend. »Wer sich so eine berühmte Reliquie ausmalt, wie ich sie darstelle, der denkt nur an den Weihrauchdunst, der sie umhüllt, und glaubt sie stetig von knieenden Betern umgeben. In Wahrheit sieht die Sache ein wenig anders aus. Wer am Spieltisch dieses Lebens keinen neuen Einsatz mehr zu machen hat, der fühlt sich alsbald unsanft beiseite geschoben. Unsere Hörsaalweisheit ist plötzlich altbacken geworden, und was wir bis dahin als Tribut hinnahmen, verwandelt sich in ein Gnadengeschenk. Das wird Ihnen auch einmal so gehen, lieber Kollege, denn das letzte, das endgültige Wort, das die Historie spricht, das vernehmen wir ja nicht mehr. Und daß die nicht auch zur Fälscherin werde, das ist die einzige Sorge, die ich ins Grab mit hinunter trage.«
»Wenn Sie hiezu die Darstellung eines Menschen brauchen können«, sagte Sieburth in unwillkürlicher Ergriffenheit, »der Ihr Widersacher und Ihr Verehrer zugleich ist, dann verfügen Sie, bitte, über mich.«
Der alte Gelehrte, der bisher mit gesenkten Lidern dagesessen hatte, schlug bei diesen Worten das Auge groß und voll zu Sieburth auf. Und in diesem nichts mehr sehenden Auge war keine Trübung, keine Hautschicht schien wie ehemals darübergebreitet, in wachem Glanze, überirdisch fast zu nennen, sandte er seine Strahlen ins Leere.
»Ich danke für diese Zusage, mein lieber Freund«, sagte er, und die Feierlichkeit seines Tones bewies, wie schwer die Sorge auf ihm gelastet hatte. »Ich werde mich, soviel die Kerkermauern meines Alters es erlauben, auch weiterhin dankbar erweisen … Es liegt etwas Erfreuliches – Erlösendes möchte ich fast sagen – in solch einer Übereinkunft. Für Sie wie für mich. Und wäre ich nicht schon ein wenig d'outre tombe – ein wenig – wie soll ich's nennen? – oberhalb meiner selbst, so würde ich eine große Freude darum empfinden. Der Andere, den man Ihnen übergeordnet hat und der mir wahrscheinlich die Leichenrede halten wird – ein Glück, daß ich sie nicht zu hören brauche –, jenen Anderen hätte ich darum nicht bitten mögen. Er ist mir zuviel Gallerte.«
»Diese Gallerte zerfließt zu Schleim oder gefriert zu Stein – je nach Bedarf«, lachte Sieburth.
»Vorsicht, mein Lieber!« mahnte der alte Gelehrte. »Der Mann hat eine Stimme zu vergeben, und zwar eine, die bei Ihrer Wahl zum Ordentlichen ausschlaggebend werden kann.«
»Ich weiß, ich weiß«, höhnte Sieburth, »ich übe diesen Eiertanz schon manches Jahr. Noch ist kein Ei zerschlagen. Aber leicht könnten sie faul geworden sein in all der Zeit!«
Der Greis streckte den Zeigefinger gegen ihn aus. »Eine Frage«, sagte er, »die hiemit zusammenhängt und die mir wahrhaft auf der Seele brennt! Warum publizieren Sie eigentlich nichts? Sie hätten es nicht schwer, denen, die gegen Sie arbeiten, das Heft aus der Hand zu schlagen.«
›Jetzt wird es ernst‹, dachte Sieburth. Aber sein Vertrauen zu dem alten Mann war so groß, daß er aus seiner gewohnten Zurückhaltung glaubte heraustreten zu dürfen.
»Ich bin ein Suchender«, erwiderte er. »Ich habe das Gefühl, daß sich in mir Wandlungen vollziehen werden, die ich heute noch nicht übersehen kann.«
»Nach welcher Richtung hin?« forschte jener.
Und nun mußte Sieburth sich doch aufs Stummsein verlegen, denn er fühlte, daß, was sich in ihm in die Höhe drängte, dem alten Herrn einen Schmerz bereiten würde, der nicht leicht zu verwinden war.
Der nickte bedachtsam vor sich nieder.
»Ich verstehe Ihr Schweigen«, sagte er, »und ich verstehe auch, wohin der Weg geht. Gut, angenommen, daß die philosophische Spekulation sich überlebt hat! Und oftmals, wenn ich nachts wach liege, höre auch ich die Rattenzähne der empirischen Wissenschaften an unserem Bauwerk nagen. Aber schmähen Sie dieses Bauwerk nicht! Es hat der Sehnsucht nach dem Unendlichen zwei Menschenalter lang eine Zuflucht geboten. Und mehr als das! Da, wo die Kirche im Zerfallen war, baute sie über ihr einen Gedankendom, der höher in den Himmel strebte, als diese je getan hat. Mag er auch nichts als ein Wahngebilde sein – schöner und stolzer hat der Menschengeist noch nie geträumt.«
»Das kann ich zugeben«, bestätigte Sieburth.
»Und was wollt ihr Männer der reinen Erfahrung an seine Stelle setzen? Was habt ihr an seine Stelle gesetzt? Euer bißchen biologischen Kleinkram, eure hochmütige Bescheidenheit im Nichtwissen und am Ende des Denkprozesses die Verzweiflung darüber, daß alles sinnlos ist.«
»Diese Verzweiflung ist ein Luxusgefühl«, erwiderte Sieburth. »Die Menschheit hat keine Zeit zum Verzweifeln.«
»Mag sein, daß die Arbeit sie betäubt. Aber Arbeit braucht Ausruhen. Und was gebt ihr ihr dann? Mit welcher Wahrheit nährt ihr sie, wenn sie fühlt, daß sie an der euren verhungert? Und selbst wenn wir uns verstiegen haben, wenn wir die Götter nicht sind, in die nach unserer Lehre die Gottheit sich verwandelt – sich zu gedanklichen Heloten zu machen scheint mir noch minder erstrebenswert.«
»Ich wage nicht zu widersprechen, verehrter Herr Geheimrat«, entgegnete Sieburth, »aber ich meine, daß alles Hadern umsonst ist. Unser aller Nährvater Aristoteles hat gesagt: ›Erkennen ist das Süßeste.‹ Und an der Süße lutschen wir wie die Fliegen, selbst wenn sie uns mit dem Erkennen den Tod bringt.«
»Und ein anderer Nährvater jüngeren Datums«, erwiderte jener, »er nennt sich Goethe, hat gesagt: ›Was fruchtbar ist, allein ist wahr.‹ Wie stellen Sie sich dazu?«
»Sehr einfach! Da hat unser Nährvater Goethe sich eben geirrt! … Wie alle diejenigen tun, die dem menschlichen Wahrheitsverlangen nach der Menge des Nutzens, die es vielleicht produziert, Maß nehmen wollen. Ich meinesteils hasse nichts so sehr wie die ordnungschaffende Lüge!«
»So würden Sie lieber der Unordnung das Wort reden?«
»Wenn sich die Wahrheit nicht anders fassen läßt – gewiß.«
»Nach Wahrheit strebt man – und Willkür wird daraus.«
Sieburth stutzte. »Wie verstehen Sie das, Herr Geheimrat?«
Der alte Mann nickte langsam wie eine Pagode vor sich nieder. Um seinen Mund bebte ein Lächeln, sorgend und doch voll geheimer Humore.
»Ich gebe zu, hier ist ein Gedankensprung«, sagte er. »Ziemlich gewaltsam sogar. Aber nun er getan ist, kann ich nicht mehr zurück … Und das ist ganz gut so … Freilich muß man schon ziemlich todesreif sein, um das zu sagen, was ich für Sie auf dem Herzen habe. Und ein anderer würde es auch nicht tun.«
›Wo will das hinaus?‹ dachte Sieburth unruhig. Fast hätte die Erwartung ihn emporgetrieben.
»Sehen Sie, Kollege, Sie sind Anfang der Dreißig. Sie sind, wie man mir gesagt hat, materiell unabhängig – in bescheidenen Verhältnissen zwar, aber das ist vielleicht ein doppeltes Glück. Warum zögern Sie noch immer, in die sittliche Einheit einzutreten, die sich Ehe nennt?«
›Also auch du!‹ dachte Sieburth. Und laut antwortete er: »Weil ich die Ehe nur da als sittliche Einheit betrachte, wo zwei Seelen die Tendenz haben, einander zu heiligen. Und diese zwei Seelen haben sich in meinem Leben noch nicht zusammengefunden.«
Dabei fühlte er einen kleinen Gewissensbiß, denn der Name »Cilly« fuhr ihm durchs Hirn. Aber sofort schob ein anderer Name sich sieghaft darüber hin.
»Das bedaure ich umso mehr«, entgegnete der Greis, »als sogar in unsern akademischen Kreisen junge Mädchen herangewachsen sein sollen, die wohl dazu angetan wären, Ihren Forderungen zu entsprechen … Aber ich muß noch weiter gehen. Es gibt wohl trockene Gesellen, denen die Ehelosigkeit keine Gefahren bringt … Womit ich natürlich nicht auf Kant hinzielen möchte, der außerhalb jedes üblichen Maßstabes steht … Zu diesen gehören gerade Sie, wie ich weiß, durchaus nicht. Im Gegenteil, man sagte mir, daß Sie Ihre Freiheit in vollen Zügen genössen … Dies soll kein Vorwurf sein – beileibe nicht! Und unsere Kollegen – oder vielmehr deren Frauen – denn die sind ja in solchen Fällen der eigentliche Gerichtshof – lassen sich diese – wie soll ich es nennen? ›Wildheit‹ wäre zuviel – bleiben wir also bei ›Willkür‹ – mit einer ungewöhnlichen Nachsicht gefallen. Aber mir will scheinen, lieber Kollege, daß ein akademischer Lehrer – und insbesondere ein Lehrer der Weltweisheit – gewisse Bedenken zu tragen hat, die – warum lachen Sie, Kollege?«
»Ich bitte tausendmal um Verzeihung, Herr Geheimrat«, rief Sieburth, der sich in der Tat eines, wie er glaubte, unhörbaren Lachens nicht hatte erwehren können. »Mir fiel nur gerade eine Stelle bei Persius ein – den lateinischen Text habe ich vergessen –, sie handelt von dem Philosophen, der sich von einer Neunuhrdirne den Bart kraulen läßt. Einer solchen Sorte von Philosophen scheint das Gerücht auch mich hinzuzurechnen.«
»Ich aber gebe Ihnen den väterlichen Rat, lieber Kollege«, fuhr der alte Mann fort, »nehmen Sie diese Dinge nicht leicht. Gar mancher unter den gesellschaftlich Gebundenen fühlt sich zu einer gewissen Unordnung nicht bloß berechtigt, sondern sogar verpflichtet. Der Motive dazu gibt es viele, und klingende Namen tragen sie auch … Das geht, solange es geht … Aber eines Tages – ganz unversehens – kommt dann irgendeine dumme Kleinigkeit – an sich durchaus unwürdig, beachtet zu werden –, aber gerade die bricht ihm den Hals … Es wäre mir leid um Sie, Kollege, sollte es Ihnen ebenso gehen … Verzeihen Sie mir die wohlgemeinte Mahnung, die ich mir lange überlegt habe. Und noch einmal: Probieren Sie's mit einer baldigen Heirat, es wird Sie nicht gereuen!«
Sieburth schwieg. Durch seine Seele jubelte ein geliebter Name, und alle Schrecknisse ehelicher Pflichterfüllung grollten dazwischen.
Über das von Furchen zerwühlte Gesicht flog aufs neue jenes sorgende Lächeln, in dem die verschwiegenen Humore geisterten.
»Mir ist, als sähe ich Sie in diesem Augenblick ganz genau«, sagte er, »ja – als sähe ich sogar ein wenig in Sie hinein. Es ist vielen von uns, die die Ehe nicht gerade als Sprungbrett benutzten, genauso wie Ihnen ergangen … Man zögert und wählt … Das eklige Kinderwiegen – und der abendliche Alkovenstreit – und die allstündliche Rechenschaftsablegung – und die behinderte Denkarbeit – und das mähliche Altern, das man ja immer bloß an dem andern Teile bemerkt – und dann vor allem die mit der Deformation nun einmal verbundene Vernachlässigung des Äußeren, die schließlich in dem rotwollenen Unterrock gipfelt … Das scheut man natürlich mit Recht. Und jeder, der ein Leben der Ehe hinter sich hat, weiß Ähnliches zu berichten … Am Ende, mein Lieber, bleibt man ja dann wohl allein, und alles, was einen mal gequält und geärgert hat, das liegt fünf Schuh tief unter der Erde … Elf Jahre. Ja, ja … Lange elf Jahre … Da sollte man meinen, daß das Gefühl des Verlustes sich verwischt oder abstumpft … Aber im Vertrauen, Kollege: Wenn ich noch eine Sehnsucht habe auf dieser Erde, dann ist es die: Jenen rotwollenen Unterrock mit dem, was in ihm war, für einen einzigen Augenblick zwischen meinen zwei Händen zu halten … Ja, ja. – So ist das. Ja, ja.«
Er schwieg und stützte den Kopf in die zitternde Linke, mit den lichtlosen Augen vor sich niederschauend wie ein Träumender.
Dieser große Gelehrte, der Stolz der östlichen Lande, dessen Patriarchengestalt begeisterte Huldigung umgab, soweit der Klang seines Namens reichte, – nicht hinter seinem Ruhme träumte er her, nicht hinter den Siegen über erbitterte Gegner, nicht hinter der kühnen Göttlichkeitslehre vom verkörperten Logos, deren Ausgestaltung und Verjüngung er sein ganzes Leben dargebracht hatte – von einem rotwollenen Unterrock träumte er, der einst sein Entsetzen gewesen.
Lange verharrte er so in geistesferner Erstarrung.
Erst als Sieburth sich erhob, kam wieder Leben in ihn.
Gleichfalls aufstehend, streckte er ihm beide Hände entgegen.
»Wir werden uns nicht mehr wiedersehen«, sagte er. »Denn ich hab's im Ohr: Mir wird zum Abmarsch geblasen.«
»Nicht so, Herr Geheimrat«, wehrte mehr als pflichtgemäß Sieburth. »Sie – so jugendlichen Geistes, so voll ungebrochener Kraft in jeder Bewegung – –«
»Ruhig, ruhig, ruhig«, unterbrach ihn der Greis. »Was braucht's da viel Tröstung! Einer, der Ihnen näher stehen wird als mir – ich meine Montaigne – hat gesagt: ›Philosophieren heißt sterben lernen.‹ … Was wären wir Philosophen wohl wert, wenn wir uns nicht einmal auf dieses kleinste aller Kunststücke verstünden? – Leben Sie wohl, Kollege!«
Und damit war die Unterredung zu Ende.
Drei Wochen später eilte eines Morgens die Kunde von Haus zu Haus, von Hörsaal zu Hörsaal, daß der große Hegelianer gestorben war.
Die ganze Stadt klagte, wie sie einst um ihren Mitbürger Kant geklagt hatte, bis zu den Kleinkramhändlern und den Radiesfrauen hinunter.
Mit allem Pomp, den die Albertina bei feierlichen Anlässen zu entfalten vermag, wurde er beerdigt.
Der »Andere«, der »Ordentliche«, hielt ihm die Trauerrede, die an Gemeinplätzlichkeiten reich war.
›Ich werde ihm ein besseres Denkmal setzen‹, dachte Sieburth, der still im Hintergrunde saß, dort, wo die Extraordinarien ihre Plätze hatten.
Und seine Seele neigte sich tief vor dem, den er einst den »alten Idioten« genannt hatte und der inmitten der Aula im blumenbeladenen Sarge lag.