Hermann Sudermann
Frau Sorge
Hermann Sudermann

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»Seltsam – mir ist doch, als hab' ich den Vater nicht wiederkommen hören«, sagte er vor sich hin. Er richtete sich auf und sah nach der Taschenuhr, die über seinem Bett hing.

Acht Minuten bis eins... Zwei Stunden waren inzwischen verflossen.

»Ich werde wohl fest geschlafen haben«, dachte er und wollte sich wieder aufs Ohr legen, da schlug, vom Sturm geschüttelt, die Haustür klirrend ins Schloß, daß das ganze Haus in seinen Fugen erbebte.

Erschrocken fuhr er empor... »Was ist das?... Die Haustür offen... der Vater noch nicht zurück?« Im nächsten Augenblick hatte er Rock und Beinkleid übergeworfen, und barfuß, barhäuptig stürzte er hinaus...

Die Tür, welche von des Vaters Schlafzimmer nach dem Hausflur führte, stand weit geöffnet. – Bleich vor Angst trat er an das Bett... dasselbe lag unberührt, nur zu Fußenden war in der bauschigen Bettdecke eine Lücke eingedrückt. – Da also hatte der Vater gesessen, ohne ein Glied zu rühren, länger als anderthalb Stunden – augenscheinlich, um zu warten, bis er selber im Schlaf läge.

Was um des Himmels willen, bedeutet das alles?

Suchend irrte sein Blick im Zimmer umher... Dort im Winkel lagen umhergeworfen die wollenen Schuhe, in denen der Vater sonst den ganzen Tag über umherschlürfte, aber die Stiefel, die seit Monaten ungebraucht dort standen – die waren fort...

Wie – wollte der lahme Vater zur Nachtzeit auf die Wanderschaft? Sein Herz drohte stillezustehen... Er stürzte auf den Hof hinaus.

Taghell lag er vor seinen Blicken, nur so weit der Schatten der Scheune reichte, herrschte Nacht...

Der Sturm brauste in den Bäumen – der Sand wirbelte leuchtend empor, sonst alles still, alles leer...

Er durcheilte den Garten – keine Spur – hinter dem Stall – keine Spur... Was ist das? Das Haustor offen? – Wo ist er hin?...

An seiner Seite winselte der Hund ihm entgegen – rasch befreite er ihn. –

»Such' den Herrn, Turk – den Herrn!«

Der Hund schnüffelte am Boden entlang und rannte nach dem Giebelende der Scheune, dorthin, wo die Strohhaufen lagen, die sich wie fahle Sandberge rings um die Mauern auftürmten... Blendend lag das Mondenlicht auf der weißen Tünche der Wand und schillerte auf dem hellgelben Boden... Man hätte eine Stecknadel finden können... Nichts war zu bemerken, nur an einer Stelle schien das Stroh zerwühlt...

Aber halt! – Wie kommt die Leiter hierher, die an der Wand lehnt? Die Leiter, die noch vor zwei Stunden an der Innenseite des Zaunes platt auf dem Boden gelegen?

Wer hat sie von ihrem Platz genommen?

Und – beim Himmel, was ist das? – Wer hat die Luke des Giebels geöffnet? Die Luke, die er selbst von innen verriegelt hat, ehe die Garben das Fachwerk füllten? –

Unten am Fuß der Leiter schimmerte der Boden feucht, als habe man eine Flüssigkeit verschüttet... Ein Dunst von Petroleum stieg aus der Lache empor.

Mit zitternden Händen griff er in die Halme hinein, die den Boden bedeckten. Ja, sie waren naß, und der üble Geruch teilte sich den Fingern mit, die sie berührt hatten.

Er fühlte seine Knie wanken, eine dumpfe, fürchterliche Ahnung umnebelte seine Sinne – mit Mühe raffte er sich auf und stieg die Leiter hinan, bis er die Luke erreicht hatte.

Unten winselte der Hund...

»Such' den Herrn, Turk, den Herrn!«

Das Tier brach in freudiges Heulen aus und rannte schnüffelnd im Kreise umher, bis es die Fährte gefunden zu haben schien. Paul starrte ihm nach. Sein Leib zitterte fiebrig in qualvoller Erwartung.

Zum Hoftor ging des Tieres Weg. – Also wirklich! Der Vater war's gewesen, der es geöffnet hatte!

Aber dann – dann! Wohin wird er sich wenden?

»Such' den Herrn, Turk, den Herrn.«

Der Hund heulte noch einmal kurz auf und rannte dann spornstreichs auf dem Weg nach – Helenenthal von dannen.

Nach Helenenthal – was will der Vater in Helenenthal? Ja, hat er nicht jüngst davon gesprochen, er sei nachmittags dort gewesen, »probeweise«, wie er sagte. – Probeweise! – Und wie seltsam, wie unheimlich er dazu gelacht.

Und heute noch – wie rätselhaft war sein Gebaren, und als vom Scheunenbrand die Rede war, was wollten da seine Worte, daß es sich prächtig träfe heute? – Warum gerade heute?

Nun gilt's, des Rätsels Lösung zu finden, eh's zu spät ist!

Hilfesuchend starrte er um sich.

Seine Hand tastete mechanisch in das Dunkel der Lukenöffnung hinein und ergriff den Henkel einer Blechkanne, die dort versteckt unter den Garben stand... Es war der Petroleumbehälter, den er gestern frisch hatte füllen lassen. Und auf wessen Rat? Wer war gekommen und hatte gesagt –

»Vater, Vater, um Jesu willen, was willst du in Helenenthal?«

Und jetzt – wieviel ist noch drinnen? Kaum halbvoll ist sie, kaum halbvoll!

Und wie er sinnlos weiter um sich tastete, fand er Pakete mit Streichhölzern, die rings um die Kanne verstreut lagen...

Da sank die Binde von seinen Augen! Ein qualvoller Schrei –: »Er ist dabei, Helenenthal anzuzünden.«

Alles rings um ihn wirbelte und wogte, seine Hände umklammerten krampfhaft das Randbrett, sonst wär' er rücklings herniedergestürzt.

Nun lag alles klar... des Vaters wirres Reden, sein Lachen, sein Drohen!

Aber noch war es Zeit. – Der Alte kroch ja nur an seiner Krücke. – Wenn er selber sich zu Pferde warf – ihm nachgaloppierte...

»Ein Pferd aus dem Stall«, schrie er in den Sturm hinein und sprang an der Leiter hinab... Da plötzlich zuckte es durch sein Hirn:

»Warum fragte der Vater so genau nach der Zeit, da vor jenen Jahren – soll etwa zu derselben Minute das Rachewerk sich vollziehen? Jesus, dann ist alles verloren. Eins war die Stunde, die ich ihm nannte – und die Uhr ist eins...«

Eine wahnsinnige Angst packte ihn – wiederum flog er die Leiter hinan.

Im nächsten Augenblick mußte die Flamme drüben emporsteigen.

Flammt es da nicht schon? Nein, nur der Mond ist's, der in den Fenstern des weißen Hauses glitzert... Vater im Himmel, gibt es keine Rettung, kein Erbarmen? Wenn ein Gebet, wenn ein Fluch die Kraft besäße, daß die erhobene Hand erstarre!... Wer warnt ihn, wer gibt ihm ein Zeichen, daß er umkehre auf seinem Wege?...

Aber da flammt's! – Nein... Noch eine Stunde vielleicht, dann wird der Feuergleisch am Himmel stehen...

»Elsbeth, wach auf!«...

Ebenso wird es flammen, wie damals vor acht Jahren, als ihm, der im Helenenthaler Garten lauerte, der blutige Schein die Glieder lähmte! – Wenn heute wie damals über der Heide ein Gleisch aufstiege! Damit des Vaters Hand erstarre, mitten im verbrecherischen Werk!

Gott im Himmel, laß ein Wunder geschehen! – Laß einen Gleisch aufsteigen über der Heide, wie damals – wie damals!

Flammen müßt' es – hier müßt' es flammen!

Ein Blitz müßte niederfahren, damit die Lohe zum Vater hinüberschrie: »Halt ein, halt ein! – Und liegt denn alles klar und sternenhell? Steigt keine Gewitterwolke über der Heide auf? – Vielleicht reckt er sich jetzt schon zum Strohdach empor! Vielleicht reibt er jetzt schon an den Hölzern! Im nächsten Augenblick kommt jede Warnung zu spät.

Flammen müßt' es – hier müßt' es flammen! Und ist keine Fackel da, die ich schwingen könnte, ihn zu warnen? Flammen müßt' es sein – hier müßt' es flammen!

Und wie er mit stieren, vorgequollenen Augen, ringend nach Rettung, um sich starrte, da loderte es plötzlich hell wie jene Flamme, die ersehnte, durch sein irres Hirn.

Er jauchzte laut auf. –

»Ja, das ist's! Der Schreck wird ihn erstarren machen.«

Rettung! Rettung um jeden Preis!

Mit beiden Händen ergriff er die Kanne, und in weitem Schwunge goß er den Inhalt über die aufgestapelten Garben...

Ein Griff nach den Streichhölzern – ein leises Zischen – der Sturm braust hohl in die Öffnung – und – hochauf spritzt die Flamme und faucht ihm ins Gesicht...

Ein wilder, gellender Schrei... Ihm wird es dunkel vor den Augen... er sucht einen Halt und greift blindlings in das Feuer hinein... doch was er erfaßt, gibt nach, und – in dem nächsten Augenblick stürzt er, eine flammende Gabe krampfthaft umklammernd, in weitem Bogen mitsamt der Leiter rücklings in das Stroh...

Schon lodert sein Lager hellauf – noch hat er so viel Kraft, sich seitwärts hinabzukollern – im nächsten Augenblick schon steht alles ringsum in Flammen.

Und der Sturm bläst hinein, da erhebt sich ein Pfeifen, ein Zischen, ein Singen hoch in den Lüften..., schon leckt es feurig am First hinan.

Er stürzt auf den Hof zurück, der noch schweigend vor ihm liegt. »Feuer – Feuer – Feuer!- geht gellend sein Ruf, die Schlafenden zu wecken...

In den Ställen, wo die Knechte liegen, wird es lebendig, aus den Kammern tönt ein Kreischen...

Schon ist das Dach in einen feurigen Mantel gehüllt. Die Dachpfannen beginnen zu platzen und stürzen prasselnd zur Erde. Wo eine Lücke entsteht, spritzt sofort eine Flammengarbe gen Himmel.

Bis dahin hatte er mutterseelenallein auf dem Hof gestanden und mit gefalteten Händen dem grausenvollen Werk zugeschaut, nun wurden die Türen aufgerissen, Knechte und Mägde stürzten schreiend auf den Hof.

Da seufzte er tief und erleichtert auf, wie nach vollbrachtem Tagewerk, und schritt langsam nach dem Garten, ehe daß einer ihm begegnete. – »Hab' lange genug gearbeitet«, murmelte er, die Tür des Zaunes hinter sich ins Schloß werfend. »Heut' will ich ausruhen.«

Mit schleppenden Schritten ging er den Kiespfad hinab wie ein Todmüder, und unaufhörlich sprach er vor sich hin: »Ausruhen – Ausruhen.«

Sein Blick glitt matt in die Runde... Von Mondenglanz und Flammenschein in ein Meer des Lichts getaucht, lag rings um ihn der Garten da, und die Schatten der sturmgepeitschten Blätter liefen gespenstisch vor ihm her. Hie und da fiel ein Funke, wie ein Leuchtkäferchen anzuschauen, auf seinen Weg. Er suchte sich die dunkelste Laube aus und verkroch sich in ihrem hintersten Winkel. Dort setzte er sich auf die Rasenbank und schlug die Hände vors Gesicht. Er wollte nichts mehr sehen und hören...

Aber ein stumpfes Gefühl der Neugierde hieß ihn nach einer Weile wieder aufschauen. Und wie er die Augen erhob, sah er die Lohe wie einen purpurnen, weißumsäumten Baldachin sich über dem Wohnhaus wölben, denn dorthin stand der Sturm.

Da wußte er, daß alles dahin war.

Er faltete die Hände. Ihm war, als müßte er beten.

»Mutter, Mutter!« rief er, Tränen in den Augen, und reckte die Arme zum Himmel. –

Und plötzlich ging eine merkwürdige Veränderung in ihm vor. Ihm wurde ganz frei und leicht zu Sinn, der dumpfe Druck, der all' die Jahre lang in seinem Kopf gelastet hatte, schwand, und hochaufatmend strich er sich über Schultern und Arme, als wollte er sinkende Ketten abstreifen...

»So«, sagte er, wie einer, dem eine Last vom Herzen fällt, »jetzt hab' ich nichts mehr, jetzt brauch' ich auch nicht mehr zu sorgen! Frei bin ich, frei wie der Vogel in der Luft!«

Er schlug sich mit den Fäusten vor die Stirn, er weinte, er lachte. Ihm war zumute, als sei ein unverdientes, unerhörtes Glück plötzlich vom Himmel auf ihn herabgefallen. –

»Mutter! Mutter!« rief er in wildem Jubel. »Jetzt weiß ich, wie dein Märchen endet. – Erlöst bin ich – erlöst bin ich!« In diesem Augenblick drang angstvolles Tiergebrüll an sein Ohr und brachte ihn wieder zur Besinnung. – »Nein, ihr armen Viecher sollt nicht umkommen um meinetwillen!« rief er aufspringend. »Eher will ich selbst dran glauben...

Er eilte zurück nach der Hintertür des Hauses, wo Knechte und Mägde eifrig Möbel ins Freie schleppten.

»Seht den Herrn!« riefen sie weinend und wiesen einer dem andern seine nackten Füße...

»Laßt liegen«, schrie er, »rettete das Vieh!«

Eine Axt liegt am Wege. Mit ihr sprengt er die Hintertüren des Stalles, die nach den Feldern führen, denn der Hof ist schon ein Flammenmeer.

Wie im Traum sieht er Garten und Wiese mit Menschen sich füllen. Die Dorfspritze rasselt heran, auch auf dem Wege von Helenenthal wird es lebendig.

Drei-, vielmal geht's in die Flammen hinein, die Knechte hinter ihm drein, dann sinkt er, von Schmerzen ohnmächtig, mitten in dem brennenden Stall zusammen...

Ein Schrei, ein markerschütternder aus Weibermunde, ließ ihn noch einmal die Augen öffnen.

Da schien's ihm, als sähe er Elsbeths Angesicht, wie in Nebeln verschwindend, über seinem Haupte, dann ward es wieder Nacht um ihn. – – –


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