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Es war an einem frühen Novemberabend bald nach dem Königsberger Semesterbeginn, da saßen in einem der oberen Rauchzimmer der Steinerschen Konditorei dicht vor dem Erkerfenster, das man seiner jagdfrohen Ausschau wegen die »Saukanzel« zu nennen pflegte, etliche Angehörige der »Cheruskia« zu einem Viermännerskat geruhsam vereinigt.
Hinter jedem der Spielenden ein »Kiebitz« und zwei noch obendrein, die in Witzblättern »tigerten«.
Der Kaffee war schon ausgekloppt, den hatte der lange Schlurks erworben, nun kamen die diversen Liköre dran. Da war erst eine Runde Maraschino, dann vier Knickebeine, und schließlich der Sliwowitz, dessen Ziffer eine respektable Höhe erreicht hatte.
Plötzlich legte die Spitzmaus die Karten hin und sagte: »Bei mir is Schluß, ich muß ins Kolleg.« Die andern stimmten das berühmte Maurerlied an: »Wenn man die kalten Füße kriegt, Füße kriegt, Füße kriegt«, aber der kleine, forsche Kerl mit dem beweglichen Mauserüssel ließ sich nicht beirren. Er schob die blaugoldberänderte weiße Mütze noch etwas weiter ins Genick zurück und sagte mit der ihm eigenen krähenden Wurstigkeit: »Wenn ihr Schafsköpfe 'ne Ahnung hättet!«
»Was für 'ne Ahnung? Raus mit den kalten Katzen!«
Aber der Spitzmaus beliebte es nicht, Rede zu stehen.
»Kloppt man ruhig weiter. Ich bezahl' meinen Teil, und damit basta.«
Da wurden sie aber unangenehm.
»Wenn du nicht auf der Stelle Farbe bekennst, kriegst du heut abend so viel Bierjungen aufgesengt, daß du in fünf Minuten unterm Tisch liegst.«
Nun mußte er wohl oder übel die verlangten Erklärungen geben: »Was soll ich euch erzählen? … Ihr wißt ja überhaupt nicht, was so 'n Kolleg für 'n Vergnügen sein kann. Ihr lauft in eure Anatomie oder schreibt stumpfsinnig Pandekten und Kirchenrecht nach – von uns Philologen mit unserem stinkenden Wortmisthaufen gar nicht zu reden! … Aber daß es in so einem Hörsaal auch klatschen und blitzen kann wie auf dem Paukboden, daß es Blutige gibt und Abfuhren und ein Spiel der Klingen, wobei einem ganz warm ums Herz wird, davon schwant euch natürlich nichts.«
Die andern höhnten: »Die Spitzmaus strebt nach dem Höheren empor!« – »Die Spitzmaus treibt geistige Unzucht.« – »Die Spitzmaus bewirbt sich um ein Marmorstandbild auf Königsgarten.«
Nur einer, ein blonder, heißäugiger Bursch, dessen Milchgesicht die Schmisse der ersten Mensur dunkelglühend durchfurchten, war hellhörig geworden.
»Du, Leibbursch«, flüsterte er, sich vorbeugend, »was is es? Bei wem is es?«
»Willst mitkommen, Fuchs Kühne?« fragte der Leibbursch zurück, der inzwischen seine Rechnung beglichen hatte. »Es ist die dreistündige Psychologie bei Professor Sieburth.«
Das Wort »Psychologie« entfesselte neue Heiterkeit.
»Das is auch so 'ne brotlose Kunst, wie lyrische Gedichte machen und Flöhe abrichten und dergleichen.«
»Und neuerdings gibt es da sogar Apparate und Versuchskaninchen und Anspruch auf Exaktheit. Psychophysik nennt sich das.«
Die Spitzmaus stand auf und langte nach ihrem Überzieher. »Du, wart mal«, rief einer der Spielenden, ein aufgeschwemmter Massentrinker mit zerhackten Vollmondbacken, »dein Sieburth, ist das so 'n Schlanker, noch Junger, mit kurzgeschorenem Schädel – ganz bartlos und dicke Augenbrauen – das richtige Jesuitengesicht?«
»Das kann er schon sein«, bestätigte der Aufbrechende.
»Den hab' ich unlängst um zwei in einem Bums aufgeangelt und bin mit ihm auf den Bummel gegangen. Weiß der Teufel, ich glaub' beinah', schließlich hab' ich irgendwo zusammen mit ihm im Rinnstein gesessen.«
»Blech!« sagte achselzuckend die Spitzmaus und wandte sich zum Gehen.
Da schoß der junge, heißäugige Bursch plötzlich in die Höhe, warf dem Kellner ein Geldstück zu und rannte dem Davoneilenden nach. »Nanu, was is denn los, Leibfuchs?« fragte der, als er den Arm des Nachfolgenden in dem seinen verspürte.
»Du hast mich doch eingeladen, ich soll mitkommen«, erwiderte er. »Schöner als die ›Fliegenden Blätter‹ wird's immer noch sein.«
Der »Spitzmaus« Genannte maß wohlgefällig den biegsamen, hochstämmigen Jünglingskörper, der um Haupteslänge über den seinen hinauswuchs.
»Du bist zwar noch ein krummer und törichter Fuchs, Fritze«, sagte er, »aber Witterung dafür, wo was zu holen ist, hast du. Drum komm in Gottes Namen, wenn du auch nichts kapieren wirst.«
»Warum hältst du mich für 'n Idioten?« fragte jener. »Einleitung in die Philosophie hab' ich schon im Sommer bei Hagemann gehört, und wenn's dir Spaß macht, wird für mich auch wohl noch ein Mund voll abfallen.«
»Probier's«, sagte die Spitzmaus. »Ein putziger Heiland ist er jedenfalls. Aber du wirst ja selber sehen!«
Arm in Arm durchquerten sie die Blumenanlagen von Königsgarten, in deren abgewelkten Rabatten der Novemberwind wühlend umherstrich, und hielten vor der Säulenhalle, die sich an dem gelbziegeligen Universitätsgebäude entlangzog.
Gruppen Spazierengehender bevölkerten sie, denn noch fehlten etliche Minuten an dem akademischen Viertel. Nur wenig Couleuren prangten dazwischen, denn die Nachmittagskollegien waren höchstens bei den »Kamelen« beliebt, die mit ihrer Zeit sowieso nichts Gescheites – als da sind Skat, Billard und Knobelbecher – anzufangen wußten.
In dem grauen Marmor des Treppenhauses spiegelten sich die Flammen der Kandelaber, und gegen die Tafelreihen des »Schwarzen Brettes« drängten sich Wißbegierige, die im Halblicht des Abends die ausgehängten Anzeigen zu entziffern trachteten.
Die beiden Cherusker stiegen zum ersten Stock empor und öffneten die Tür zum Hörsaal, der, dicht gefüllt, den heißen Dunst aufgestauter Menschenleiber den Eintretenden entgegenschlug. Die fächerförmigen Lichter der Gaslampen brodelten. Husten, Scharren und Murmeln erfüllten den Raum.
Der dunkle Hammerton der Glocke erdröhnte. Noch fünf Minuten verflossen, und längst versuchte kein verspäteter Hörer mehr, sich unbemerkt hereinzuschieben, da öffnete die Tür sich zum letztenmal und ließ den Mann herein, dem alle erwartungsvoll entgegenharrten.
Kein Trampeln der Begrüßung erhob sich – das war des Orts nicht Sitte –, aber mancher Blick leuchtete auf, und manche Stirn faltete sich im Vorgeschmack lustvoller Arbeit.
Der junge Bursch, der Fritz Kühne hieß, schlang in herzklopfender Neugier das Bild des auf das Podium steigenden Lehrers in sich hinein.
Der Kopf war Auge – nichts als Auge. – Da gab's noch einen hohen, schmalgewölbten Schädel, haarlos beinahe und von der durchschimmernden Haut wie mit einer weißlichen Kappe bekleidet, da gab's gehöhlte Backen mit den Schatten der Morgenrasur und einen fleischigen, scharf umrandeten Mund, um den herum ein halb gütiges, halb verbissenes Lächeln sich eingefressen hatte, da gab's ein hartes, knochiges Kinn, das sich in asketischer Magerkeit zu einem faltigen Halse hin verlor, – aber was man recht eigentlich sah, war doch nur Auge und immer wieder Auge.
»Wo habe ich solche Augen schon gesehen?« dachte Fritz Kühne, und ein Vorstellungsreigen von Pyramiden und Sphinxen und Gräbern tanzte an ihm vorüber. Richtig! Die Mumienbilder in seinem Kunstgeschichtsbuche, die hatten sie; auch in den Schildereien der altchristlichen Katakomben kamen sie vor. – Übergroß, von halbkreisförmigen Brauenbogen umwölbt und wie aus rätselhaften Fernen trauer- und traumvoll ins Leere starrend.
»Jesuitengesicht« hatte jener gesagt und diese Augen vergessen. Nein, die vergaß man nicht. Die Biertonne hat sich mit wer weiß wem verbrüdert, mit diesem da oben sicherlich nicht.
Und nun hub er zu reden an.
Mit hoher, etwas heiserer Stimme, gurgelnd und sich räuspernd, als sei ihm sein Kragen zu eng. Nur ab und zu durchbrach ein verlorener Glockenton das wenig kräftige Rieseln der Rede, und dann war es jedesmal, als stiege etwas Verborgenes, sich gewaltsam Befreiendes aus der Tiefe der Lungen, des Herzens empor.
Es dauerte lange, bevor Fritz Kühne den Worten des Vortragenden zu folgen vermochte. So sehr hatte dieser Ton es ihm angetan. Er maß die Intervalle zwischen ihm und dem nächsten, und wenn er auszubleiben schien, dann packte ihn Ungeduld.
Aber endlich war er des Spieles müde und versuchte ernstlich, sich in dem Sinn des Gehörten zurechtzufinden.
Das kostete heißes Bemühen; denn Gegenstand und Ausdrucksart waren ihm fremd. Hörte man den guten Hagemann, dann schien's, als spräche einer zu Kindern, und selbst die aristotelische Logik, die er jetzt vormittags las, war nichts wie ein Kinderspiel.
Dieser aber setzte Wissen voraus und Geübtsein in der Handhabung des philosophischen Handwerkjargons.
Von der Psychologie der Hegelschen Schule sprach er und den Schlußfolgerungen, die der berühmte Veteran der Königsberger Universität, der größte aller noch lebenden Hegelianer, daraus gezogen hatte. Jeder Satz war eine respektvolle Verbeugung, aber dahinter saß lächelnd ein Spott, den nur der Wissende empfand und mit einem Lächeln quittierte.
Dann war von der Schrift eines Herbartschülers mit Namen Eckner oder Exner die Rede, der der Hegelschen Psychologie den Garaus gemacht und dabei auch noch einigen anderen Ewigkeitswerten jener Lehre den Hals umgedreht hatte, so daß sie schließlich in lebloser Ungereimtheit auf dem Schlachtfelde liegengeblieben waren.
Ja, was die Ungereimtheiten betraf, deren gab es leider die Menge, soweit die Hegelsche Orthodoxie ihren Bannkreis erstreckt hatte.
Da war einer ihrer Verfechter, der wußte bestimmt, daß der Streit zwischen Staat und Kirche, wie ihn das Mittelalter durchkämpft hatte, nur verstanden werden könne, wenn man ihn als einen chemischen Prozeß auffasse.
Und ein anderer, der berühmte sozialistische Agitator Lassalle, der ja nebenbei ein hervorragender Hegelianer gewesen war, hatte sogar erkannt, daß auch die Monarchie so ein chemischer Prozeß sei, der erst mit der Einführung der Republik zur Neutralisation geführt werden könne. »Die Staatsgefährlichkeit der Chemie ist hierdurch für alle Zeiten bewiesen«, fügte Sieburth trocken hinzu.
Ein schallendes Gelächter antwortete jedem solcher Sätze, die mit immer gleicher Höflichkeit – als gelte es, Perlen höchster Weisheit auf eine Schnur zu fädeln – den feinschmeckerisch gespitzten Lippen entflohen.
Und dann war noch eines an dem Sprechenden seltsam und auffällig: Wenn er gerade am Werke war, eine neue Bosheit zu formen, hob er die Linke, die schlank und weiß und oval wie ein Lilienblatt war, gegen die Gasflamme empor und sah in sie hinein, als wolle er mitten hindurchsehen. Und da auch hinter ihr eine Gasflamme sich breitete, so erschien sie den Hörern genauso transparent und aus Milchglas gestaltet wie dem, zu dem sie gehörte und der aus ihrem zartförmigen und geschmeidigen Griffe gleichsam den Antrieb zu seinem Fechterspiel nahm. Und als er sich und seine Hörer sattsam mit Hegel unterhalten hatte – doch niemals, ohne zu vergessen, dessen großem Schüler, der Senior und Zierde der Albertina war, in wohlabgewogener Ehrerbietung ein lächelndes Kompliment zu machen –, ging er zu Schopenhauer über.
Das Lächeln verschwand auch jetzt nicht aus seinen Mundwinkeln, aber es wurde ernster, bitterer. Beinahe vergrämt wurde es.
»Dieser Mann«, sagte er, »war in der beneidenswerten Lage, von niemandem abhängig zu sein und keines Menschen Billigung erstreben zu müssen. Seine Gedanken konnten sich in unbeschnittenem Wildwuchs zu einer Höhe entwickeln, von der er über alles, was Lehrer und Schüler sonst einengt, weitblickend hinwegsah … Wer kennt das Vorwort, das er den Ergänzungen zum vierten Buche der ›Welt als Wille und Vorstellung‹ voranschickt? Da heißt es: ›Ich bin kein Vielschreiber, kein Kompendienfabrikant, kein Honorarverdiener, keiner, der mit seinen Schriften nach dem Beifall eines Ministers zielt, mit einem Worte: dessen Feder unter dem Einfluß persönlicher Zwecke steht‹ … Ich wünsche Ihnen von Herzen, meine Herren, daß Ihr Lebensschicksal Sie einst befähigen werde, Ähnliches niederzuschreiben oder wenigstens in sich zu fühlen. Aber in tausend Fällen wird dies leider kaum einem vergönnt sein; denn selbst dem, der frei ist, fehlt gemeinhin die Fähigkeit, sich frei zu wissen. Die Knechtschaffenheit ist uns Deutschen beinahe ebensosehr eine nicht wegzudenkende Vorbedingung unseres Seins, wie, um Kantisch zu reden, die apriorischen Formen der Anschauung es sind. Und wenn wir je in die Lage kämen, freie Bürger zu werden – schließlich warum nicht? – selbst der bestgehaltene Hühnerhund kriegt manchmal das Wildern –, ich bin überzeugt, wir würden aus schönem deutschen Idealismus uns sofort wieder an die Kette legen lassen. Vorläufig aber gilt leider das Wort unseres großen Staatsmannes: ›Die Freiheit ist ein Luxus, den sich nicht jedermann gestatten kann.‹ Nur einen Luxus wenigstens können wir uns gestatten: Zu philosophieren, wie es den staatlich approbierten Schulen genehm ist. Und ihm, meine Herren, wollen wir frönen, bis was erfolgt? Bis Er – folg erfolgt.«
Ein scheues Murmeln erhob sich und erstarb wieder, gleichsam vor sich selber erschreckend.
Auch wenn die Pause zwischen den beiden Silben »Er« – und – »folg« nicht so lange und so bedeutungsvoll geklafft hätte, so daß jeder nach der bekannten medizinischen Formel das Wort »Erbrechen« an ihre Stelle setzen mußte, wäre es klar gewesen, was mit dem Wortspiel beabsichtigt war. Und mancher, der für sprachliche Florettkunst Verständnis hatte, genoß es mit Genugtuung, daß die Milderung noch bissigeren Sinn gab als die Originalform, die sie scheinbar vertuschen wollte.
Fritz Kühne saß in zitternder Spannung da und wußte nicht, wie der unsichtbaren Rutenstreiche Herr werden, die ihn umschwirrten. Ein dunkles Gesicht sagte ihm, daß hier ein Rebellentum am Werke war, das gegen alles Sturm lief, was ihm so lange wert und heilig gewesen, und daß er nicht zaudern würde, mit fliegenden Fahnen zu ihm überzugehen.
Aber vielleicht war der da oben gar kein Rebell! Vielleicht beliebte es ihm nur, in gedanklichem Ballspiel die Gemüter vor sich herzutreiben, um sie, wenn sie glühend und erschöpft durcheinandertaumelten, spottend daran zu erinnern, daß alles nur ein Spiel gewesen.
So schien es fast. Denn als er jetzt, gleichsam nach innen schauend, daran ging, Schopenhauers wenig systematische Psychologie aus ihrer Zerstörung hervorzuholen, war jener Anfall von Temperament bereits in alle Winde verflogen.
Wie gar nicht dagewesen war er, und die Spitzmaus, die gleichmütig zugehört hatte, wandte sich mit leiser Frage zu Fritz: »Na, was sagst du nu? Ist der Kerl amüsant oder nicht?«
Fritz warf ihm einen zornigen Seitenblick zu, denn diese plumpe Respektlosigkeit empörte ihn tief.
›Du hättest auch lieber deine Schnäpse ausspielen können!‹ dachte er, uneingedenk dessen, daß er ohne den Gefährten den Weg hierher vielleicht nie gefunden hätte.
Und der Professor fuhr fort: »In einem zünftigen Kursus der Psychologie würde von Schopenhauer nicht viel die Rede sein, denn wer nach Kapitelüberschriften lehrt und lernt, wird in seinem Werke nicht viel darüber finden. Und trotzdem wird alles bei ihm zu Psychologie. Sie wissen, sein Hauptwerk ist metaphysischer Natur. ›Die Welt als Wille und Vorstellung‹, ich nannte es schon … Mit dem Titel werden diejenigen, denen es unbekannt ist, nicht viel anzufangen wissen, aber ich will einmal einen dreisten und ganz unphilosophischen Sprung machen, um ihn frei in die Sprache Ihrer Jugend zu übersetzen, meine Herren, und statt dessen sagen: ›Die Welt als Weib und Gedanke‹. Wissen Sie nun, was er meint? Wissen Sie nun, wie man ihm näherkommt? Und wie man dem Leben näherkommt, das heute noch als Rätsel vor Ihnen liegt?«
Da schlug die Hammerglocke sechs Uhr.