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Drei Wochen waren seither verflossen. Paul arbeitete, als stände er im Frondienst. Trotzdem hatte eine seltsame Unruhe sich seiner bemächtigt. Wenn er sich für einen Moment Erholung gönnen durfte, litt es ihn nicht mehr daheim. Ihm war zumute, als sollten die Mauern über ihm zusammenstürzen. Dann streifte er auf der Heide oder im Walde umher, oder er lungerte rings um Helenenthal herum. Was er dort wollte, wagte er sich selber nicht einzugestehen. »Wenn ich Elsbeth träfe, ich glaube, ich müßte vor Scham in die Erde sinken«, so sagte er sich, und dennoch spähte er allerwegen nach ihr aus und zitterte vor Bangen und vor Freude, wenn er eine weibliche Gestalt von ferne daherkommen sah.
Auch die Nachtruhe begann er zu vernachlässigen. Sobald man im Hause eingeschlafen war, schlich er von dannen und kam oft erst am hellen Morgen wieder zurück, um mit wüstem Kopf und zerschlagenen Gliedern an die Arbeit zu gehn.
»Ich will gutmachen – gutmachen«, murmelte er oft vor sich hin, und wenn er die Sense durch das Korn zischen ließ, sagte er sich im Takte dazu: »Gutmachen – gutmachen!« Doch über das Wie war er sich gänzlich im unklaren; er wußte nicht einmal, ob Douglas durch die Bisse des Hundes Schaden genommen.
Einmal, als er in der Dämmerung jenseits des Waldes herumstrich, sah er Michel Raudszus von Helenenthal daherkommen. Er trug einen Spaten geschultert, woran ein Bündel hing. – Paul schaute ihm festen Blickes entgegen – er erwartete, von ihm angegriffen zu werden, aber der Knecht sah ihn scheu von der Seite an und ging in weitem Bogen um ihn herum.
»Der Kerl sieht aus, als ob er Böses im Schilde führte«, sagte er, indem er ihm nachschaute.
Douglas hatte den Weggejagten in seine Dienste genommen, wie einer der Tagelöhner zu erzählen wußte, und als der Vater davon erfuhr, lachte er auf und sagte: »Das sieht dem Schleicher ähnlich, der wird was Schönes gegen mich zusammenbrauen.«
Er war fest überzeugt, das Douglas die Sache dem Staatsanwalt übergeben habe, ja er fand eine gewisse Wollust in dem Gedanken, verurteilt zu werden – »ungerecht«, wie selbstverständlich –, und da die Anklage von einem Tage zum anderen auf sich warten ließ, meinte er höhnisch: »Der gnädige Herr lieben die Galgenfristen.« –
Aber Douglas schien Willens, die ihm angetane Schmach gänzlich zu ignorieren, nicht einmal die Kündigung des entliehenen Kapitals traf ein. –
Pauls Seele war übervoll von Dankbarkeit, und je weniger er ein Mittel fand, sie kundzutun, desto heißer wühlte in ihm die Scham, desto wilder trieb ihn die Unruhe umher.
So stand er eines Nachts wiederum vor dem Gartenzaun von Helenenthal.
Frühherbstnebel lagen über der Erde, und das welkende Gras schauerte leise. – Das weiße Haus verschwand in den Schatten der Nacht, nur aus einem der Fenster schimmerte ein trübes, dunkelrotes Licht.
»Hier wacht sie bei der kranken Mutter«, dachte Paul. Und da er kein anderes Mittel fand, sie zu rufen, so fing er zu pfeifen an. – – Zwei-, dreimal hielt er inne, um zu lauschen. – Niemand kam, und in seiner Seele stieg die Angst. – –
Mit tastender Hand suchte er nach der lockeren Stakete, die Elsbeth ihm damals gezeigt hatte, und als er sie gefunden, drang er in das Innere. – Das Geästel zerzauste seine Kleider, wie in einer Wildnis kroch er am Fußboden dahin, einen Pfad zu finden. Endlich kam er ins Freie. Der weiße Kies verbreitete einen ungewissen Dämmerschein, heller leuchtete das Lämpchen aus dem Krankenzimmer.
Er setzte sich auf eine Bank und starrte dorthin. Ihm war, als ob ein Schatten hinter der Gardine sich bewegte.
Dann mit einemmal wurde es heller rings um ihn herum... Die Rosenstöcke traten aus der Nacht hervor... Der Kies glänzte, und der Giebel des Wohnhauses, der noch eben in schwarzen Massen sich erhoben, strahlte in dunkelrötlichem Lichte, als sei der Strahl des Morgenrots darauf gefallen.
Verwundert wandte er sich um – das Blut erstarrte in seinen Adern –, hoch an dem mächtigen Himmel erhob sich ein blutiger Feuerschein. Die schwarzen Wolken umsäumten sich mit flammenden Rändern, weißliche Lohe wirbelte dazwischen empor, und hochauf schossen feurige Strahlen, als stände ein Nordlicht am Himmel.
»Dein Vaterhaus brennt!« – – –
Schwer fiel sein Kopf gegen das Geländer der Bank – im nächsten Augenblicke raffte er sich empor – seine Knie wankten, das Blut siedete in seinen Schläfen – »Vorwärts, rette, was zu retten ist«, so schrie es in ihm – und in wildem Jagen drang er durch das Gebüsch, erkletterte den Gartenzaun und sank jenseits desselben im Graben nieder.
Wie die aufgehende Sonne überstrahlte das brennende Gehöft die weite Heide. Die Stoppeln leuchteten, und der schwarze Wald tauchte sich in rötliche Glut. –
Noch stand das Wohnhaus unversehrt – seine Mauern schimmerten wie Marmor, seine Fenster blitzten wie Karfunkelstein. – Taghell lag der Hof. – Die Scheune war es, die da brannte, die Scheune, vollgepfropft bis zum First von Erntesegen. Seine Arbeit, sein Glück, sein Hoffen, so ging es in Rauch und Flammen auf. – –
Wieder raffte er sich auf – – – in wilder Hast ging's über die Heide. – Als er am Walde vorübereilte, war es ihm, als sähe er einen Schatten an sich vorüberhuschen, der bei seinem Nahen platt auf die Erde sank. Er achtete kaum darauf.
Weiter – rette, was zu retten ist! –
Vom Hofe her drang wirres Geschrei ihm entgegen. – Die Knechte liefen wild durcheinander, die Mägde rangen die Hände – die Schwestern liefen umher und schrien seinen Namen. –
Das Dorf war eben erwacht... Die Landstraße füllte sich mit Menschen... Wasserkiewen wurden herangeschleppt, auch eine morsche Spritze kam dahergewackelt. –
»Wo ist der Herr?« schrie er den Knechten entgegen.
»Wird eben 'reingetragen – hat'n Bein gebrochen«, lautete die Antwort. –
Unglück über Unglück!
»Laßt die Scheune brennen!« schrie er anderen zu, die gänzlich kopflos ein paar winzige Eimer Wasser in die Glut hineingossen. »Rettet das Vieh – gebt acht, daß sie nicht in die Flammen rennen!«
Drei, vier Mann eilten in den Stall.
»Ihr anderen ans Wohnhaus – tragt nichts heraus.«
»Nichts heraustragen!« wiederholte er, ein paar Fremden die Sachen aus der Hand reißend, die sie eben aus dem Innern schleppten.
»Aber wir wollen retten.«
»Rettet das Haus!« – – –
Er eilte die Treppe hinan. Im Vorübereilen sah er die Mutter stumm und tränenlos neben dem Vater sitzen, der wimmernd auf dem Sofa lag.
Durch eine Luke sprang er auf das Dach.
»Den Schlauch her!«
Auf eine Heugabel gespießt, reichte man ihm die metallene Spitze. Zischend glitt der Wasserstrahl über die erhitzten Ziegel.
Er ritt auf dem Dachfirst, seine Kleider erhitzten sich, in sein Haar setzten sich glimmende Körner, die von der Scheune herübersprühten, auf Antlitz und Händen fanden sich kleine kohlende Wunden. Er fühlte nichts, was seinem Leibe geschah, doch sah und hörte er alles rings um sich her – seine Sinne schienen vervielfältigt. – –
Er sah die Garben in feuriger Lohe hochauf zum Himmel spritzen und in prächtiger Wölbung herniedersinken – er sah die Pferde und Kühe auf die Weide hinausjagen, wo sie zwischen den Zäunen sicher geborgen waren – er sah den Hund, halb versengt von der Glut, heulend an der Kette zerren. –
»Macht den Hund los!« schrie er hinunter. –
Er sah kleine zierliche Flämmchen in bläulichem Flimmerschein von dem Giebel der Scheune zum benachbarten Schuppen hinübertänzeln. – –
»Der Schuppen brennt«, schrie er hinunter. »Rettet, was darin ist.« –
Ein paar Leute eilten fort, die Wagen ins Freie zu ziehen. –
Und inzwischen sauste und zischte der Wasserstrahl übers Dach und bohrte sich in die Sparren und tastete unter den Ziegeln. – Kleine weiße Wölkchen stiegen vor ihm auf und verschwanden, um an anderer Stelle wieder zu erscheinen.
Da plötzlich fiel ihm die schwarze Suse ein, die im hintersten Winkel des Schuppens zwischen altem Gerümpel vergraben stand. – Ein Stich fuhr ihm durch die Brust. – Soll nun auch sie zugrunde gehen, auf die sein Herz von jeher hoffte? –
»Rettet die Lokomobile!« schrie er hinunter.
Aber niemand verstand ihn.
Die Begier, der »schwarzen Suse« Hilfe zu bringen, packte ihn so mächtig, daß ihm einen Augenblick zumute war, als müßte er selbst das Wohnhaus darangeben.
«Ablösung rauf!« schrie er in die Menschenmasse hinunter, die zum größeren Teile untätig gaffend dastand.
Ein stämmiger Maurer aus dem Dorfe kam emporgeklettert, deckte die Dachpfannen ab und bahnte sich so einen Pfad bis zum Firste empor. Ihm reichte Paul den Schlauch und glitt hinunter – innerlich verwundert, daß er sich nicht Arm und Bein gebrochen. Dann drang er in den Schuppen, aus dem schon erstickender Rauch ihm entgegenwirbelte.
»Wer kommt mit?« schrie er.
Zwei Tagelöhner aus dem Dorfe meldeten sich.
»Vorwärts!«
Hinein in Qualm und Flammen ging's.
»Hier ist die Deichsel – angefaßt – rasch hinaus.«
Krachend und polternd schwankte die Lokomobile auf den Hof hinaus. Hinter ihr und ihren Rettern brach das Dach des Schuppens zusammen. – – –
Der Morgen graute. Der bläuliche Dämmerschein vermischte sich mit dem Rauch der Trümmer, aus denen die Flammen hie und da emporzuckten, um sofort müde zusammenzusinken.
Die Menge hatte sich verlaufen. Unheimliche Stille lastete auf dem Hofe, nur von dem Brandplatz her kam ein leises Knirschen und Fauchen, als ob die Flammen vor dem Verlöschen noch einmal murmelnde Zwiesprache hielten.
»So«, sagte Paul, »jetzt wären wir soweit!«
Wohnhaus und Stall samt allem Lebendigen waren gerettet. Scheune und Schuppen lagen in Asche.
»Jetzt sind wir genauso arm, wie wir vor zwanzig Jahren waren«, meditierte er, indem er seine Wunden streichelte, »und hätt' ich mich nicht 'rumgetrieben, es wäre vielleicht alles ungeschehen geblieben.«
Als er die Laube betrat, welche die Haustür umrahmte, fand er die Mutter mit gefalteten Händen in einer Ecke zusammengekauert. – Über ihre Wangen zogen sich tiefe Rinnen, und ihre Augen starrten ins Leere, als sähe sie noch immer die Flammen züngeln.
»Mutter«, rief er angstvoll, denn er fürchtete, daß sie nicht fern von Wahnsinn wäre.
Da nickte sie ein paarmal und meinte: »Ja, ja, so geht's!«
»Es wird auch wieder bessergehen, Mutter«, rief er.
Sie sah ihn an und lächelte. Es schnitt ihm ins Herz, dieses Lächeln.
»Der Vater hat mich eben hinausgejagt«, sagte sie, »ich bitte dich herzlich, jag du mich nicht auch hinaus.«
»Mutter, um Jesu willen, red nicht so!«
»Sieh mal, Paul, ich bin wirklich nicht schuld daran«, sagte sie und sah mit flehendem Ausdruck zu ihm empor, »ich gehe nie mit Licht in die Scheune.«
»Aber wer sagt denn das?«
»Der Vater sagt, ich sei an allem schuld, ich soll mich zum Teufel scheren. – – Aber tu ihm nichts, Paul«, bat sie voll Angst, als sie ihn auffahren sah, »pack ihn nicht wieder an, er hat so große Schmerzen.«
»Der Doktor kommt in einer Stunde, ich hab' schon nach ihm geschickt.«
»Geh zum Vater, Paul, und tröst ihn... ich möchte ja selber gern, aber mich hat er hinausgejagt«, und sich wieder zusammenkauernd, murmelte sie vor sich hin:
»Hinausgejagt hat er mich – hinausgejagt.«